Beiträge von Manius Flavius Gracchus Minor

    Selbstverständlich betrachtete der Knabe es nicht als große Forderung, seinen Namen als Schlussakt des Briefes in das Wachs zu bannen. Aufgrund der Geste seiner Mutter, die ohne jegliches, vorwarndendes Indiz über ihn kam, zuckte der Kopf des Knaben zurück, obschon er diese nicht als offensiven Akt wahrnahm, sondern sein Gebärden zugleich eine gewisse Satisfaktion bekundete ob der Tatsache, dass ihm fortan weitere Reflexion erlassen war.
    "Ja, bitte!"
    replizierte er hingegen und ergriff den Stylus, der ob all jener langwierigen Dispute bereits in gewissem Maße erkaltet war. Obschon man ihm bereits wiederholt angeleitet worden war, wie dieses Schreibinstrument zu ergreifen war, fiel er jedoch aufgrund seiner Unachtsamkeit in die alte Eigenart zurück, ihn mit drei anstelle von zwei Fingern zu umgreifen, was seine Lettern in der Regel noch ungelenker wirken ließ, als sie es ohnehin bereits waren.

    Die Ausführungen seiner Mutter erschienen auch dem kindlichen Gemüt des Knaben plausibel. Erst, wenn der Leser von der Konstruktion des Tempels wusste, vermochte er die Bedeutung des Mangels an einer adäquaten Figur zur Darstellung des notorisch untreuen Göttervaters. So bewegte er sein Haupt unmerklich, lediglich ein knappes Nicken, verbunden mit der unschuldigen Miene eines Kindes.


    Verbunden mit den neueren Adnotationen bezüglich seiner Körpergroße wurde sich Manius Minor jedoch einer neuen Problematik bewusst: Aufgrund der Vielzahl von Information vermochte er diese, sowie ihre korrekte Anordnung, kaum mehr zu memorieren. Sein kleiner Körper straffte sich leicht, während er erneut begann, sämtliche Bemerkungen zu überdenken.
    "Also nochmal: 'Rate, was ich kann!', dann 'Ich habe schon viel gelernt.', dann das mit Ulixes und dem Zyklopen, dann der Tempel und die Figur, dann, dass ich schon ein bisschen gewachsen bin - nein, zuerst noch das Holzpferd! Und dann noch das 'Danke'."
    Nun war auch in seinen Augen ein gewisses Maß an Konfusion zu identifizieren. All jene Informationen übertrafen die Kapazitäten des Knaben um Längen, zumal er sich langsam bewusst wurde, dass die Schwierigkeit der Aufgabe, all jene Formulierungen in das köstliche Wachs der Bienen zu bannen, die bisherige Reflexion in hohem Maße übertreffen würde.
    "Muss ich noch mehr schreiben?"
    fragte er daher mit flehendem Blick seine Mutter. Obschon er die Grenzen seiner Fähigkeiten verspürte, traf ihn zugleich auch ein gewisser Scham aufgrund der Tatsache, dass es ihm nicht möglich war für seinen Vater eine adäquate Epistel zu verfassen.

    Das Lob linderte die Konfusion, in der der Knabe sich befand, erneut ein wenig, sodass in ihm beinahe eine Zuversicht aufstrahlte, dass er dieses Projekt erfolgreich abzuschließen vermochte. So fuhr er mit seiner Reflexion fort, die insbesondere von der Frage seiner Mutter evoziert wurde.
    "Ach ja, richtig! Dann schreibe ich noch: 'Ich habe außerdem ein Holzpferd bekommen.' - aber nein, ich habe ja ganz vergessen, dass ich die Statue nicht basteln konnte, weil mir die Figur gefehlt hat. Soll ich das zuerst schreiben?"
    In diesem Falle hatte Manius Minor es jedoch verpasst, seine Formulierungen gedanklich zu durchdringen und bereits die entsprechenden Zeichen zu memorieren.


    Die letzte Frage rief bei ihm erneut Verwirrung hervor, denn vermochte er sich keinen Gegenstand unter der 'Argonautica' zu imaginieren. Zwar hatte er den Brief seines Vaters gehört, doch aufgrund der komplexen Topologie war ihm wenig von seinem Inhalt im Gedächtnis geblieben. Doch da Claudia ihn dazu ermahnte, beschloss er, diesen Casus ebenfalls in seine Epistel zu integrieren, immerhin folgte er stets dem Credo, dass es sich bei seiner Mutter um ein allwissendes, sorgendes Wesen handelte, dessen Aussagen nicht infrage zu stellen waren.
    "Dann schreibe ich noch: 'Danke auf für dein Geschenk! Es gefällt mir sehr!'"
    Wie er erkannt hatte, rief jene Formulierung bei den zahlreichen Stiftern seiner Geschenke-Sammlung die meiste Freude hervor und selbst, wenn er sich nicht zu erinnern vermochte, welcher Natur das Geschenk gewesen war, so war er in gewisser Hinsicht überzeugt, dass ein Geschenk seines Vaters früher oder später in ihm ein Gefühl von Freude auslösen würde.

    Die Zurechtweisung rief bei Manius Minor eine leichte Indignation hervor, war er doch erneut ein wenig zu weit gegangen und hatte es vermieden, sich zuerst nach weiteren Regeln zu erkundigen. Die Eröffnungen über das Thema der Übergänge rief in ihm weitere Verwirrung hervor: Wie identifizierte man eine passende Alternation? In seinem kindlichen Alter verfügte er beiweitem nicht über das rhetorische Geschick, das derartige Varianzen erforderten.


    Um jedoch nicht erneut fragen zu müssen, beschloss er kurzerhand, die Offerte seiner Mutter zu akzeptieren, sodass er nach kurzer Bedenkzeit erneut begann.
    "Rate, was ich schon kann! Ich habe viele Dinge gelernt. Glaphyra hat mir die Geschichte von Ulixes erzählt. Aber ich habe auch Zeit zum Spielen. Ich habe nämlich den Tempel von Iuppiter auf dem Kapitol gebaut."
    Bei diesem Versuch nun übersah es der Knabe jedoch - inkommodiert durch die neueste Lektion - sämtliche Informationen in den Entwurf zu packen, die er ursprünglich eingeplant hatte.

    Obschon Claudia darauf bedacht war, ihre Desillusion hinter einer Fassade liebevoller Affektion zu verbergen, erkannte der Knabe für einen kurzen Augenblick diese, wodurch in ihm erneut eine gewisses Zerknirschung aufkeimte. Ohne ein weiteres Wort eradierte er den fehlerhaften Buchstaben mit der stumpfen Seite des Stylus, wie er es bereits bei früheren Exerzitien gelernt hatte. Daraufhin verbesserte er seinen Fehler, der ihm nun dank der mütterlichen Erklärung gewahr wurde.


    Im Anschluss erschien jedoch eine erneute Komplikation. Wie hatte seine Mutter ihm geraten? Er sollte nun mit einer tendenzielle Adumbration, ehe er mit einigen Episoden seines Lebens fortfuhr. Einige Zeit verstrich, ehe Manius Minor eine Formulierung gefunden hatte - dennoch plagte ihn eine gewisse Insekurität ob diese Idee den hohen Ansprüchen seines Vaters adäquat war.
    "Soll ich einfach schreiben: 'Rate, was ich schon kann! Mir geht es gut. Glaphyra hat mir die Geschichte von Ulixes erzählt. Mama sagt, ich werde auch einmal so schlau bestimmt. Und ich hab den Tempel von Iuppiter auf dem Kapitol gebaut. Nur die Statue hab ich nicht richtig hingekriegt, weil ich keine sitzende Figur habe, die aussieht wie Iuppiter.'"
    Diese Inventionen waren für den finiten Geist eines sechsjährigen Knaben bereits eine große Menge, zumal er in Gedanken bereits darüber ging, das Bedürfnis an Buchstaben für seine Äußerungen zu ermitteln. Dennoch entging ihm gänzlich der Umstand, dass seine Ausführungen durch einen für den Leser möglicherweise unverständlichen Themawechsel gebrochen wurden.

    Die Letter, die Claudia in das Wachs zeichnete, rief im Geiste des Knaben die Erinnerung an ein ähnliches Symbol, 'D' wach. Rasch wurde ihm bewusst, dass es von größter Bedeutung war, welche Länge der vertikale Strich bei jenen Buchstaben besaß.


    Als sie im Folgenden seine bereits vollendete Sentenz betrachtete und dabei Revision forderte, war der Knabe erneut verwirrt: Welcher Fehler mochte ihm unterlaufen sein? Voll von Konzentration betrachtete er das Gebilde, seine Lippen formten stumm jede einzelne Letter. Doch unglücklicherweise vermochte er den Fehler seines Werkes nicht zu erkennen, da sich ihm der mißratene Buchstabe lediglich aufgrund seiner schlangengleichen Form ins Gedächtnis eingebrannt hatte, ohne dass er der Richtung Beachtung geschenkt hätte.
    Folglich folgte auf die Frage der Mutter eine Miene der Verwirrung, während er mit fragendem Unterton das betreffende Wort rezitierte:
    "Streiten?"

    In diesem Falle gelang es Claudia durch ihre Äußerungen in der Tat, keinerlei negative Regungen bei Manius Minor hervorzurufen. Dieser Umstand gereichte dem Knaben ebenso zur Satisfaktion, wie er wohl auch bei seiner Mutter Freude hervorgerufen hätte, wüsste sie um die Konfusion, die ihre Worte in dem Knaben bisher evoziert hatten.
    "Gut. Dann frage ich ihn also zuerst."
    bestätigte er daher und machte sich erneut über die Tabula her. Bedachtsam und voller Konzentration bannte er sukzessive die einzelnen Lettern in das Wachs, die zusammen den Satz 'Wie geht es dir?' bildeten. Tatsächlich gelang ihm dieser dank seiner bisherigen Schreibübungen fehlerfrei. Die zweite Sentenz besaß jedoch wieder erste Fehler, denn kaum hatte er zum ersten Buchstaben von 'Streiten' angesetzt, bewegte er die Griffel in die falsche Richtung, sodass sich der Buchstaben serpentilen Charakters in die falsche Richtung schlängelte.
    "Wie geht ein 'P'?"
    fragte er anschließend, ehe er die Aussagen betreffend seiner Negotien begann, da ihm jener Buchstabe bei der gedanklichen Prädiktion wiederholt aufgefallen war.

    In leichtem Maße vermochte das Lob ob seiner Anrede die Befürchtungen des Knaben zu beruhigen. Dennoch gelang es seiner Mutter, diese Freude durch ihre rhetorische Frage postwendend wieder zu zerschlagen, da Manius Minor noch keinerlei Kenntnis von Stilmitteln besaß und jenen kurzen Moment kleinmütig darum kämpfte, eine passende Antwort darauf zu finden. Als Claudia ihm dies abnahm, empfand er dies ebenso als Niederlage.


    Obschon bereits erwägt hatte, nach der Vorgehensweise zu fragen, die benötigt wurde um Spannung zu erzeugen, hielt er sich glücklicherweise zurück. Stattdessen lauschte er dem Beispiel der Mutter und begann rasch, nach Ideen für eine derartige 'Füllung' zu suchen. Dabei entging ihm völlig, dass seine Mutter einen grammatischen Fehler vorgegeben hatte, indem sie einen Imperativsatz als Rogativsatz darstellte.
    "Soll ich fragen: 'Wie geht es dir? Streiten sich die Leute bei dir noch?'"
    Einen Augenblick fuhr er fort, über die kürzlichen Erlebnisse zu reflektieren: Sein Leben war durch wenig Abwechslung geprägt: Des Morgens erwachte er, wurde von seinen Ammen eingekleidet, nahm ein karges Frühstück zu sich und suchte anschließend sein Spielzimmer auf. Gelegentlich las einer der Sklaven oder aber seine Mutter selbst ihm etwas vor - häufig Geschichten über Griechen, Aeneas, die Historie des Staates oder die unsterblichen Götter. Unterbrochen wurde jene Zeit des Spieles gelegentlich von einem Bad in den hauseigenen Thermen, einem Mittagsmahl, sowie der Cena, die er stets gemeinsam mit seiner Mutter einzunehmen pflegte. Doch all das war kaum geeignet, es seinem Vater zu berichten, denn die Umstände hatten sich in dieser Materie kaum gewandelt.
    "Ich habe den Tempel des Iuppiter gebaut. Mit meinen Bauklötzen! Und Glaphyra hat mir die Geschichte von Ulixes und dem Zyklopen erzählt! Wenn ich groß bin, will ich auch einmal so schlau sein wie Ulixes!"
    kam es ihm schließlich in den Sinn. Besonders letztere Erzählung über den listenreichen Odysseus hatte ihn in den vergangenen Tagen inspiriert, sodass er sie gar gemeinsam mit seinen unfreien Spielgefährten nachempfunden hatte. Er hatte sich gar an den beklagenswerten Artaxias gehängt, der daraufhin auf allen vieren durch das Spielzimmer hatte trotten müssen.

    Die Imaginationskraft des kindlichen Geistes vermochte es nicht, sich Alternativen zum luxuriösen Domizil der Flavier vorzustellen., hatte der Knabe doch noch nie ein fremdes Haus betreten. Obschon er natürlich bereits Ausflüge auf das Forum, den Mercati Traiani und das Amphitheatrum Flavium gemacht hatte und zweifelsohne bereits Insulae erblickt hatte, hatte er jene Bauten nicht als Wohngebäude identifiziert. Daher tauchte vor seinem inneren Auge nun eine ebenso repräsentative Wohnanlage auf, die lediglich die Sklavenquartiere entbehrte.


    Dass er nun jedoch seinerseits erneut einen Wissensvorsprung gegenüber dem Fremden besaß, erfreute ihn in höchstem Maße. Obschon bereits mehr als ein Jahr vergangen war, seitdem er in den Armen seines Vaters von der Ehrenloge auf das Spektakel hinabgeblickt hatte, erinnerte er sich noch an zahlreiche Details der Veranstaltung: Vor ihm erschien Zycus, der Schnitter von Mauretanien, Rutger, dessen Kopfbedeckung den Eindruck erweckt hatte, er sei ein Vogel, von den perniziösen Pudellöwen, dem femininen Gladiator, der den Titel einer Königin getragen hatte. Wäre ihm zu jenem Zeitpunkt bereits die Perikulosität scharfer Waffen bewusst gewesen, hätte er möglicherweise damals sein Haupt vor Furcht verhüllt, als der blutüberströmte Gladiator ihn angeblickt hatte. Nun jedoch hatte sich der Tag in der Arena als attraktive Impression größter Faszination erwiesen.
    "Ja, mein Papa hat dort Spiele veranstaltet. Da kämpfen Männer gegeneinander und Männer gegen Hunde oder Löwen und Männer gegen Frauen. Ganz schön aufregend! Aber dir passiert da nix - man sitzt ganz weit oben und schaut herunter!"
    erklärte er daher mit einem Tonfall, als sei er bereits bei Unmengen von Gladiatorenkämpfen im Publikum gesessen.

    Voller Konzentration betrachtete der Knabe jene klaren Linien, die seine Mutter in das Wachs drückte. Wahrhaftig erweckte dies den Anschein, dass es sich an dieser Stelle um ein einfaches Schriftzeichen handelte. Dennoch gelang es seiner ungeübten Hand nicht, es ebenso ebenmäßig wie das Vorbild zu kopieren. Da er die übrigen Buchstaben bereits beherrschte, konnte er dennoch endlich die Ansprache der Epistel vollenden.


    Doch nachdem er nun die erste Hürde genommen hatte, brach vor ihm ein weiteres Problem auf: Es galt, seine Gedanken in Worte und Sätze zu bannen, sodass sie dem prüfenden Auge des Vaters adäquat waren. Doch wie? Wie artikulierte man seine Impressionen, Intentionen und Notionen in schriftlicher Form?
    "Soll ich einfach schreiben 'Ich kann lesen und schreiben.'?"
    richtete er daher das Wort an seine Mutter. In seiner kindlichen Art verzichtete er jedoch darauf zu reflektieren, welche Buchstaben und grammatischen Regeln er zu beherrschen hatte, um eine derartige Sentenz zu konzipieren.


    Doch selbst, wenn es ihm in den Sinn gekommen wäre, wäre er wohl zu rasch aus den Gedanken gerissen worden, als Claudia nach seiner Befindlichkeit fragte. Bisher hatte er dieser Frage keinerlei Bedeutung beigemessen, denn obschon die sommerlichen Temperaturen Rom in glühende, schwüle Hitze hüllten, vermochten adlige Herrschaften sich mittels Sklaven und Palmwedel in ausreichendem Maße zu schützen. Ungeachtet dessen hatten Mutter und Sohn jedoch auch erst vor einer geringen Zeitspanne das Freilufttablinum betreten, das zudem zahlreiche kühlende Schatten bot.
    "Nein, schon gut!"
    erwiderte er daher und wandte sich wieder dem Brief zu. Obwohl ihn noch immer eine gewisse Furcht vor einem Scheitern beklemmte, zwang ihn eine gewisse Ambition, nicht von dem Projekt abzulassen.

    Die Weise, in der seine Mutter seine Worte wiederholte, rief in dem Knaben erneut ein starkes Gefühl von Unbehagen hervor. Im Bewusstsein seiner kindlichen Beschränktheit hegte er die Befürchtung, sein Gruß sei seinem Vater nicht angemessen, war dieser doch eine leuchtende Gestalt in unerreichbarer Höhe, ein Senator von größter Macht, dem nicht nur dieses Haus, sondern, wie Manius Minor bereits entdeckt hatte, auch Unmengen an Klienten und Sklaven aus nah und fern gehorchten. Doch wusste er dennoch nicht, welche Worte dieser Position angemessener waren, sodass er sich zuletzt damit zufrieden gab, dass Antonia ihm befahl, die beiden Worte an den Anfang des Briefes zu setzen.


    Ehe er beginnen konnte, den Befehl seiner Mutter umzusetzen, war er jedoch erneut genötigt, sich seines Gedächtnisses zu bedienen. Er beherrschte inzwischen eine ganze Reihe an Lettern und hatte erkannt, dass jede einen Lautwert besaß, der typischerweise dem des artikulierten Wortes entsprach. Erwiesen sich diese jedoch als nicht kongruent, kam der junge Flavius ins Stocken und bedurfte der Hilfe und Anleitung seiner Mutter. Dennoch begann er, die Schriftzeichen in seiner unbeholfenen Weise in das Wachs zu ritzen, ehe er stockte. Wie bannte man jenen Laut in das Wachs, der durch Anlegung der Zungenspitze an die Alveolen gebildet wurde?
    "Wie geht ein 'L'?"
    fragte er daher seine Mutter und legte den Stylus beiseite, da er annahm, dass seine Mutter ihm die Formung des Buchstabens mittels diesem demonstrieren würde. Doch zuvor hatte seine Mutter ihm bereits eine weitere Frage gestellt, sodass er prompt diese beantwortete, ehe seine Mutter die Möglichkeit zur Beantwortung jener erhielt, denn hierzu strömten tausende Ideen in seine Gedanken ein.
    "Dass ich jetzt schon lesen kann! Und sogar schreiben! Und dass ich ein neues Holzpferd bekommen habe!"

    Aufgrund der Tatsache, dass das anstehende Ientaculum in Ermangelung eines Hungergefühls keine übermäßig positive Perspektive bot, wirkte der Knabe eher gelangweilt, als der Sklave ihn seines Nachtgewandes entledigte und ihm die Tunica für den Tag umlegte. Seine Garderobe war sämtlich von seiner Mutter ausgewählt, weshalb auch jenes Kleidungsstück den exklusiven und zugleich modischen Stil pflegte, den die Gewänder Antonias atmeten.


    Erst als der Sklave auch den schmalen Gürtel mit der vergoldeten Schnalle um den Leib des jungen Flaviers geschlungen hatte, senkte dieser seine Arme endlich. In jenem Augenblick hatte sich seine Mutter bereits erhoben und erste Schritte in Richtung der Mahlzeit gesetzt, sodass der Knabe sich beeilte, ihr zu folgen, während er sogleich die Folge ihrer Order mit einem
    "Ja, Mama!"
    attestierte.

    Mit leichtem Erstaunen musste der junge Flavius erneut erkennen, dass jene Axiome, die bisher seine beschauliche Welt bestimmt hatten, für sein Gegenüber ebenso wundersam waren, wie dessen Axiome in ihm selbst Konfusion hervorriefen. All jene Expressionen erzeugten in dem Knaben ein aufwallendes Gefühl der Xenophobie - doch darüber hinaus erstand noch eine weitere Gefühlsregung, die ihn in gewisser Weise erstaunte: Neugier! Die Dinge, von denen dieser Fremde zu erzählen vermochte, versprachen kuriose Novitäten, wie sie weder ein Sklave, noch seine Eltern zu vermitteln vermochten.
    "Und da wohnst du mit deiner Mama? Und wo ist deine Villa? Beim Amphitheater?"
    Selbstredend hatte auch Manius Minor bereits sein Domizil verlassen - obschon dies recht selten geschah. Dennoch waren ihm singuläre Punkte in der Erinnerung haften geblieben - wie etwa jenes gigantische Amphitheatrum Flavium, das Massen an Menschen beherbergte, deren Anzahl jegliche Zählfähigkeiten des Knaben überschritt. Und obschon auch sein Zeitgefühl bisweilen noch eher unausgereift war, war es ihm noch bewusst, dass es eine ganze Weile gedauert hatte, ehe die flavische Sänfte es erreicht hatte. Zwar hätte dies als Indiz dafür dienen können, dass es in weiterer Entfernung lag, doch auf der anderen Seite wusste jeder junge Flavius ebensowenig, wie weit sich die Stadt Rom erstreckte, da er sie niemals in seinem Leben verlassen hatte.

    Der erstaunte Blick seines Gegenübers verwirrte Manius Minor erneut. Er fühlte sich angestarrt wie jene Gladiatoren, die er bei den Ludi im Amphitheatrum Flavium verfolgt hatte, obschon das Antlitz des Fremden einen weitaus stupideren Charakter besaß als jenes der Zuschauer während der Spiele. Und all das lediglich deshalb, weil er einige seiner Spielsachen aufgezählt hatte!
    "Perictione, Glaphyra, Lakrates oder Artaxias oder einer von den anderen Sklaven natürlich!"
    erwiderte er leicht genervt auf die erste Frage. In jener kleinen, von jeglichen Einflüssen des gewöhnlichen Erdenkreises einfacher Bürger abgeriegelten Welt des jungen Flavius verstand es sich von selbst, dass stets jeder Sklave des Hauses dazu zu zwingen war, ihm die Zeit zu vertreiben.


    "Ein Schwert ist doch nicht aus Holz, sondern aus Eisen! Aber meines ist natürlich stumpf, sonst ist es zu gefährlich, sagt Mama."
    beantwortete er schließlich die sekundäre Rogation, die ihm ebenso stupid wie überflüssig erschien. Ihm war es nicht klar, dass gewöhnlichen Kindern echte Waffen, Rüstungen - schon gar maßgeschneiderte - verwehrt wurden, sondern sie sich mit mehr oder minder gelungenen Holzimmitationen zu begnügen hatten. In der Welt des Überflusses diesseits der Mauern der Villa war derartiges nicht bekannt.


    Die letzte Frage erschreckte den jungen Flavius allerdings. Sowohl seine Eltern, als auch die Ammen hatten ihn stets davor gewarnt, die schützenden Mauern des Hauses zu verlassen und nicht einmal seine sonst besorgte Mutter hatte ihm verschwiegen, dass dort unabschätzbare Gefahren lauerten: Räuber, Mörder, Diebe, gefährliche Kreaturen jeglicher Facon!
    "Draußen ist es natürlich auch zu gefährlich! Woher kommst du eigentlich?"
    gab er daher zurück. Nach seiner Reminiszenz war er dem Baum entstiegen - doch wie war er dorthin gelangt? Zwar kannte Minimus bereits die Mär von Daidalos und Ikaros, doch konnte er im ganzen Garten keinerlei Anzeichen der für einen solchen Flug erforderlichen Plethora von Vogelfedern entdecken. War er etwa gar von dort draußen gekommen? Womöglich war er gar selbst einer jener zwielichten Gestalten, vor denen man ihn gewarnt hatte?

    Für einen Augenblick schien Antonia von der Antwort des Knaben irritiert. Dann jedoch korrigierte sie ihn knapp. Obschon Manius Minor keinerlei Anlass hatte, seinen Fehltritt zu bedauern, da er schließlich noch niemals eine Epistel verfasst hatte, rief die Enttäuschung, die er in der Stimme der Mutter zu vernehmen glaubte, auch eine solche bei sich selbst hervor. Die Grußformel! Selbstverständlich war die Argumentation Antonias wesentlich plausibler als sein Gedanke vom abschließenden Namenszug!


    Während sie ihm über das Haar fuhr und ihre Enttäuschung offenbar wieder verflogen war, fragte sie ihn nach seiner üblichen Grußformel für den Vater.
    "Salve, Papa!"
    antwortete er intuitiv, denn dieser Gruß war ihm bereits von dem Zeitpunkt an, an dem er seine Sprache zu nutzen vermocht hatte, eingetrichtert worden. Ob man auf diese Weise jedoch einen Brief initiieren konnte, war für ihn jedoch in keinster Weise apodiktisch.

    Der Enthusiasmus, den seine Leseleistung bei seiner Mutter hervorrief, pflanzte sich auch auf das Gemüt des Knaben fort. Ihr Lächeln rief bei ihm ein tiefes Gefühl der Zufriedenheit hervor. Ihr Urteil betreffend seines Talentes erfreute ihn, obschon er zugleich das Gefühl hatte, als würde diese Fähigkeit ihm zugleich auch große Erwartungen seiner Peristase aufbürden. So erwartete er die nächste Übung, doch in jenem Augenblick schien seine Mutter sich der Tageszeit gewärtig zu werden.


    Ihre Befürchtungen entbehrten zwar jeglichen kausalen Wirkungszusammenhangs, da Manius Minor noch in keinster Weise ein Hungergefühl verspührte, dennoch gehorchte er dem Ratschlag, der aus dem Munde seiner Mutter stets einem unbedingten Befehl gleich kam, prompt.
    "Gut, Mama."
    Langsam kletterte er aus seinem Bett, wobei sein erlesenes Nachtgewand, das seine Beine in leichtem Maße behinderte, ein unbedeutendes Hindernis war. Er platzierte sich in der Mitte des Raumes und hob die Arme. Für das Ankleiden besaß er Sklaven, die nun zweifelsohne herbeieilen würden, um ihm das Nachthemd abzunehmen und ihm eine angemessene Tunica anzulegen. Oder würde gar seine Mutter diese Aufgabe übernehmen?

    Es war evident, dass sein Gegenüber über zahlreiche Freunde verfügte, denen er gar Prädikate im Superlativ verlieh. Dennoch lag es weitab jeder Imaginationskraft des jungen Flavius, derartige Gefühlsregungen empathisch zu erfassen. Ihm blieb lediglich ein Vergleich mit Gefühlen, die er gegenüber seiner Mutter oder seinem Vater hegte - obschon er dies als selbstverständlich und geradezu natürlich betrachtete (wobei er im Grunde seine Lage hinsichtlich sämtlicher Lebensumstände für allgemein gültig und natürlich hielt).


    Diesem Umstand war es auch zu verdanken, dass er die Bewunderung des Fremden für seine Vielzahl an Spielutensilien schwerlich verstand. Wie füllte man sich etwa den Tag ohne Legionen hölzerner Soldaten, wie bekämpfte man seinen Erzieher ohne ein hölzernes Schwert, einen Harnisch und einen Helm? Oder wie vermochte man sich die endlos lange Badezeit zu vertreiben, wenn nicht mit Hilfe eines hölzernen Schiffes, das man durch das Becken geleiten konnte?
    "Sicher, ich hab' noch vier Puppen, einen Helm, ein Schild, ein Schwert, eine Lanze, einen Brustpanzer, Murmeln, und kleine Holzsoldaten und noch ein paar Tiere."
    erklärte er daher, als sei eine derartige Menge von Spielzeug selbstverständlich. Diese Haltung verlieh ihm endlich ein gewisses Maß an Sicherheit gegenüber dem Jungen, der seinen Namen verhöhnt hatte.

    Mit leichtem Befremden registrierte Manius Minor die prüfende Musterung, die der der Fremde ihn unterzog. Der Umstand, dass ihn der Name ihn amüsierte, rectifizierte seinen Habitus kaum. Was galt es auf eine solche Frage zu antworten? Und schwang in seiner Feststellung nicht der Hauch einer Herabwürdigung mit? Nie war ihm der Gedanke gekommen, dass der Kosename seines geschätzten Vaters in irgendeiner Weise degradierend wirken könnte!


    Doch wie der Spott gekommen war, schien er auch wieder zu verschwinden und der Knabe mit dem unaussprechlichen Namen alternierte das Thema. Rasch gelang es dem jungen Flavier, mit ihm mitzufühlen, denn kaum hatte er die Kirschen erhalten, schob er sie bereits in einer Geschwindigkeit in den Mund, als könnte sein Gegenüber das Präsent noch zurückziehen. Und wahrhaftig waren sie überaus gustös! Die Süße des Fruchtfleisches erfüllte den Mund des Knaben, während seine dentalen Antagonisten auf den harten Stein im Herzen der Frucht stießen. Als der Kern all seiner süßen Annexe entblößt war, was nicht lange dauerte, stieß er ihn wieder aus, wie er es auf Gastmählern in diesem Hause gesehen hatte. Üblicherweise erschienen daraufhin Sklaven, die den Boden rasch wieder reinigten, doch nun geschah nichtsdergleichen. Stattdessen thematisierte der Fremde nun den Garten selbst, der für Manius Minor so selbstverständlich war wie das Haar, das seinen Kopf bedeckte. Unvorstellbar war es für ihn, dass jemand sein Dasein in der Enge einer Mietskaserne fristete! Daher blieb ihm nur Verwunderung für die exzessive Begeisterung des Flavianus übrig. Doch nicht nur dies entsprach nicht seiner Lebenswelt:
    "Freunde?"
    fragte er voller Verwirrung. Dieser Begriff war ihm nur aus jener fernen Erwachsenenwelt bekannt und bezeichnete dort fremde Männer und Frauen, die regelmäßig in der Villa Flavia erschienen, für Manius jedoch eher beängstigend wirkten. Er selbst besaß nichts dergleichen - als Augapfel seiner Mutter war es ihm unmöglich, Kontakt mit Gleichaltrigen zu pflegen. Dennoch überkam ihm ein gewisses Schamgefühl, dass er mit einem derartigen Statussymbol nicht aufwarten konnte, und er ging lediglich auf den zweiten Teil der Aussage ein.
    "Ach, ich spiele lieber drinnen - da gibt es mehr Spielzeug!"
    In der Tat nannte 'Minimus', der Schwarm der gesamten Familie, ein ganzes Zimmer voller Spielutensilien sein Eigen - wozu benötigte er da noch einen Garten, in dem er ohnehin nicht herumtollen konnte, ohne dass man ihn zur Sorge um seine Sauberkeit ermahnte?

    Anstatt einer Erwiderung vernahm Manius Minor ein Rascheln der Blätter, ehe ein Knabe in den Ästen des Baumes erschien. Sein Haupthaar besaß jene Farbe, die keiner der Flavier selbst aufwies, woraus der junge Flavius geschlossen hatte, dass Römer diese Haarfärbung nicht besaßen, wenn nicht nur Sklaven derartig beschaffenes Haar hatten. Im Übrigen wirkte er jedoch wie ein gewöhnlicher Knabe, obschon er keinerlei Zurückhaltung besaß, wie es Manius schien, denn er hatte gar von den Kirschen des Gartens genommen und betrachtete ihn auf eine Weise, die in Manius ein Gefühl von Scham hervorrief.
    Seine Vorstellung hingegen erwiderte der Flavier seinerseits mit unverholenem Staunen. Sein Name war geradezu formidabel, die Früchte hinter seinen Ohren verliehen ihm ein ein befremdliches differentes Aussehen, als sei er einer jener Geschichten entstiegen, die ihm die Ammen über die großen Götter Roms vorgetragen hatten.
    "Ich...ich...ich heiße Minimus!"
    stellte er sich endlich stotternd vor. Noch nie in seinem jungen Leben hatte er eine Begegnung mit einem ihm an Jahren Ebenbürtigen Knaben gehabt. Zwar war ihm Flavius Serenus ebenfalls bekannt, doch dieser war trotz seiner noch nicht vollständigen Aduleszens von schier unerreichbarer Größe. Dieser hingegen hatte einen ähnlich großen Körper, obschon er weitaus indipendenter wirkte, als der junge Gracchus sich jemals gefühlt hatte.


    Ohne auf die folgende Frage einzugehen, streckte er endlich sogar seine Hand aus. Zwar hegte auch er eine gewisse Passion für die Früchte im Garten der Villa, doch fürchtete er die Gärtner-Sklaven, die mit Argusaugen über sie zu wachen schienen. Obschon es auch im Bereich des Möglichen lag, dass sie nun auftauchten, wirkte es wundersamerweise sicher auf Manius Minor, sie als Geschenk aus der Hand eines Fremden zu nehmen.

    Als der Knabe soeben das Maul des Krokodils begutachtete, das jedoch ebenfalls nicht den Anschein erweckte, sich jemals geöffnet zu haben, erklang plötzlich erneut eine Stimme, die mit jener des Krokodils nicht inkongruent war. Erneut fuhr Manius Minor vor Furcht zusammen, doch die Worte, die die Stimme formte, schienen die mysteriösen Begebenheiten aufzulösen, denn eindeutig rührten sie nicht von dem Tier im Grase. Doch war dies eine Falle? War möglicherweise nicht sein kleines Krokodil, sondern ein furchteinflößendes Geschöpf auf dem Baum der wahre Feind, der nach seinem jugendlichen Fleisch gierte?


    Nach kurzer Kogitation kam er jedoch zu dem Schluss, dass es ihm in keinem Falle zum Schaden gereichen konnte, einen vorsichtigen Blick zu riskieren. Sowohl die Geräusche, als auch Blätter, die von dem Baum über ihm rieselten, deuteten darauf hin, dass der Auctor jenes Juxes direkt über ihm zu finden war. Doch obschon sein Blick angestrengt auf die Krone gerichtet war, konnte er nur dichtes Laub erblicken.
    "Nein, wo bist du?"
    rief er mit verängstiger Stimme, den Kopf in den Nacken gelegt, während er weiterhin den Baum absuchte, als er plötzlich glaubte, ein Bein zu erkennen. Es entsprach der Erfahrung des Knaben, dass ein solches Körperteil in erster Linie mit einem Knaben zu asoziierten war. Zwar verschaffte dies anfangs Erleichterung, doch kamen unmittelbar erneute Ängste auf: Würde der Junge ihn an schierer Kraft und Körpergröße überragen, wodurch es jenem ein Leichtes wäre, den kleinen Flavius zu attackieren? Würde er ihm sein geliebtes Krokodil rauben? Mit weiterhin hörbar ängstlichem Unterton fragte er daher weiter.
    "Wer bist du?"
    Auf das Angebot der Früchte konnte er jedoch vorerst nicht eingehen, vielmehr verhinderte seine Angst gar, es wahrhaftig zu registrieren.