Nein, ihrer Schwester konnte sie nichts vormachen. Es gab kaum etwas, dass sie ihr nicht anvertraut hätte - und selbst dann, wenn sie es nicht aussprach, schien Flora stets instinktiv zu spüren, was in ihr vorging. Sie war sich nicht einmal sicher, weine Schandtat vor ihr verbergen zu können. Das unsichtbare Band, dass sie beiden seit Beginn ihrer Existenz verband, war allzu stark. "Ja, du hast Recht", gestand sie ihr zu. "Vollkommen Recht..aber so ein bisschen stöbern, hmm?", Sie deutete dieses "bisschen" mit den Fingern an und kniff ein Auge zu, als würde sie den Abstand, den sie mit Daumen und Zeigefinger andeutete abmessen. "Du weißt doch, Flora, beschriebene Seite brauche ich zum Leben wie die Luft zum Atmen...",
Narcissa beobachte ihre Schwester noch einen Augenblick lächelnd, als die sich daran machte, ihren Kleiderschrank zu durchwühlen, der vor feinen Togen, Tuniken und Pala förmlich überquoll, dann wandte sie sich dem Fenster zu und blickte hinaus auf einen Teil des hortus, dem sich die Mauer der Villa anschloss und schließlich unzählige Häuserdächer, sodass es aussah, als blickte sie auf eine unendliche Terrasse hinab, die sich dem Stadtzentrum sprunghaft annäherte. Ein Außerstehender würde wohl nun annehmen, dass Flora nichts anderes als Kleidung im Sinn hatte, was aber absolut nicht stimmte. Das war nur eine ihrer Seiten. Sie mochte eben schöne Stoffe. Manchmal entwarf sie auch selbst Muster und Schnitte - natürlich heimlich. Andererseits waren sie beide gemeinsam auch schon bis zu den Waden im Schlamm gestanden, wenn ein plötzlicher Regenschauer sie bei einem ihrer Ausritte überrascht hatte. Da hatte sie dann nicht mehr so fein ausgesehen - und sich stattdessen herrlich über die Sauerei amüsiert (die Sklavinnen hatten die Matschspuren im Haus nicht so lustig gefunden und als Strafe hatte ihr Mutter angeordnet, sie mit kalten Wasser von oben bis unten abzuseifen...).
"Wieder das alte Lied, Lysandra?", entgegnete Narcissa wenig erfreut, über die Äußerung der Sklavin. "Ich dachte, wir hätten dieses Thema zur Genüge durchgekaut..." Sie drehte sich wieder um. Ihre Schwester saß auf einem Stuhl und erwiderte ihren Blick über den Spiegel, während Lysandra hinter ihr stand und ihre Locken zu einer kunstvollen Frisur steckte. Sie stand ihr gut. Dankbar lächelte sie Flora zu, als diese sie in Schutz nahm. Schon ihre Mutter hatte stets auf sie eingeredet doch einmal etwas Schminke aufzulegen, diese oder jene Frisur zu versuchen oder Schmuck anzulegen. Für gewöhnlich hatte sich Narcissa dagegen behaupten können. Lediglich wenn Feste oder Besuche angestanden hatten, hatte sie sich dazu durchgerungen. Aber hier war sie Zuhause, sollte sie Zuhause sein und so sah sie nicht, weshalb sie sich "herausputzen" sollte. Ihre Verwandten würden ihre Sympathie schließlich nicht davon abhängig machen, ob sie sich schminkte oder nicht - zumindest hoffte sie das. Leider konnte sie sich auch nicht damit herausreden zu sagen, dass sie Lysandras Händen nicht vertraute. Sie sah es ja an ihrer Schwester, die einfach umwerfend aussah! "Ich habe es deiner Mutter versprochen! Vor den Göttern musste ich dafür schwören!", sagte Lysandra jetzt, sich in den letzten Zügen von Floras Frisur befindend. "Das hättest du nicht tun sollen...", erwiderte Narcissa knapp. flora erhob sich vom Stuhl und trat ein Stück zur Seite, um sich im Spiegel zu betrachten. Die hochgesteckten Locken umschmeichelten ihr Gesicht. Bedrohlich kam Lysandra auf Narcissa zu. "So, du bist dran, Narcissa!", In ihren Ohren klang das wie eine Kriegserklärung. Sie wich einen Schritt zurück, doch die Sklavin war schon bei ihr und nahm ihre Hand. "Versuch es doch einmal, euer Bruder wird sich sicherlich freuen, zu sehen, dass ihr euch darum bemüht ihm Ehre zu machen - so machst du ihm jedenfalls keine!", Sie nahm eine von Narcissas Locken, die nach wie vor wild und ungezähmt um ihr Gesicht lagen, und hielt sie ihr vor die Nase. Sie versuchte sie wirklich mit allen Mitteln zu überreden. Die Erwähnung ihres Bruders war ein böses Foul, denn sie fühlte sich ihm natürlich verpflichtet - immerhin hatte er sie bei sich aufgenommen! Böse sah sie die Sklavin noch einen Moment an und gab dann schaufend kleinbei..."Aber nichts aufwändiges, ich warne dich - und bleib mir mit diesem Bleizeugs fern!" Nur widerwillig ließ sie sich zu dem Stuhl führen. Was man nicht alles tat! Kritisch beobachtete sie dann, wie Lysandra erst ihre Haare ausbürstete und sie dann schlicht hochsteckte - und nicht wie sie es schon einmal getan hatte, zu einem wahrhaftigen turm auftürmte. Schließlich war sie ganz zufrieden damit, verwehrte aber weiterhin Schminke. Nachdem Narcissa noch kurz in ihr Zimmer hinüber gehuscht war, um noch eine zart hellbgelbe Toga anzulegen, hatte sie schon fast ein Loch im Magen, vor lauter Hunger. "So, lass uns schnell etwas frühstücken", meinte sie geqäult zu ihrer Schwester, als sie zurückkam.