Die Darstellung einer Göttin zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, ohne dass sie sich dieser Tatsache bewusst gewesen wäre. Sie war in grazilen Linien gearbeitet. Das Kleid fiel sanft, gerade so, als habe es ein fürsorglicher Sklave gerade erst so hindrappiert, dass es seine vollkommene Wirkung entfalten konnte. Der Künstler musste hora um hora gesessen haben, den Körper aus einem massiven Stück Marmor heraus zu meißeln. Der Schweiß seiner Leidenschaft war förmlich riechbar. Leidenschaftlich, das war auch das letzte Gespräch mit der Decima gewesen. Die Aurelia konnte nicht leugnen, dass ab einem gewissen Punkt mehr ihre subjektiven Wünsche gesprochen hatten, nämlich als Frau mehr Einfluss auf die Geschehnisse der Geschichte zu haben, als ihre ihr Grenzen zuweisende Vernunft. Sie war weit über den Rahmen des üblichen hinausgegangen. Hatte sich weit vorgelehnt. So weit, dass es ihr im Endeffekt unschicklich erschienen war und sie sich gezwungen gesehen hatte, sich zu entschuldigen. Viel war seitdem geschehen. Ein wenig mulmig war ihr gewesen, als sie sich auf den Weg gemacht hatte, hatte sie immer noch das Gefühl, dass irgendetwas zwischen ihnen stand. Dennoch hatte sie sich gleichsam gefreut. Die Decima schien ihr ein Mensch von Tiefe. Und diese Menschen hatten sie schon immer angezogen. In gewisser Weise hatte sie sogar den Eindruck, dass sie sich glichen. Allerdings auf eine ganz andere Weise, als mit Flora.
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Narcissa, die stets der Meinung gewesen war, dass Vollkommenheit eher ein Ideal als ein Zustand war, fand sich in eingehender, gedankenloser Musterung einer BÜGELFALTE wieder, als eine bekannte Stimme die Ruhe durchschnitt und Decima Seiana das tablinum betrat. Sie erhob sich aus Höflichkeit, während die ältere Frau auf sie zu strebte und lächelte ihr eine Begrüßung zu. „Salve Decima! Herzlichen Dank für deine Einladung!“, Der kleine Sklavenjunge hatte sie bereits gut versorgt und mit Wasser ausgestattet. Eigentlich hatte sie keinen großen Hunger und eigentlich hätte sie das Angebot der Decima nun aus reiner Höflichkeit angenommen, doch weil sie an die Ehrlichkeit ihres letzten Gespräches anknüpfen wollte, zog sie es vor, in diplomatischer Weise dort anzuknüpfen. „Im Moment nicht, aber vielleicht später…“, Ganz anders verhielt es sich mit der Sklavin. Narcissa war kein Unmensch, in vielerlei Hinsicht war sie sogar eine ganz unkonventionelle Sklavenbesitzerin. „Du kannst dich gern zurückziehen…“, sprach sie das Mädchen auf Seianas Vorschlag hin an. Sie nickte schweigsam, sammelte Nadeln und Wolle auf und machte sich von dannen, einem zweiten Sklaven nach draußen zu folgen. Die beiden Frauen setzten sich unterdessen, justierten sich einen gemütlichen Sitz. Narcissa fühlte sich überraschend fremd. Mit der Absicht, eine Verbindung zu ihrer letzten Begegnung herzustellen, fragte sie: „Wie erging es dir denn in den letzten Zeit?“