Der Quaestor war außerstande, für den malträtierten Auriga irgendetwas zu unternehmen, weshalb er keinerlei Anstalten machte, die Pause nach dem Rennen damit zu füllen, Rianorix zu besuchen, den man in die Thermae Neronianae gebracht hatte, wo ein adäquates medizinisches Equippement existierte, um seine zahllosen Schürfwunden zu versorgen. Er verharrte also an seinem Platz und überblickte die Szenerie der improvisierten Rennbahn, welche nun doch von den Veneta-Anhängern gestürmt wurde, die ihren triumphierenden Champion feierten. Ausgelassen mühten sie sich, die siegreiche Biga zu berühren oder tätschelten die beiden vorgespannten, schäumenden Pferde, ehe die Pferdeknechte die Männer verjagten, ehe die Tiere stiegen und jemanden verletzten.
Pheidon von Calydon, Lusorix und Tanco hingegen verblieb nur, ihren Unterstützern zuzuwinken, die sich für die verbliebenen Plätze nicht am Sicherheitspersonal vorbei auf den Rennbahn drängten. Manius Minors Blick blieb an der desillusionierten Miene von Tanco, welchen Kenner der Rennszene durchaus stärker hatten eingeschätzt als Lusorix oder gar den glücklichen Pheidon von Calydon, haften. Sie, verbunden mit der Enttäuschung seiner Anhänger und dem Spott seiner Feinde vergegenwärtigte für ihn mit größter Eindringlichkeit die Einsicht, dass jedwedes Potential wertlos war, wenn es nicht seine erwarteten Früchte trug. Similär zu Tanco hegten auch in den jungen Flavius zahlreiche Menschen große Erwartungen, begonnen bei Manius Maior, der irgendwo in der Menge saß um ihm zuzujubeln, über seine übrigen Familiaren bis hin zu jenen, die lediglich seinen Vater oder den Ruhm seines Namens kannten und allein daraus derivierten, dass auch dem jungen Gracchus eine fulminante Karriere bevorstand. Doch wie konnte er jenen Erwartungen gerecht werden? War es nicht um so viel leichter zu scheitern, je höher die eigenen Potentiale gehandelt wurden? Genügte nicht die falsche Strategie in einem einzigen Durchgang, derer das Leben viele offerierte, um sich dem Spott der vielen auszusetzen und damit seinem eigenen Hause Schande zu bereiten?
Und wie würden seine Ahnen, die aus den Tiefen der Unterwelt hinaus zweifelsohne eine differente Perspektive auf ihn, seine Potentiale und Möglichkeiten einnahmen, sein Betragen ponderieren? Würden sie ihn an dem messen, wie die Sterblichen über ihn urteilten? Würden sie Statuen zählen oder den Rang im Senat? Würden sie etwas geben auf den Jubel, welchen die Plebs ihm bei seinem Einzug an der Seite des Consul gespendet hatte? Oder würden sie seine objektiven Verdienste bewerten, seinen Beitrag zum Bestand des Imperium und zur Wahrung jener althergebrachten Mores maiorum, die sie selbst einst hatten ins Leben gerufen, unabhängig davon, welchen Dank die Sterblichen ihm dafür würden geben? Oder bewerteten sie gar lediglich die Intentionen, die Beharrlichkeit seines Willens oder seine Mühen in Relation zu seinen Kapazitäten?
Dem jungen Gracchen war keine Antwort auf all jene Fragen vergönnt, ehe Prusias Kynegros die Tribüne erreichte, welche in dem improvisierten Hippodrom ja nicht sonderlich weit von der Rennbahn war gelegen. Patrokolos berührte ihn von der Seite und reichte ihm einen Lorbeerkranz und einen Palmzweig. Ein wenig trübsinnig wischte der Jüngling so seine Gedanken beiseite und konzentrierte sich auf jene Momente strahlenden Glanzes, welche ihm nun die Nähe zum Sieger des heutigen Rennens gewährte.
Zuerst jedoch galt es, das amtliche Resultat des Rennens zu verkünden, wofür der Jüngling in seiner purpurnen Toga nochmals an die Brüstung der Tribüne trat, in seiner Versunkenheit die Nervosität vom Beginn des Rennens ganz vergessend:
"Bürger von Rom! Geschätzte Gäste aus Nah und Fern!
Ein spannendes Rennen liegt hinter uns! Ehe wir zur Ehrung des Siegers schreiten, möchte ich jedoch den Factiones danken, die ihre vielversprechendsten Nachwuchs-Aurigae, ihre besten Bigae und ihre schnellsten Rösser zur Verfügung gestellt haben. Ich zweifle nicht, dass jeder unter uns aufs Vortrefflichste unterhalten wurde, mag der eigene Favorit nun triumphiert oder das Rennen nicht beendet haben!"
Er blickte in die erwartungsvoll gespannte Menge, welche nun anstandshalber Applaus spendete.
"Das heutige Rennen zeigt uns, dass Jugend weder eine Garantie für Erfolg, noch eine Entschuldigung für mäßige Resultate darstellt, denn die jüngsten Fahrer verteilen sich auf den ersten und den letzten Platz!"
Der Quaestor stockte aufs Neue, als ihm gewahr wurde, dass jene spontan ersonnenen Worte auch für ihn eine Wahrheit transportierten, welche auch ihm keine Ausflüchte gestattete.
"Deplorablerweise nicht beenden konnte das Rennen Rianorix von der Factio Praesina."
, begann er dann mit der Verkündigung der Platze, woraufhin er den Anhängern der Factiones Raum ließ, ihren Emotionen Lauf zu lassen.
"Der vierte Platz geht an Tanco von der Factio Aurata."
Auch hier blieb Raum für Bekundungen von Stolz oder Unwillen, ehe die drei Siegerplätze an der Reihe waren:
"Als Dritter ins Ziel fuhr Lusorix von der Factio Albata!"
Lusorix nickte knapp über jenes Urteil, da zweifelsohne er sich grämte, seine bessere Position der ersten Runden nicht gehalten zu haben.
"Als Zweiter ins Ziel fuhr Pheidon von Calydon von der Factio Purpurea!"
Der älteste Fahrer des Feldes hob stolz seine Peitsche und seine Anhänger jubelten, da er doch keineswegs jene positive Platzierung hatte erwarten können, selbst wenn es nicht für den Siegerkranz gereicht hatte.
Prusias Kynegros, der Anwärter auf selbigen, trat nun jedoch ebenfalls an die Tribüne und der Quaestor erklärte:
"Als Sieger des Rennens und Liebling des Mars präsentiere ich euch Prusias Kynegros vond er Factio Veneta!"
Jubel brandete im Block der Veneta auf und Prusias trat vor den jungen Flavius, welchen er trotz der jüngeren Jahre beinahe um einen Kopf überragte. Für den Quaestor verschwamm damit sein scharf geschnittenes, orientalisches Gesicht, doch genügte seine Sehkraft, um ihm den Lorbeerkranz auf das gesenkte Haupt zu setzen und ihm dann den Palmzweig zu reichen, der ihn als Sieger auswies. Wie er dies andernorts gesehen hatte, ergriff der junge Flavius sodann den Arm des Auriga und riss ihn empor, woraufhin der Jubel noch anschwoll.
Hinter der versteinerten Miene indessen fragte er sich, ob Mars, dem dieses Rennen gewidmet war, die übrigen Unsterblichen oder die Ahnen des Orientalen auch nur einen Gedanken an jenen irdischen Ruhm verschwendeten, welcher Prusias, Manius Flavius Gracchus Minor oder irgendeinem anderen Sterblichen zukam...