Nachdem er sich an der Castra satt gesehen hatte, was durchaus eine komplette Stunde in Anspruch genommen hatte, wanderte Vala langsam an dieser vorbei, und bog schließlich links in die breite Straße einbog, die direkt vom Haupttor des Castellums durch die ganze Stadt bis zum Rhenus zu führen schien. Die Gebäude hier schienen um Welten größer zu sein, für Valas Verständnis schon fast perfekt groß. Natürlich nicht so breit wie die Mauern des Castellums, dafür aber mit atemberaubender Behäbigkeit in Höhe und Bauart. Was ihm erst jetzt auffiel, war, dass die Häuser und Paläste der Römer kaum Holzeinbauten aufwiesen, ganz im Gegenteil zur Casa Duccia, die mit in nicht unwesentlichen Teilen mit dem Holz der hiesigen Wälder verstärkt war. In diesem Moment begriff er, dass das wohl eine Anlehnung an die Bauweise der Ahnen sein musste, die die Erbauer der Casa, bzw. ihre Umbauer, in die Heimstatt des größten Teils der Familie hatten einfließen lassen. Was Vala in diesem Moment noch nicht wusste, weil es ihm bisher einfach als zu natürlich vorgekommen war, war, dass die Familie sich in mehr als nur der Bauart der Casa von den römischen Mitbürgern unterschied.
Während er so die Straße entlangwanderte, und jede Neuigkeit in sich aufsog, fiel ihm irgendwann auf, dass die Menschen, die in dieser Stadt lebten, längst nicht alle als Römer zu erkennen waren. Viele sprachen Latein, eigentlich alle, aber kaum jemand war so prägnant als Italiker zu erkennen, dass man sofort sagen konnte dass dies eine Stadt römischen Ursprungs war. Viele erkannte man sofort als Germanen, wenn sie sich untereinander grüßten, andere als Kelten, und wiederrum andere als Menschen, die Vala nicht sofort zuzuordnen wusste. Diese Stadt war voll mit ihnen, und alle sprachen Latein. Zumindest, wenn sie es mit Römern zu tun bekamen, so schien es Vala. Denn die germanischen Dialekte hatten sich hier wohl zu einer Sprache verwoben, die mehrere Menschen mit verschiedenem Hintergrund sprachen... Vala hatte zuerst Probleme, dem zu folgen, was ihn sehr verwirrte, war es drüben doch anders gewesen, in den Landen Midgards sprach er oft mit seinem Vater Latein, damit man sicher gehen konnte, dass gewisse Personen es nicht verstanden, und so Geheimnisse verraten wurden, und hier sprach man germanisch, und Alrik verstand es nicht. Nicht sofort, zumindest. Die Sprachen der verschiedenen Stämme jenseits des Rhenus ähnelten sich genug, um nach einer Weile kommunizieren zu können... aber dies hier? Das war ein Mischmasch aus Latein, verschiedenen germanischen Dialekten, und wahrscheinlich auch keltischen.
Vala gab sich größte Mühe, zu lernen... und irgendwann gelang es ihm auch, sich in die Gespräche reinzuhören, um zu lernen was diese Menschen bewegte, die in dieser Stadt lebten.
Die Erkenntnisse wichen weit von dem ab, was er zu erwarten hatte. Die Aussaat der zu kommenden Ernte war kaum ein Thema, vielmehr ging es um Handel und Arbeit. Wie sein Vater gesagt hatte, in den Städten gab es Menschen, die keine eigene Landwirtschaft betrieben, sondern nur von dem lebten, was sie an Leistung für andere erbrachten. Das gefiel Vala... und es ging um Politik. Hier und da schnappte er Namen auf, die ihm bekannt vorkamen, weil es die römisczhen seiner Verwandten waren. Dort ging es um ein Gerichtsurteil, dass Witjon in seiner Funktion als Duumvir gefällt hatte, dort um seinen Vetter Phelan, der im Tempelbezirk für Ordnung zu sorgen, und hier um seine Cousine Eila, die den Staub aus der Schola zu fegen schien. Aber auch unbekannte Namen, die er nicht sofort zuordnen konnte. Petronius Crispus war einer dieser Namen, und man wunderte sich, warum er sich aus dem politischen Amt der Stadt entfernt hatte, hier wedelte man mit einer Ausgabe der Acta, was auch immer das war, und zitierte Texte, die wohl vom politischen Geschehen in der Stadt handelten. Sein Vetter war also zum Ritter ernannt worden... Vala wusste, was das bedeutete, sein Vater, selbst Ritter, hatte es ihm erzählt. Stolz war er schon ein wenig... und dann gewisse Beförderungen in der Legion, Ränge, die er kannte, aber die Namen dazu nicht. Terentius Lupus wurde Vexilarius. Ein Hadrianus Legionär, und irgendein Aurelius Tribun. Aurelius, da klingelte etwas in Vala. Hatte sein Vater nicht von den Ordines der Römer gesprochen? Oder war das doch etwas anderes... diese Patricii, wie er sie genannt hatte. Doch, die Aurelier gehörten dazu. Sein Vater hatte sie damals mit dem höheren Adel verglichen, der sich langsam in den Stämmen etablierte, wohl genau nach römischem Vorbild. Und ihm wurde beigebracht, dass seine eigene Sippe garnicht mal so entfernt von einem solchen Stand gewesen war... kurz bevor der Stamm vernichtend angegriffen und aufgerieben wurde. Vala hielt inne, als ein kleines Kind über die Straße tollte, und beinahe von einem Pferd totgetreten wurde... aber eben nur beinahe. Wie vergänglich alles doch war. Die Nornen hatten für dieses Kind vorgesehen, den Schreck seines Lebens just in diesem Moment zu bekommen, wie sie es für seine Sippe vorgesehen hatten, als eine der wenigen den Untergang des alten Stammes zu überleben, um jetzt, so absurd es klang, in Gesellschaft der alten Feinde wieder nach dem zu streben, was ihr einst inne war.
Gedankenverloren schlendete Alrik die Straße weiter entlang, bemerkte die große Taberna, die wohl auch seiner Familie gehörte, und blieb kurz darauf mit schreckgeweiteten Augen stehen: die Regia des Legaten!
"Meine Fresse..", ächzte Vala hilflos, als er sich mit dem oppulenten Palast des Statthalters konfrontiert sah. Diese Größe! Diese Bauart! Diese Ausstattung! Diese ALLES!
Der Anblick hielt Alrik so gefangen, dass er es gerade schaffte darauf zu achten, dass ihm nicht ähnliches widerfuhr wie dem Kind, als er die Regia langsam umrundete, und in schierer Bewunderung für soviel in Stein gehauene Macht den Mund nichtmehr zu bekam.
Dass der Bau im Vergleich zum Prätorium in der Colonia nur ein schwacher Abglanz war, oder gegen die Bauten die später in Augusta Treverorum entstehen sollten, oder gar gegen die in Rom oder den anderen Zentren des mediteranen Lebens, das wusste Vala nicht. Und er hätte es sich auch garnicht vorstellen können, so atemberaubend war dieser Moment für ihn...
"Das ist Rom..", stelle er irgendwann fest, und die Erkenntnis, die vorher nur Ausgeburt theoretischem Denkens im Diskurs mit seinem Vater und den Stämmen war, bekam im Palast des Statthalters eine physische Existenz. Er stellte keine Fragen mehr... sein Vater hatte ihm von der Übermacht der Römer erzählt, von der Brillanz ihres baulichen wie politischen wie militärischem wie kulturellen Wirkens, aber fassen, oder auch nur glauben, konnte Vala dies nie. Zu abstrakt erschienen ihm die Gedanken und Erzählungen seines Vaters bisher... bis jetzt.