„Ihr Tutor?“ Dann hatte der Kerl doch ungefähr genauso viel zu sagen wie Piso bei ihr. Nigrina ging einfach mal davon aus, dass Prisca damit keiner Patria Potestas mehr unterstand, ansonsten hätte ihr Bruder das doch sicher erwähnt. Und wenn dem so war, dann… nun, natürlich würde sie nicht ihre komplette Familie vor den Kopf stoßen können, aber was sollte denn bitte die aurelische Familie dagegen haben, eine weitere Verbindung mit den Flaviern einzugehen? Sie waren die FLAVIER, bei allen Göttern! „Sicher kommst du irgendwie an ihm vorbei“, erklärte Nigrina kategorisch. Kam ja gar nicht in Frage, dass er hier so einfach aufgab. Während sie seine Umarmung erwiderte, überlegte sie, was sie tun könnten. Ihrem Vater zu schreiben war wohl keine so gute Idee, immerhin hatte der ja quasi gerade erst angefangen zu denken, Piso wäre wahrhaftig in der Lage auf eigenen Beinen zu stehen und seinen Weg zu gehen – da kam es wohl nicht so gut an, wenn er nun erfuhr, womit er sich bezüglich einer möglichen Vermählung herumschlagen musste. Und Nigrina war sich auch sicher, dass ihr Vater erst mal einen herzlichen Lachanfall bekommen würde, wenn er erfuhr, dass Piso verliebt war und deswegen unbedingt diesen aurelischen Wachhund irgendwie austricksen musste, weil er ganz offenbar nun mal Prisca wollte. Nigrina nahm an, sie müsste wohl noch froh darüber sein, dass Piso sich in eine Patrizierin verguckt hatte. Nein, ihren Vater ließ sie besser außen vor. Aber wozu hatte man einen Consul in der Familie. „Was ist mit Furianus, schon mal daran gedacht ihn einzuschalten?“
Immer noch in seiner Umarmung, ließ auch Nigrina ihre Arme, wo sie waren – wer wusste schon, was für einen Bonus ihr das einbrachte, und, ja, irgendwie gefiel es ihr auch, dass Piso sie so behandelte und so mit ihr sprach. Und dann gab er ihr auch noch einen Kuss. Ihr Bruder im Überschwang der Gefühle. Nigrina musste schon wieder schmunzeln, aber sie schaffte es, ein leichtes Lächeln daraus werden zu lassen, als Piso sie nun losließ und sie sich wieder ansahen. „Noch gar nichts“, antwortete sie ihm dann. „Wir wollten zunächst Begleiter organisieren, bevor wir uns auf einen Tag festlegen – aber nachdem das nun von meiner Seite aus geklärt ist, würde ich ihr eine Nachricht zukommen lassen. Wann würde es dir denn am besten passen? Dann kann ich ihr einen Vorschlag machen.“
Und dann sprach Piso wieder. Und sprach weiter. Und sprach weiter. Und Nigrinas Brauen rutschten mit jedem Wort ein Stückchen höher, die linke dabei stets ein wenig höher als die rechte. Sie traute ihren Ohren nicht so recht. Sie musste sich da einfach verhören. Das konnte doch unmöglich Pisos Ernst sein! Wegen einer… einer… einer lächerlichen VERLIEBTHEIT wagte er es ernsthaft, ERNSTHAFT in Betracht zu ziehen, IHRE Hochzeit aufs Spiel zu setzen? Es ging Nigrina dabei gar nicht darum, dass Piso sie quasi als Tauschobjekt zu nutzen gedachte. Nein, das fand sie in gewisser Hinsicht sogar normal. Aber bei allen Göttern, es ging hier nicht um die Tochter eines Consul oder gar des Kaisers! Ihr Vater war nicht mehr am Leben, sonst hätte sie keinen Tutor, und er war damit schon mal kein lebendiger Senator mehr! Und sie war eine Aurelia, keine Claudia beispielsweise! Und da wagte Piso es, auch nur darüber nachzudenken, sie, ihre Hochzeit, ihre künftige gesellschaftliche Stellung als Faustpfand zu verwenden? Nigrinas Augen begannen zu funkeln, als ihr klar wurde, dass ihr Bruder das sehr wohl so meinte, wie er es sagte. „Das ist nicht dein Ernst.“ Ihr Temperament begann zu brodeln. „Das KANNST du nicht ernst meinen! Hör mal, ich finde Prisca auch sympathisch – aber sie ist nicht die Tochter des Kaisers!“ Wer von ihnen war es denn, bei dem es egal war, in welchem Alter er letztlich verheiratet war und am besten schon soundsoviele Kinder, noch besser Söhne, geworfen hatte? Das war doch wohl bitte sie, von der das erwartet wurde, nicht er! „Natürlich werden wir ihnen nicht klein beigeben, wir sind Flavier, das tun wir nie, gegenüber niemandem! Aber du wirst nicht meine Zukunft aufs Spiel setzen, nur damit du Prisca kriegst, da wirst du dir was anderes einfallen lassen müssen!“