~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Er blickte durch jenes gigantische Portal, welches wallende, rote Vorhänge säumten und gar in unendlicher Höhe überspannten. Aus ihm strömte Licht auf ihn, doch unter seinen sonnengleichen Quellen erblickte er zahllose bartlose Häupter, einen infantilen Chor von Jünglingen und Maidlein, welche nicht mehr als zehn Lenze mochten zählen. Doch voll Appetenz waren ihre Blicke ihm zugewandt, ja erblickte nicht selten er ein Glänzen der Faszination in ihren Augen, das geradehin possierlich ihm erschien.
"Seid ihr alle da?"
, vernahm er seine eigene, exaltierte Stimme und er verspürte den Drang, beide Arme in paralleler Weise gen Himmel zu recken.
"Jaa!"
, tönte es ihm aus unzähligen Kinderkehlen entgegen, freudig und innocent zugleich. Mitnichten irritierte ihn jenes groteske Auditorium, als er sich umwandte, um zu erkunden, welche Gestalt sich nunmehr ihm von der Seite näherte. Es handelte sich um eine androgyne Gestalt, deren hageres, fahles Antlitz von dünnem Haar war umrahmt, auf welchem wiederum ein Krönlein thronte. Mit hastigen Worten grüßte sie ihn:
"Caspius, Caspius, da bist du ja endlich!"
"Prinzessin Cornelia, was bedrückt dich?"
, entfuhr es ihm, zugleich staunend, dass der Name jener unansehnlichen Gestalt ihm war geläufig, hingegen mitnichten verwundert, mit dem Terminus eines orientalischen Stammes tituliert zu werden.
"Caspius, das Krokodil! Das Krokodil von Alexandria! Es will unser Glück hindern! So tu doch etwas, mein lieber Caspius!"
Die Prinzessin herzte ihn furchtsam, sodass er ihre knochigen Glieder am Leibe spürte, doch schon eilte sie hinfort, ihn ratlos hinterlassend.
"Wo mag das Krokodil uns auflauern?"
Jenes Wesen aus den Fluten des Niles war ihm klärlich vor Augen, doch ließ die Region, in welcher er weilte, jedweden Gewässers missen, welches den Corpus eines derart gigantischen Wesens hätte gefasst.
"Gib Acht, Caspius!"
, tönte neuerlich der Chor jenseits des Portales und eilig wandte er sich um, um sogleich der Bestie selbst ansichtig zu werden. Ein Krokodil durchaus, wie er eines als Knabe von seinem blinden Anverwandten als Präsent hatte erhalten, doch war es angetan mit weibischer Tracht, dazu mitnichten furchtgebärend, sondern vielmehr gemächlich und friedvoll, zumal es nunmehr mit vertrauter Stimme ihn rief:
"Caspius, komm zu uns zurück!"
Doch obschon es ihm widerstrebte, vernahm er neuerlich die eigene Stimme, diesmal tollkühn und maliziös:
"Gib Acht, ich werde dich zerschmettern!"
Hastig neigte er sein Haupt, um sogleich vom Boden eine überdimensionierte Waffe, eine Keule, welche mit Leichtigkeit er schwang, um sogleich die Bestie niederzuwerfen, obschon er doch nicht wenige Sympathie für jenes infortunable Untier hegte, welches nicht einmal Zähne in seinem gewaltigen Rachen aufwies, sondern furchtsam sein Maul verbarg.
"Nimm dies!"
, gellte seine Stimme und wider Willen erteilte er ihm einen Hieb mit der Keule, sogleich neuerlich ihr Anlauf gewährend, um mit einem weiteren Ausruf:
"Und das!"
, noch einen Streich auszuführen.
"Au! Au!"
, lamentierte das Krokodil und ließ artig sich die Schläge gefallen, während jenseits des Portales höhnisches Lachen zu vernehmen war.
Er wollte inne halten, wollte nicht jene abscheuliche Prinzessin erretten, sondern vielmehr das miserable Wesen, welches nun er beständig mit Hieben traktierte, wollte nicht zur Belustigung des infantilen Publikums einem Gladiatoren gleich jenem innocenten Wesen den Garaus bereiten.
Doch etwas hinderte ihn und schlagartig erkannte er, dass nicht er Herr seiner Glieder war, sondern spinnenfadendünne Schnüre aus seinen Handflächen gen Himmel erwuchsen, sie hierhin und dorthin dirigierten und somit jede Regung und jeden Hieb koordinierten. Irritiert folgte sein Blick den Fäden gen Himmel, wo über dem Vorhange Dunkelheit lauerte und dann, inmitten jener inilluminierten Leere eine wohlvertraute Gestalt, welche behände die Fäden an hölzernen Kreuzen bald hierhin, bald dorthin bewegte, sie drehte und sodann wieder ließ zurückweichen. Und über den kolossalen Händen im Halbdunkel eines verborgenen Raumes lauerte ein höchst konzentriertes Antlitz...
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Manius Flavius Gracchus Maior! Dies war der letzte Gedanke, ehe Morpheus' ihn rüde aus seinem Reiche verstieß und in die Welt der Lebenden katapultierte. Irritiert richtete Manius Minor sich auf, einen Augenschlag in jenen Traumgespinsten verweilend, welche so grotesk anmuteten und in ihrer Albernheit doch so trefflich seine Situation kommentierten, welche am heutigen Tage um ein Weiteres war aggraviert worden.
Denn obschon sein Leib von Schweiß war benetzt und sein Magen ihm durchaus blümerant erschien, was zweifelsohne ein Gruß des Opium-Trunkes war, welcher ihm die Ruhe des Schlafes hatte gewährt, so vermochte er doch zu reminiszieren, welche Situation ihn dorthin hatte gebracht:
Der heutige Tag war der Wahltag und am frühen Morgen bereits war er im Kreise seiner Familie zum Comitium geeilt, vorerst zum letzten Male angetan mit der Toga candida, um nochmalig die Senatoren vor dem Betreten der Curia Iulia seiner Ambitionen zu erinnern. Erst als die Pforten der Curia sich geschlossen hatten und er dem wachenden Blick Manius Maiors war entschwunden, hatte er gewagt unter dem Vorwande des Missbehagens, welches durchaus keine Lüge war gewesen, nach Hause zurückzukehren, um mit besagtem Opium sich über den Irrwitz jenes Tages hinwegzutrösten. Nun aber blieb lediglich der fahle Geschmack des Mohnsaftes, ein schweres Haupt und das Bewusstsein, durch jene winzige Eskapade keineswegs dem großen Spiel keineswegs entfleucht zu sein. Intuitiv strich er sich über die Hände, als vermöge er mit jener superstitiösen Geste die invisiblen Fäden, an welchen sein Vater ihn dirigierte, abzulösen und eigener Wege zu gehen, doch sinnfälligerweise bremste den Weg seiner Linke über den Handrücken der anderen Hand der opulente Karneol seines Siegelringes, welcher ihn gleich dem Halsband eines Sklaven auswies als Besitz der Gens Flavia, juristisch zwar ein freier Mann, doch realiter nicht weniger gefangen und rechtlos wie die miserablen Unfreien, welche auf den flavischen Latifundien jenen Reichtum erwirtschafteten, von dem zu leben das einzige Privileg seines Standes mochte sein.