Beiträge von Manius Flavius Gracchus Minor

    Die Furcht, die indessen beinahe horrible Ausmaße angenommen hatte, konnten die väterlichen Worte merklich senken, gestaltete sich jenes Gleichnis von den Sklaven für den Knaben doch als recht einleuchtend, da jene doch eher diesen zu füttern pflegten denn umgekehrt (auch wenn die Assoziation eines derartigen Falles für den jungen Flavius ebenso inopportun wie inkonvenierlich erschien). Darüber hinaus gestattete Manius Maior nun auch endlich ein weiteres Zurückweichen von jenen Stangen, die nach der Ansicht Manius Minors die Diskrepanz zwischen dem eigenen Leben und einem grausamen Tode sicherstellten.


    Angesichts dieser noch immer latenten Bedrohung wurde die Offerte seines Vaters geradezu zu einer rettenden Holzplanke inmitten des tosenden Meeres der Furcht, das der Knabe nur allzu gern ergriff. Diese veritable Perspektive barg dessenungeachtet gar weitere Labsal, da sie Remineszenzen an Berichte seiner Erzieher erweckte, die voller Wonne die bisweilen recht komischen Aktivitäten affenartiger Geschöpfe gepriesen hatten.
    "Ja, gehen wir zu den Affen!"
    Der junge Flavius würdigte die erschrecklichen Bestien eines letzten, kleinmütigen Blickes, dann ergriff er rasch die Hand seines Vaters und achtete darauf dessen Körper zwischen dem eigenen und den Raubtiere zu halten.

    Unvermindert führte der Knabe seine Schritte gen Camera Ludi, vorbei an prächtigen Statuen, geschmackvoll bemalten Wänden und zierlichen Säulen. Doch schon drang die nächste Frage seines, wenn dies überhaupt binnen einer derartig knappen Zeitspanne zu nennen möglich war, Freundes an sein Ohr. Obschon bereits eine sehr lange Zeit vergangen war seit jenem Besuch in der Arena war es dem jungen Flavius noch immer lebhaft vor Augen, erneut illustriert von jenem adventurösen Erlebnis in der Ludus Matutinus, deren Remineszenz ihm sogar in diesem Augenblick ein Schaudern über den Rücken zu jagen vermochte.
    "Nein, aber ich war mit Papa bei den Raubtierkäfigen, ist aber schon etwas her. Stell dir vor: Ich bekomme eines Tages einen eigenen Löwen!"
    Ungeachtet der Tatsache, dass ihm jener Gedanke durchaus Furcht bereitete, brachte er diese Äußerung nun nicht ohne Stolz hervor, da derartige Informationen seiner Erfahrung nach geeignet waren beim Gegenüber Staunen hervorzurufen, worauf er angesichts seiner letztmaligen Kleinmütigkeit durchaus erpicht war.


    Die Geburt von Caius in der Villa Flavia Felix hingegen versetzte Manius Minor durchaus in Staunen, der Wegzug gar inimaginabel: Welcher Ort mochte von größerer Attraktivität sein als sein Heim, das doch alles zu bieten schien, was ein Knabe, ja sogar jeder Mensch, sich nur wünschen konnte! Da Caius jedoch ebenfalls des Wissens um die Kausalität für jenes Verhalten entbehrte, beschloss der junge Flavius diesen Kasus auf sich beruhen zu lassen.

    Mit aszendierender Bestürzung fühlte der Knabe den wachsenden Druck, der ihn in Richtung des Käfigs schob, dessen Insassen ihn geradezu kleinmütig werden ließen. Seine Augen weiteten sich voller Furcht, als er der majestätischen Raubkatze, deren Besitzer Flavius Aristides war, nun von Angesicht zu Angesicht gegenüber stand. Der Bann wurde freilich rasch gebrochen, als die Pranke des Löwen des Leontius geräuschvoll gegen das Gitter prallte, das unterdessen nur noch in geringer Distanz von dem jungen Flavius stand. Ob dieser erschreckenden Geräuschkulisse entfuhr auch diesem ein kurzer, wenn auch erstickter Schrei, der Manius Maior dazu veranlasste, seinem Sohn weiteren Spielraum zu genehmigen, den dieser rasch zu nutzen wusste.


    In all jener Konfusion vermochte Manius Minor daher nicht sofort die Ausführungen seines Vaters zu verstehen, sondern blickte ihn für einen Augenblick fragend an, während sich die Informationen in seinem Geiste ergänzten. Ein furchterregendes Wesen, das er sein Eigen nennen sollte? Und warum waren ausgerechnet die maskulinen Tiere von so hoher Gefährlichkeit, die femininen hingegen von solcher Tranquillität?
    "Muss ich ihn dann auch füttern?"
    fragte er schließlich voller Angst, die in ihrer Emotionalität geeignet war ihm Tränen in die Augen zu treiben.

    Selbstredend war dem Knaben der Name des Euripides geläufig, hingegen nicht als eine Titulatur für seinen Vater, der doch das Cognomen führte, das auch ihm selbst zueigen war: Gracchus! Seiner Gewohnheit, die Prüfung seiner Leistungen nicht durch lästige Interrogationen zu disturbieren, ersparte er seinen Eltern jedoch eine diesbezügliche Frage, sondern blickte voller Erwartung auf Manius Maior, dem die Lektüre des Diktates augenscheinlich höchste Konzentration abverlangte, was Manius Minor bereits als überaus unheilverheißend erschien.


    Unverhofft wurde freilich jedwede Spannung gelöst ohne aufgelöst zu werden, einem Bogen gleich, dessen Holz nicht durch den Abschuss des Pfeiles, sondern das Zurückschieben desselben in den Köcher in seine natürliche Lage zurückkehrte. All dies erzeugte bei Manius Minor eine gewisse Insekurität, mochte ihm doch eine Begründung des vorenthaltenen Urteils nicht kommen, was ihn zu weiterem Spintisieren affinieren ließ. Doch auch die hierfür erforderliche Zeit wurde ihm nicht geboten, vielmehr erwartete der Vater bereits einen weiteren Rapport seinen gesamten Tagesablauf betreffend.
    "Gut. Ich habe heute Morgen mit Caius Griechisch geübt, dann haben wir mit Artaxias Rechnen geübt, mit dem Abacus."
    Das Sinnieren über jene Stunden bereiteten dem jungen Flavius ein erneutes Unbehagen, war doch seine Kapazität auf dem mathematischen Bereich weitaus geringer als auf dem der Buchstaben und Sentenzen.
    "Dann habe ich mit Caius einen Turm aus Bauklötzen gebaut. Und dann haben wir ihn umgeworfen, dass alles durch den Raum geflogen ist!"
    Jene Remineszenzen waren weitaus erfreulicher und bildeten wohl den emotionalen Maximum des bisherigen Tages, hatten die beiden Knaben in diesen wenigen Stunden der Muße doch noch die Possibilität wahrgenommen ihrer Infantilität freien Lauf zu lassen.
    "Und dann hat Artaxias den Teil der Ilias abgehört, den wir gestern lernten. Und dann hat er den nächsten Teil diktiert."
    Bereits die neuerliche Erwähnung seines Diktates, das im Mienenspiel Manius Maiors Zeichen derartiger Dissonanz erzeugt hatten, erzeugten bei Manius Minor eine Interpretation, die in ihm einen Gram elegischen Ausmaßes offenbarte in dem Dafürhalten, mit seinen kümmerlichen Leistungen den Ansprüchen des Vaters nicht zu genügen, selbst wenn dieser jenes nicht zu artikulieren wagte.

    Aufmerksam zog der Knabe, einem Schwamme gleich, die Ausführungen seines Vaters auf in der Annahme, sie wären per se über jedweden Zweifel erhaben. Sehr gut war all das gar zu systematisieren, sprach doch bereits die Titulatur jenes Wesens für einen Gräzismus, wie er in der Latinität so häufig anzutreffen war, was indessen wiederum die Frage aufwarf, ob dieses Wesen tatsächlich aus Hellas stammte oder ob weitere Länder mit griechischer Sprachlichkeit existieren, ja zuletzt, warum es impossibel erschien nachzuvollziehen, warum die Hellenen sich eines derartig obskuren Begriffes bedienten, lag die hellenische Kultur und Denkweise doch der römischen am nächsten!


    Dessenungeachtet enthielt er sich weiterer Interrogationen, sondern fasste den Beschluss das Wort seines Vaters schlichtweg zu akzeptieren, zumal sie bereits weiterzogen an einer großen Varietät von Feloidea und Käfigen, die ihm bisweilen gänzlich verwaist erschienen, wobei zunehmend auch ein scharfer Geruch von Urin in die Nase des jungen Flavius zog.


    Als endlich der Fremde vor einem der Käfige innehielt, erscholl aus diesem ein Fauchen, das Manius Minor wieder stärker an die Seite seines Vaters drängte, sank ihm doch nun angesichts der bedrohlichen Geräuschkulisse der Mut! Manius Maior schob ihn jedoch ohne Gnade voran, sodass sich ihm das Bild des flavischen Rudels bot. Selbstredend vermochte er keines der Tiere zu identifizieren, doch fühlte er sich intuitiv stärker von dem eigentlichen Rudel attrahiert, welches weitaus pazifistischer erschien, während die wild umherstreifenden, obschon zweifelsohne prächtigeren, maskulinen Löwen, deren Aggressivität nahezu physisch zu spüren war, ihn vielmehr ängstigten und dazu veranlassten, einen Schritt hinter den schützenden Leib seines Vaters zu tun.


    Als Manius Maior endlich offenbarte, dass auch er selbst eines Tages ein derartiges Haustier zu besitzen hatte, mochte ihm schier der Mut gänzlich sinken angesichts der Imagination verpflichtet zu sein, einem derartig wilden Tier Speise und Trank reichen zu müssen.
    "Dann will ich so einen. Die sind viel netter!"
    Mit seiner zarten Hand deutete er in Richtung des Käfigs des Kernrudels, nicht eingedenk der Tatsache, dass dort vermutlich lediglich weibliche Exemplare hinzuzufügen waren, deren fehlende Mähne letztendlich wohl dennoch zu Enttäuschungen geführt hätte.

    Während der Knabe noch eine Replik seiner Ausführungen erwartete, ward die Pforte des Tricliniums erneut eröffnet und sein hochgeschätzter Vater betrat die Scena mit einem Kompliment von jener blumigen und überschäumenden Machart, wie sie für Manius Minor von Manius Maior nicht anders immaginabel war und weshalb er größten Respekt vor dessen Sprachpotenz hegte.


    Indessen war es offensichtlich nicht die Absicht des alten Flavius ein Zwiegespräch mit seiner Gattin zu eröffnen, vielmehr schuf er durch seine intuitive Ansprache der aktuellen Thematik gewissermaßen einen Trialog, der gleichwohl einer Repitition des vorher Gesprochenen erforderte. Und so erfolgte auch seine Erwiderung völlig similär zu der vorherigen:
    "Ich habe ein Homer-Diktat mit Artaxias geschrieben."
    Lediglich die zweite Sentenz bedurfte gewisser Modifikationen angesichts des Umstandes, dass der Knabe seiner Tabula bereits ledig war, weshalb er mit dem ausgestreckten Index auf die Schreibtafel in Händen seiner Mutter wies.
    "Mama kontrolliert es soeben."
    Selbstredend wagte er es nicht seinerseits einen Rapport von seinem Vater zu fordern, sondern harrte schweigend des parentalen Urteils.

    Der Knabe blickte um sich, während die beiden die Gänge der Villa durchstreiften, was möglicherweise darauf zurückzuführen war, dass ihn erneut jenes Gefühl der Illegalität befallen hatte, das er mit dem letzten Zusammentreffen mit Caius asoziierte.
    "Nein, ich war schon auch in der Stadt."
    erwiderte er indessen auf die erstaunte Nachfrage, wobei der Fall seines Tones suggerierte, es handele sich für ihn um ein völlig gewöhnliches Faktum und die Frage an sich wäre obsolet, obschon wohl die genaue Antithese treffender gewesen wäre.


    Gleichwohl erstaunten die folgenden Ausführungen ihrerseits wieder den jungen Flavius, handelten sie doch von seinem Haus und dem mysteriösen Umstand, dass Caius' Mutter offenbar dieses Haus ihr Domizil genannt hatte, ohne dass dies jenem bekannt gewesen wäre, woraus Manius Minor schlussfolgerte, dass dies sich vor der Geburt des Flavianus zugetragen haben musste. Um diese These jedoch zu verifizieren, stellte er folgende Frage:
    "Bist du dann auch hier geboren? Warum seid ihr dann ausgezogen?"
    Selbstredend lag die Wahrheit, nämlich der Umstand, dass Caius der Sohn einer Sklavin war, die vor Jahren im Dienste der Familia Flavia gestanden war, fern von jeglicher Imaginationskraft des jungen Flavius!

    Unverkennbar verlangte es seiner Mutter nach einem höheren Maße an Bequemlichkeit, weshalb auch der Knabe die Kline erklomm und darauf Platz nahm, wie er es bereits seit Jahren gewohnt war. Und ebenso folgsam erwartete er ihr Urteil, obschon es sich für ihn bereits im Vorfeld von selbst verstand, dass es nur positiv ausfallen konnte, wie es beinahe stets der Fall war. Dessenungeachtet fiel es bei diesem Male sogar weitaus positiver aus als üblich, wurde dem jungen Flavius doch im selben Atemzug eine große Zukunft geweissagt! Trotz seines zarten Alters lag ihm die dargebotene Perspektive indessen klar vor Augen: Er würde Rhetorik lernen, möglicherweise eine Bildungsreise unternehmen, dann jedoch jenen Lauf der Ehren antreten, den bereits sein Vater, sein Großvater, wie auch die meisten seiner Ahnen vorangeeilt waren um Immortalität für die Familia und Stärke für die Res Publica zu erlangen. Und selbstredend vermochte es seine Infantilität noch nicht jene Perspektive zu hinterfragen oder gar abzulehnen, arbeiteten er, wie auch sein gesamtes Umfeld doch jeden Tag, jede Minute und jede Sekunde auf nichts anderes als hierauf hin!


    Gleichwohl wandelte sich das Motiv der Unterhaltung jedoch auf Caius Flavianus Aquilius, jenen Knaben, der Manius Minor in der Tat zum Freund geworden war, soweit dieser dies im Rahmen seiner begrenzten Erfahrungswelt zu bestimmen vermochte.
    "Ja, wir spielen zusammen und er sitzt neben mir im Grammatikunterricht. Griechisch kann er aber noch nicht so gut, dass wir zusammen lernen können."
    erwiderte er daher der Wahrheit entsprechend. In der Tat konvenierte es ihn aufs Äußerste einen indipendenten Spiel- wie Lerngefährten zu besitzen, dessen Alter dem seinen entsprach und dessen Wünsche ebenfalls durchaus kongruent zu den eigenen waren, ohne jedoch jene Devotität aufzuweisen, die dem Gebahren eines Gros der Sklavenschaft zueigen war.

    Kaum war es dem Knaben möglich ruhig auf seinem Sitz zu verharren: Zu sehr erfasste ihn die Spannung, wie die flavischen Löwen sich wohl gerieren würden, wie sie leben mochten. Noch nie in seinem Leben war er derartigen Bestien nähergetreten, hatte sie lediglich aus sicherer Ferne von den Logenplätzen beobachtet! Und nun würde er ihnen Auge in Auge gegenüber treten! Gerade war es ihm noch möglich, seinen Vater nicht durch zahllose Fragen zu indignieren!


    Endlich erreichte die flavische Sänfte den Vorplatz des Amphitheatrum Flavium, um das sich eine große Variation von Gladiatorenschulen tummelte wie Ferkel um ihre Muttersau. Als der junge Flavius von der Kante der Sänfte sprang, wurde ihm plötzlich gewahr, dass er zu dieser Tageszeit, da Helios bereits mit seinem Sonnenwagen auf dem Horizont aufgesetzt hatte, sich noch niemals in der Öffentlichkeit, was heißt: außerhalb der Villa Flavia oder den Häusern befreundeter Adliger, bewegt hatte. Doch bei dieser Novität sollte es sich nicht bewenden lassen:


    Begrüßt wurden sein Vater und er von einem Mann, dessen Kutikularfarbe Manius Minor eher unrömisch erschien. Doch nicht nur dies, sondern auch seine natürlich Xenophobie ließen ihn näher an seinen Vater rücken, geradezu mit seiner Seite zu verschmelzen. Doch schien es Fortuna zumindest in jener Hinsicht gut mit ihm zu meinen, dass der mysteriöse Fremde es vermied ihn anzusprechen, sodass es dem Knaben erlassen wurde, Worte an den Lanista zu richten.


    Doch all jene Furcht wurde aufgewogen durch die Impressionen, die sich ihm nun boten: Zwei Wesen, deren Masse alles übertraf, was der Knabe jemals aus der Nähe gesehen hatte, die er sonst lediglich im hölzernen Abbild in wesentlich kleinerem Maßstabe durch seine Camera Ludi sandte. Mit weit geöffneten Augen beobachtete er die Flinkheit, mit der die Bestie ihre Nahrung lediglich mit Hilfe ihrer langen Nase zum Munde führte, die eine weitaus größere Similität zu einem Arm denn zu einem Riechorgan aufwies. Noch ganz von jener Sehenswürdigkeit erfasst und darüber sinnierend erschrak er beinahe ein wenig, als sein Vater ihn auf eine weitere Spezies aufmerksam machte, die ihm jedoch völlig unbekannt war.
    "Warum heißt das Nashorn? Es hat doch keine Hörner!"
    Wahrhaftig war es dem jungen Flavius nicht möglich, auch nur irgendetwas ceroides an dem Wesen erkennen konnte, dessen Schwerfälligkeit ihn das Tier ohnehin weniger unter die Bestien denn unter überaus triviale Tiere zählen ließ. Ein Nashorn hingegen erschien ihm als ein kuh- oder ziegenartiges Wesen, dessen Kopfzierde jedoch nicht auf der Stirn, sondern vielmehr auf der Nase zu finden war.

    "Gut, gehen wir!"
    Natürlicherweise reichte der Knabe seinem Vater die Hand, aufdass dieser ihn durch die Villa zur Sänfte zu geleiten vermochte. Jene nahezu mechanischen Strukturen, die sich indessen in Bewegung setzten, dass ein Sklave durch die Gänge eilte um die Sänftenträger zu aktivieren, die sich wiederum zum Sänftenlager aufmachen würden um die Sänfte an der Porta bereitzustellen, entgingen ihm völlig. Lediglich von dem Produkt all jener Anstrengungen, der bereitstehenden Tragsitze, würde er am Rande Notiz nehmen, dienten sie ihm doch als Vehikel zu jenem ersehnten Abenteuer, das sein Vater ihm in Aussicht stellte!

    Durchaus wurde es auch dem jungen Flavius gewahr, dass Caius, genau genommen der humanoide Caius, kaum Wissen über die Nautik besaß. Doch auch seinen eigenen Kenntnissen waren engste Grenzen gesetzt, rührte es doch nur von theoretischem Wissen, die er durch die Vielzahl seiner Spiel-Wasserfahrzeuge und deren Terminologie vonseiten seiner Ammen und Paedagogi erworben hatte. Daher lautete auch seine Replik wahrheitsgemäß
    "Nein, ich habe schon immer hier gewohnt."
    Tatsächlich hatte er trotz seiner noblen Abkunft, der großen Mengen finanzieller Rücklagen in der Familia Flavia wie auch deren ausgedehnten Landbesitzes niemals für längere Dauer der Villa Flavia Felix den Rücken gekehrt, während beispielsweise sein Vater durchaus Güter im fernen Achaia besucht hatte, wenn dies auch vielmehr seiner Gesundheit denn seiner Reiselust geschuldet gewesen war.
    "Und du?"
    fragte er dann in seiner Annahme, sein Gegenüber sei ihm in all diesen Kategorien ebenbürtig. Zugleich wandte er sich jedoch zum Gehen um die weiteren Spielwerkzeuge für ihr Vorhaben zu holen und seinem neuen Freund seine Camera Ludi zu präsentieren.

    Schweigend ließ der Knabe das Ritual über sich ergehen, das nur von seiner Mutter verübt sein Plazet erregte, andernfalls hingegen eher sein Missfallen erregte. Mit großen Kinderaugen blickte er seine Mutter an und es schien ihm, als habe sich irgendetwas verändert. Freilich vermochte er dies nicht ihrer Gewichtsverringerung zuzuordnen.


    Das Wohlbefinden seiner Mutter erschien dem jungen Flavius ebenfalls durchaus gefällig. Und obschon die Frage nach dem Wohlbefinden bereits in sich implizierte, dass sie die Erwartung hegte, bei ihm stünde es ebenso wohl wie bei ihr, so kam ihm ob seiner infantilen Imperfektheit nicht in den Sinn, mit einem ledigen 'Es ist vorhanden' zu antworten. Stattdessen lautete seine Replik schlichtweg:
    "Gut, danke."
    , während die Interrogation auch schon prolongiert wurde und, einem Ritual gleich, den Fortschritt seiner Übungen erforschte. Die heutigen Lehrstunden hatten Manius Minor freilich ebenso wenig Freude bereitet wie jedwede übrige Ablenkung von ungestörtem Spiel in seiner Camera Ludi.


    Und so verdrehte er auf höchst unpatrizische Art und Weise seine Augen um sein Missfallen kundzutun. Letzten Endes wurde er sich dessenungeachtet seiner Pflicht gewahr, der Mutter Bericht zu erstatten, weshalb er antwortete
    "Ich habe ein Homer-Diktat mit Artaxias geschrieben. Siehe!"
    Er hob seine Tabula empor und reichte sie der Antonia, sodass es ihr möglich war, seinen Fortschritt mit eigenen Augen zu verifzieren.

    Die Amme hatte dem Knaben übermittelt, dass seine Mutter heute nicht nur mit ihm, sondern darüber hinaus auch mit seinem Vater zu tafeln geruhte, was dem jungen Flavius eine besondere Freude war, zumal er in den letzten Tagen sowohl jener, vor allem freilich auch diesem selten ansichtig geworden war. So trat er voller enthusiastischer Erwartungen, gehüllt in eine für flavische Maßstäbe schlichte Tunica, geleitet von seinem Erzieher Artaxias, in das kleinere Triclinium, in dem die Kernfamilia Flavia Graccha zu speisen pflegte. Als Beleg für seine rege Lerntätigkeit des hiesigen Tages war er mit einer Tabula versehen worden, in die mit größter Sorgfalt hellenische Majuskeln gekerbt worden waren, deren Gesamtheit einen Abschnitt der Ilias des großen Dichters Homer ergab.


    "Guten Abend, Mama!"
    begrüßte Manius Minor in vertraut konvenierlicher Weise die Claudia und trat auf sie zu, letzten Endes in respektvoller Distanz vor ihr zum Stillstand kommend. In der Tat erschien ihm Antonia an diesem Tage überaus wohl, was geradezu eine Antithese zu ihrem Befinden der letzten Wochen darstellte (zumindest wie es dem Knaben erschienen war). Dennoch stellte er selbstredend auf höfliche Weise die gewohnte Frage:
    "Wie geht es dir?"

    Voll von Überraschung blickte der Knabe sein Gegenüber an, als sich dessen Züge verhärteten, da es ihm an einer adäquaten, ihm willkommenen Interpretation mangelte. Rasch erhellten sich die Züge von Caius jedoch wieder, sodass der junge Flavius dessen temporäre Indigniertheit lediglich eine Folge seiner Erwähnung des Unterrichts, der ja auch ihn nicht gerade zu Freudentänzen animierte, war. Jene Einsicht nahm in der Tat eine große Last von seinem Gewissen, hatte sich doch bereits die Furcht in ihm geregt, der Junge würde keinerlei Sympathie für ihn hegen!


    Nun freilich hatte man ein gemeinschaftliches Interesse gefunden, unter dessen Leitung man nun die folgende Konversation, ja das gesamte Zusammentreffen gestalten konnte! Es sprudelte geradezu aus Manius Minor hinaus, als er zur Replik ansetzte:
    "Ja, das machen wir! Möchtest du lieber ein ägyptisches oder ein römisches Schiff? Oder eine Galeere? Oder eine Corbita, mit der kann man vielleicht besser Soldaten transportieren..."
    Ein wenig unschlüssig fühlte sich der junge Flavius, der angesichts des schier grenzenlosen Angebots innerhalb seiner privaten Spiel-Flotte nicht zu entscheiden vermochte, welcher Schiffstyp die größte Eignung für einen Eroberungsfeldzug besaß.

    Obschon der Knabe weiterhin sein Gegenüber betrachtete, als wäre es soeben den Gefilden der Seeligen entstiegen, drangen seine Schilderungen langsam in den Geist des jungen Flavius vor und gelangten letzten Endes ein schlüssiges Gesamtgemälde: Offenbar entstammte der ihm bereits bekannte Junge, dessen Name nach seinem Dafürhalten bei ihrer letzten Begegnung einen weitaus keltischeren Klang besessen hatte, von einem oder einer Freigelassenen des Hauses Flavia ab, denn, wie dem Achtjährigen inzwischen bekannt war, verriet dies der Gentilnomen 'Flavianus', obschon er keinerlei Vorstellung hatte, welchen Sozialstatus dieser Umstand erzeugte.


    Derartige Überlegungen stellte er indessen nicht weiter an, ebensowenig, wie er auf die Absenz des Vaters einging, zumal er der Annahme anhing, der Vater des Flavianus Aquilius befände sich lediglich auf dem Forum oder im Senat oder habe anderweitige politische Verpflichtungen. Vielmehr nahm er hingegen zur Kenntnis, dass sein neuester Kompagnon offenbar nun ebenfalls der Familia Flavia angehörte, was eindeutig sein Plazet fand, da ihm dies die Perspektive eines gleichaltrigen Spielgefährten bot, wobei offenbar ebenfalls der Unterricht geteilt werden würde.
    "Griechisch lernen? Haben deine Ammen nicht Griechisch mit dir gesprochen? Ich kann schon Griechisch, seit ich sprechen kann! Nur mit dem Schreiben ist es schwieriger."
    Inmitten seiner kurzen Erzählung verzog Manius Minor seine Miene um sein Missfallen über die für ihn wenig erquickliche Erinnerung an die Stunden bei seinem Privatlehrer kundzutun und seinem Gegenüber eine Idee von jener Bürde des Unterrichts zu geben.
    "Irgendwie verwechsle ich immer Xi und Zeta - die sehen aber auch so gleich aus, findest du nicht?"
    Selbstredend war sich der junge Flavius nicht bewusst, dass der Sohn einer Freigelassenen üblicherweise nur mit Glück lernte, seinen Namen in eine Wachstafel zu kratzen oder gar das lateinische Alphabet, gänzlich zu schweigen von einer Aneignung griechischer Lettern! Doch innerhalb des goldenen Käfigs, in dem Manius Minor die letzten acht Jahre seines Lebens gefristet hatte, gab es letzten Endes keine fremden Kinder, durch die er derartiges Wissen hätte erlangen können, da die Kinder der Sklaven nicht die Erlaubnis besaßen, mit dem Sohn des Hauses zu spielen oder gar zu lernen.
    "Aber Spielen ist sowieso viel besser!"
    fügte er letzten Endes noch an.

    Kleinmütig erwartete der Knabe die Replik seines Vaters, den diese hingegen in keinster Weise eilte, da er offenbar noch immer spintisierte, wie er seinen Sohn wohl auf die beste Weise von seinem Standpunkte zu überzeugen vermochte. Dennoch keimte eine gewisse Hoffnung in ihm auf, als es sich abzuzeichnen begann, dass die Debatte nicht mit Hilfe eines knappen "Nein!" beendet würde, wie es bei seinen Paedagogen häufig der Fall war.


    Stattdessen kam schlagartig jene Verlautbarung über die Lippen des Manius Maior, die Manius Minor den Triumph in jener Auseinandersetzung, die kaum gewonnen worden war, ehe sie begonnen hatte, zubilligte und diesen zum Jubilieren brachte. Geradezu im Taumel einer Ekstase stürzte er, begleitet von einem fröhlichen Gluksen, auf seinen Vater zu und fiel ihm um den Leib, was ihm aufgrund seiner geringen Körpergröße nur im Hüftbereich gelang. Vor seinem inneren Auge begannen bereits Löwen durch einen Käfig zu wandeln, ihre monströsen Zähne gefletscht und mörderisch dreinblickend, sodass er von der Anweisung an Sciurius keinerlei Notiz nahm.


    Seine Erregung wurde durch die Ermahnung ob des Schweigens gegenüber seiner Mutter sogar weiter, nahezu ins Unermessliche gesteigert, gab sie doch jener Angelegenheit einen gewissen Reiz des Verbotenen! Einem Dieb gleich würde er sich gemeinsam mit seinem geliebten Vater aus der Villa schleichen und die Raubtiere begutachten, zurückgekehrt, ehe die Claudia ihr Fehlen bemerken würde!


    Kaum war der Sklave jedoch verschwunden, erwachte er aus seiner Vorfreude und es kehrte wieder eine leichte Betriebsamkeit in den Knaben zurück, als fürchte er sein Vater könne seine Meinung ändern oder gar seine Mutter in die Szenerie platzen um die Entscheidung seines Vaters zu revidieren.
    "Gut. Wo sind sie?"
    fragte er somit und blickte mit erwartungsschwangerer Miene zu seinem Vater auf.

    Die Absage schien jedwede Hoffnungen mit einer Abruptität zum Erliegen zu bringen, zumal darauf eine Stille folgte, die für den Knaben schwerlich zu ertragen war. Auf der einen Hand keimte eine gewisse Desillusion in seinem Geiste auf, auf der anderen Hand jedoch auch ein überaus inkommodes Missfallen, das den jungen Flavius geradezu nötigte, dieses zu verbalisieren.


    Ehe es jedoch hierzu kam, ergänzte Manius Maior den Kausalzusammenhang, der ihn zu jenem Urteil bewogen hatte. Wäre diese erste Erklärung noch auf den Protest des Manius Minor gestoßen, da die Tageszeit in seinen Augen doch in keinster Weise zu vorgerückt war, vermochten es die finalen Worte hingegen doch auf eine gewisse Einsicht zu stoßen. Dennoch konnten sie nicht völlig den ungezügelten Wunsch nach einem Rendevouz mit jenen Bestien zu bremsen, deren Aktivität er vor Zeiten erlebt hatte, die ihm als viel zu weit entfernt erschienen, obschon er sie noch mit dergestalter Klarheit vor sich sah, dass sie sich auch erst am gestrigen Tage zugetragen haben konnte.
    "Aber wir können sie doch heute ansehen und dann noch einmal später! Bitte, Papa! Ich habe schon sooo lange keine Löwen mehr gesehen!"
    begann er schlussendlich in verbindlichem Ton zu betteln. Möglicherweise bot sich dem jungen Flavius doch die Gelegenheit, diesen Tag mit einer derartig einzigartigen Begegnung zu krönen!

    In seiner leichten Konfusion, die von dem ihm wohlbekannten Gefühl der Furcht geleitet wurde, blickte der Knabe um sich. In einiger Entfernung entdeckte er einen Schemen, der sich unvermittelt hinter den Statuen bewegte. Er war so klein, dass es kaum ein Sklave sein mochte, doch welcher Provenienz konnte dieses Wesen dann sein? Handelte es sich gar um ein Larve oder einen Lemur, einen jener furchterregenden Totengeister, die nun offenbar die Abbilder ihrer vormaligen Leiber umschlichen?


    Dann jedoch verließ das Wesen unverhofft die Schatten und wahrlich: Dem jungen Flavius war dieser Fremde bekannt! Viele Male hatte der Mond den Erdkreis umkreist, ein Fünftel einer Dekade war ins Land gegangen, seitdem er den fremden Knaben im Garten seines Anwesens angetroffen hatte. Seitdem hatte sich dieser durchaus verändert, insbesondere in der Größe seines Körpers. Und dennoch konnte keinerlei Zweifel bestehen, dass es sich bei ihm um jenen handelte, der er vorgab zu sein und dessen Namensnennung einen unmittelbaren Konnex im Geiste Manius Minors herstellte. Sprachlos verharrte er einen Augenblick, dann endlich fand er seine Worte wieder:
    "Du heißt...Caius? Wie Caius?"
    Obskurerweise stach ihm ausgerechnet jenes Faktum ins Auge, die Similität von Diarmuds Namen mit dem des kleinen Holzkrokodils, das der junge Flavius mit sich führte, weshalb er wie zur Bekräftigung sein Spielzeug in die Höhe hob und voll Konfusion zwischen diesem und dem Knaben hin und herblickte. Dann endlich kamen weitere Worte.
    "Und wie kommst du eigentlich hierher?"
    Erst sukzessive waren derartig naheliegende Gedanken in seinen Geist gelangt, welcher er an dieser Stelle jedoch unvermittelt verbalisierte, jedoch in einem Ton, der mehr den Vorwitz als eine abweisende Haltung offenbarte.

    Andachtsvoll beobachtete der Knabe das hölzerne Reptil, das noch immer die Königin seines Spielinventars darstellte und mit dem Namen Gaius versehen worden war. Immer wieder aufs Neue ließ er es in die Fluten eintauchen, sie durchgleiten um erneut seine Nase in die lebensnotwendigen Lüfte zu erheben, wobei das Tier gänzlich aus dem Wasser zu springen schien. Noch war dem jungen Flavius nämlich nicht bekannt, dass Krokodile völlig bewegungslos im Wasser zu liegen pflegten um so ihre Beute zu täuschen.


    Als jedoch Gaius ein weiteres Mal aus dem kühlen Nass stieß, erscholl eine Stimme, die eine gewisse Konfusion hervorrief. Inzwischen war Manius Minor gereift, sowohl im Physischen, wie auch im Psychischen: Sowohl waren seine Ohren geschärft und vermochten rasch zu erkennen, dass jene gehörte Stimme nimmermehr aus anterograder Richtung kam, als auch hatte die Praxis seines Lebens ihn gelehrt, dass Spielzeuge aus ihrer selbst heraus niemals zu sprechen begannen, obschon diverse Spielgefährten und Ammen wiederholt Exempel statuierten ihm dies glaubhaft zu machen. Und so wandte er sich um, weniger furchtsam ob der Lebenskraft seines Spielzeugs als furchtsam ob des Gefühles der Entdeckung durch einen Fremden.


    Gemächlich, doch jeglicher Bewegung seines Umfeldes gewahr, erhob sich der Knabe und blickte in die Leere des Atriums in genau jener Richtung, in denen die kühlen Marmorbüsten verblichener Flavier in Stille ruhten.
    "Wer ist da?"
    rief er, wobei seiner Stimme entgegen seiner Bemühungen doch ein Unterton der Furcht beigemischt war.

    Der Fortuna mochte es zu danken sein, dass just in jenem Moment, da Flavianus Aquilius dem Officium den Rücken kehrte und hinauseilte um nach dem ihm bereits flüchtig bekannten Knaben zu forschen, eben jener durch die Gänge der Villa Flavia Felix streifte um seinem innig geliebten Spielgerät, jenem kleinen Krokodil von glattem Holze, ein Bad in den Fluten des Impluviums zu genehmigen. Als er in die hohe Halle des Atriums eingetreten war, schritt er bar jeglicher Beachtung der überaus gravitätisch dreinblickenden Statuen seiner mythenumspannten Ahnen zielstrebig auf das Wasserbecken in der Mitte des Raumes zu. Seine Achtsamkeit war ganz der Sorge gewidmet, dass seine Tunica nicht mit dem kühlen Nass in Berührung kam, während er sich auf die Stufe des Beckens kniete und das Holztier der stillen Oberfläche des Wassers anvertraute.


    Wie bereits bei ihrem letzten Zusammentreffen, so war es folglich auch diesmal an dem fremden Knaben, die Aufmerksamkeit des Manius Minor auf sich zu ziehen, da eben jener wie so oft der um ihn geschehenden Realität wenig Aufmerksamkeit schenkte, sondern sich gänzlich in sein Spiel versenkt hatte.