Beiträge von Lucius Duccius Ferox

    Seine Mutter nervte weiter, natürlich, aber immerhin: sie hielt sich dann doch zurück, so im Vergleich zu dem, was er sich sonst manchmal anhören durfte, wenn er sie besuchte. Es trudelten immer mehr Leute ein, das entgingen weder ihr noch ihm. Und sie schien es fast noch nervöser zu machen als ihm – Hadamar war zwar selbst zu unruhig, um wirklich viel Acht auf solche Anzeichen zu geben, aber das bemerkte er dann doch, und für einen Moment entlockte es ihm ein Grinsen. Prompt bekam er die Quittung dafür.
    „Was grinst du denn so?“ fragte sie ihn, immer noch mit diesem kleinen Vorwurf in der Stimme. „Machst du dich lustig über mich?“
    „Nein“, beeilte er sich zu versichern. Das konnte er gerade noch brauchen, dass sie heute wirklich sauer auf ihn wurde.


    Und dann ging es irgendwie schon los. Vorhin noch hatte er sich gefragt, wie lange es wohl dauern würde, und jetzt... jetzt ging es ihm plötzlich viel zu schnell. Thorger begann zu singen, und kaum hatte das Lied geendet, sprach er auch schon. Hadamar kam, als er gerufen wurde, viel zu schlaksig kam er sich dabei vor, und es wurde nicht besser durch das Wissen, dass aller Augen auf ihn gerichtet waren in diesem Moment. Bei allen Göttern, wie hielt der Gode so was nur immer aus? Wie machte Witjon das? Da musste es doch irgendeinen Trick geben... nur kannte Hadamar den nicht, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Bestes zu tun um niemanden merken zu lassen, wie wackelig sich keine Knie anfühlten.
    Ein Schritt, noch ein Schritt, noch ein paar, dann stand er vor dem Goden, und, oh, der Kerl musste ihn nun natürlich umdrehen, damit er auch ja schön all die Leute sah, die ihn anstarrten. Na super.
    „Eh. Hrm.“ Hadamar räusperte sich und sah die Menge an, was ganz eindeutig ein Fehler war, weil da... so viele... Leute waren. Nicht so viele, wenn man mitten darunter war, aber wenn man vor ihnen stand und sie ansehen musste? Reiß dich zusammen, dachte er, und genau das tat er dann auch. Blieb ihm ja nicht viel anderes übrig. „Witjon, Sohn des Evax“, nannte er den ersten Zeugen. „Thankred, Sohn des Nandrad.“ Und Vater des Nandrad, eines seiner Freunde. Und ganz nebenbei einer der erfolgreichsten Händler Mogontiacums inzwischen... als er jung war, war er von der anderen Seite des Rhenus hierher gekommen und hatte sich hochgearbeitet im Handel, wovon er nicht müde wurde seinen Kindern und deren Freunden zu erzählen. Und vor gar nicht allzu langer Zeit hatte er sich das Bürgerrecht für sich und seine Familie erkauft, was Nandrad den Weg eröffnete, von dem seine Mutter auch wollte dass er ihn ging: in die Verwaltung. „Und Hiltawin, Sohn des Rodnand.“ Von einer verbündeten Sippe, einer der besten Freunde seines Vaters, früher, bevor er nach Mogontiacums gekommen und in den Dienst der römischen Legion getreten war. Hiltawin hatte nie Anstalten gemacht, seinem Vater zu folgen, hatte nie versucht, auf römischem Gebiet Fuß zu fassen, aber Kontakt gehalten hatten sie dennoch, und auch als sein Vater gestorben war, war hatte Hiltawin weiterhin die Witwe und die Kinder seines Freundes besucht von Zeit zu Zeit, ihnen Geschichten erzählt von früher... die Erinnerung an ihren Vater lebendig erhalten.

    Jetzt konnte selbst Thore das Grinsen nicht mehr unterdrücken, als Sönke voll auf seinen Kommentar einstieg, ohne ein Anzeichen zu geben, dass er die Ironie begriffen hatte. Allerdings war es nicht er, sondern Nandrad, der antwortete: „Als ob die tatsächlich irgendwas machen würden… Nee, dein alter Herr ist doch sicher genug. Und wenn sie nicht vernünftig arbeiten, warum sagt dann keiner was?“


    Hadamar interessierte das Thema weniger, obwohl es vermutlich gerade ihn hätte interessieren sollen, standen die Tudicii doch in der Munt seiner Familie. Aber das war nichts, was ihn reizte, auf ihn hören würden sie eh nicht, und überhaupt war das Witjons Sache, fand er. Witjons und Hartwigs. Allerdings: über die Tudicii und ihre nichtvorhandene Leistung zu sprechen war ihm immer noch lieber als das, was nun kam. „Was heißt hier alle…“, begann er sich zu empören, aber Sönke sprudelte einfach weiter, so dass Hadamar nichts anderes übrig blieb, als ihm zuzuhören – ebenso wie die anderen drei, die sich zur Abwechslung mal zurückhielten, gespannt darauf wie es weiter ging. „Das…“, versuchte es Hadamar zwischendrin erneut, „Du… Sönke!“ Hoffnungslos. Der Kerl ließ ihn nicht zu Wort kommen, und je weiter er sich ereiferte, desto mehr blieb Hadamar ohnehin die Spucke weg, und damit auch die Worte. Als Sönke bei dem Punkt angekommen war, dass die Legion ein Platz der Würde war, für große Taten und blablabla und damit eindeutig, EINDEUTIG, nichts für Hadamar – jedenfalls war es das, was er heraushörte –, verschlug es ihm endgültig die Sprache. Lange genug, dass Sönke ihm noch eins reinwürgen konnte.


    Bereits genervt von den bisherigen Frotzeleien, generell empfindlich was Kommentare zu seiner Zukunftsplanung anging und angestachelt von Alkohol, hielt es auch ihn nicht mehr auf dem Boden. Mit einem Ruck sprang er auf und verpasste Sönke einen Stoß vor die Brust mit den Handballen, während es zugleich wütend aus ihm herausplatzte: „Du hast doch keine Ahnung!“

    Hadamar schwamm ein paar Runden, versuchte die Wut so loszuwerden, und als er sich ein wenig ruhiger fühlte, sah er sich nach Runa um. Es hätte ihn nicht überrascht, wenn sie gegangen wäre – aber sie war noch da, saß auf einem der Felsbrocken, die am diesseitigen Ufer sowohl an Land als auch im Wasser verstreut waren, einem von jenen, die am weitesten im See waren, und ließ ihre Füße ins Nass baumeln. Was das Schwimmen nicht wirklich zustande gebracht hatte, bewirkte dieser Anblick: seine Wut verrauchte, oder besser: sie verwandelte sich, denn an ihrer Stelle regte sich etwas anderes. Hadamar zögerte noch einen Moment, genoss die Sicht, die sich ihm bot, dann warf er sich nach vorne und schwamm zu ihr. Die letzte Strecke legte er tauchend zurück, bevor er direkt bei ihren Beinen prustend aus dem Wasser wieder auftauchte. Er stemmte sich ein wenig nach oben und legte seine Unterarme überkreuzt auf ihre Knie, mit seinen Beinen leicht Wasser tretend. Während er die Innenhaut ihrer Oberschenkel zu küssen begann, murmelte er: „Tut mir leid.“
    Er spürte ihre Hand in seinem Haar. „Schon in Ordnung“, hörte er sie antworten, und er dachte schon, damit wäre die Sache gegessen. Aber dann fügte sie doch noch etwas an, und diesmal unterbrach er, was er tat, ohne allerdings hochzusehen. „Wenn du wirklich zur Legio willst, dann geh. Du solltest nur nicht immer nur jammern, wie schlimm doch alles ist, sondern dich für was entscheiden. Sonst tun das andere für dich, und dann kannst du gleich ganz in dem Jammertal versinken, wo du grad so gern bist.“
    Hadamar wusste nicht so recht, was er darauf nun sagen sollte. Zugeben, dass seine Misere zu einem großen Teil, wenn nicht sogar komplett, an ihm selbst lag, konnte er nicht, obwohl ihm das tief in sich drin bewusst war, dass sie recht hatte damit. Streiten wollte er auch nicht, nicht schon wieder, und schon gar nicht mit Runa. Dazu kam, dass sie weder schnippisch noch beleidigt noch besserwisserisch klang, sondern einfach nur sachlich.
    Also machte er das einzige andere, was ihm einfiel – er sagte einfach gar nichts, sondern zog sie zu sich ins Wasser und fiel hungrig über sie her.

    Eine Weile herrschte wieder einvernehmliches Schweigen. Hadamar hatte den Arm um Runa gelegt, strich mit den Fingern über ihre zarte Haut und spielte mit dem Gedanken, die Gelegenheit jetzt zu nutzen, als sie das Schweigen brach. „Was ist mit dir?“
    Hadamar wusste, was sie meinte, und diesmal war es an ihm, das Gesicht zu verziehen. Seinen Sax hatte er erst vor kurzem erhalten, aber irgendwie… hatte sich seitdem nicht wirklich was geändert. Nicht an seiner Einstellung und nicht an seinen Möglichkeiten. Und er hatte keine Lust auf dieses leidige Thema. Seine Mutter brauchte ihn nur anzusehen, ohne einen Ton zu sagen, und er würde sich am liebsten umdrehen und abhauen. Aber Runa machte ihm immerhin keine Vorwürfe, oder stellte irgendwelche Ansprüche oder Erwartungen an ihn. „Keine Ahnung“, brummte er. „Ist immer noch alles gleich bescheuert. Vielleicht geh ich echt zur Legio.“ Er hatte ihr davon erzählt, von dem Abend am Rhein mit Thore, Sönke und den anderen. Und als er ihr davon erzählt hatte, hatte sie hervorragend reagiert, hatte sich mit ihm über die anderen aufgeregt und ihn dann zum Lachen gebracht. Jetzt allerdings…
    „Mh… Meinst du das ernst?“
    Hadamar hörte den Zweifel in ihrer Stimme, und mit gerunzelter Stirn sah er sie an. „Warum nicht?“ stellte er eine Gegenfrage, ohne die ihre wirklich zu beantworten.
    „Na ja…“ Jetzt klang Runa so, als ob sie sich auf vorsichtig auf hauchdünnem Eis bewegte. „Meinst du denn, die Legion wär wirklich was für dich?“
    „Meinst DU denn, die Verwaltung wär was für mich?“ schoss er zurück.
    „Das wollte ich nicht sagen, ich wollte nur-“
    „Das ist doch jetzt nicht wahr, oder?“ Hadamar löste sich von ihr, setzte sich auf und starrte sie ärgerlich an. „Du denkst auch, dass ich für die Legio ungeeignet bin?“
    Der Blick, den Runa ihm zuwarf, schwankte zwischen Verwirrung, Verständnis und aufkeimendem Ärger. „Nein, aber-“
    „Natürlich tust du das!“ unterbrach Hadamar sie heftig ein weiteres Mal, und diesmal sprang er wütend auf. „Genau wie jeder andere! Hadamar der Nichtsnutz, wie?“
    „Darf ich vielleicht auch mal ausreden?“ entgegnete sie, die ebenfalls aufgesprungen war – nicht ganz so heftig wie er, aber auch nicht mehr ruhig. „Das wollte ich gar nicht sagen. Aber ich kann mir dich halt schwer bei der Legio vorstellen! Du bist nicht unbedingt ein begeisterter Anhänger von anstrengender Arbeit, und was glaubst du wird dich da bei der Legio erwarten? Dass sie mit Stroh nach dir werfen?“
    „Oh bitte!“ ranzte er zurück. „Das ist doch was völlig anderes, ob du bei der Legio bist oder daheim schuften musst!“
    „Ach, ist es das? Warum? Weil du bei der Legio ein Niemand bist, während du in Mogontiacum mit deiner Familie im Rücken alles erreichen könntest?“
    Dass ausgerechnet Runa nun ins selbe Horn stieß wie Sönke, wie seine Mutter, wie gefühlt jeder andere um ihn herum, versetzte Hadamars Wut noch mal neue Nahrung. Was hatten die nur alle damit, dass ihm angeblich alles offen stünde? Das stimmte überhaupt nicht! Wenn ihm alles offen stünde, wäre es doch kein Problem, wenn er zur Legio ging – oder einfach nichts machte, wenn er keine Lust auf irgendwas hatte, aber nein, das Gegenteil war der Fall, alle wollten, dass er sich als wahrer Sohn Wolfriks erwies, der seinem Namen und seiner Familie Ehre machte und irgendwas Großes leistete. Er wollte das alles gar nicht! „Ich KANN nicht alles erreichen, ich MUSS alles erreichen! Du hast ja keine Ahnung, was die alle für eine Erwartungshaltung an mich haben! Oder halt, vielleicht doch, sogar du denkst ja offenbar so! Und gleichzeitig hält mich jeder für absolut ungeeignet – für die Legio, für die Freya, für ein bisschen mehr Eigenständigkeit oder Verantwortung oder sonst was, und ja, auch für die Verwaltung, so schlecht wie ich im Unterricht bin!“ Hadamar hatte sich regelrecht in Rage geredet, und als er fertig war, wandte er sich abrupt ab. Er hatte keine Lust, weiter darüber zu streiten, hatte keine Lust, sich überhaupt weiter darüber Gedanken zu machen, weil es ihn ja doch nur fertig machte. Mit langen Schritten legte er die kurze Strecke zum See zurück und warf sich kopfüber ins Wasser, wo er zunächst untertauchte und dann ein paar Züge machte. Ruhe. Einfach nur Ruhe. Das war alles, was er wollte. Warum konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Seine Mutter allen voran. Sie wollte unbedingt, dass er endlich etwas machte, sich entschied, sie fragte und drängte ihn, und die anderen Erwachsenen sahen ihn wenigstens komisch an, jedenfalls kam ihm das so vor. Und er konnte mit keinem reden, glaubte er. Mit wem auch? Von seinen Freunden war Sönke der einzige, mit dem er so etwas angeschnitten hätte, aber genau bei diesem Thema drehte der ja jedes Mal am Rad, weil ihm, Hadamar, angeblich die Welt zu Füßen lag, und es ganz allein seine Schuld war, wenn er nichts daraus machte. Und Runa dachte scheinbar genauso, wie er gerade eben bitter hatte feststellen müssen. Und sonst? Seine Mutter? Pustekuchen. Die war ja noch schlimmer als alle anderen. Zumal es für sie keine Alternativen gab. Sie wollte ihn am liebsten in der Verwaltung sehen, mit einer ruhigen, sicheren Arbeit, bei der er stetig die Karriereleiter weiter nach oben klettern konnte. Selbst wenn die Legio als Option in Frage käme, dürfte er das ihr gegenüber nicht erwähnen. Seine Mutter würde ausrasten. Nachdem sein Vater im Dienst der römischen Legion gefallen war, war sie auf dieses Thema gar nicht gut zu sprechen, und sie hatte ihr Möglichstes getan um zu verhindern, dass einer ihrer Söhne sich in den Kopf setzte, dem Vater in dieser Hinsicht nachzufolgen.

    Schweigen. Mit so einer Ankündigung hatte Hadamar nicht wirklich gerechnet. Entsprechend war das erste, was er nach einer gefühlten Ewigkeit herausbrachte, nur ein etwas verdutztes: „Oh.“
    Runa gab einen Laut von sich, der sowohl ein Lachen wie auch ein Schnauben hätte sein können. „Ja. Oh.“
    „Uhm.“ Hadamar wusste immer noch nicht so recht, was er darauf sagen sollte. Es war ja nun nicht so, dass das völlig unerwartet kam. Mädchen wurden verheiratet, und Runa war im besten Alter dafür. Trotzdem hatte Hadamar keinen Gedanken daran verschwendet bisher, nicht wirklich. „Warum so plötzlich?“
    „Ich glaub er ahnt was. Oder besser meine Mutter, und sie hat ein bisschen Dampf gemacht, dass er mich unter die Haube bringen soll. Die haben keine Ahnung, mit wem ich mich treff, aber dass es jemanden gibt… wohl schon“, fügte sie noch an.
    Hadamar deutete ein Achselzucken an. Selbst wenn rauskam, dass er derjenige welche war, schätzte er die Konsequenzen, die er zu befürchten hatte, nicht so tragisch ein. „Steht schon alles fest, oder hat dein Vater jetzt erst mal vor, jemanden zu finden?“
    „Er hat jemanden. Irgendein Händlersohn aus Mogontiacum. Aber Witjons Einverständnis steht noch aus, den wollte er fragen, sobald er ihn sieht, um danach dann alles festzumachen.“
    „Ich könnt mit Witjon reden. Wenn du willst.“ Hadamar vermied es bewusst miteinzubauen, ob er Witjon positiv oder negativ zu beeinflussen versuchen sollte – versuchen, weil er das ganz und gar nicht für gesichert hielt, dass das Sippenoberhaupt einen Pfifferling auf seine Meinung geben würde. Und erst recht machte er keine Andeutung darüber, was er darüber dachte. Er hatte keine Lust, sich die Finger zu verbrennen, indem er jetzt vorschnell war und irgendetwas sagte, was ihr dann nicht in den Kram passte, weil sie etwas anderes erwartet hätte. Runa war zwar in aller Regel unkompliziert, aber das hier… war dann vielleicht doch noch mal was anderes. Frau bekam schließlich nicht jeden Tag die Info, dass sie verheiratet werden sollte. Oder gab besagte Info an ihren aktuellen Liebhaber weiter. Nein, sollte sie doch erst mal selbst sagen, was sie davon hielt, bevor er das kommentierte.
    Und davon abgesehen war er selbst noch ziemlich unschlüssig, was er nun davon halten sollte. Wenn Runa nicht heiraten dürfte, wäre das natürlich großartig, dann hätten sie beide auch noch weiterhin Zeit füreinander, vorerst jedenfalls. Andererseits musste Runa irgendwann heiraten, das wusste er so gut wie sie, und irgendwann würde so oder so nicht mehr in allzu ferner Zukunft sein. Und er mochte sie. Was bedeutete, dass er nicht ganz so egoistisch war und nur an sich dachte, sondern auch an sie. Und ein Händlersohn aus Mogontiacum als Ehemann, das klang nicht schlecht.
    „Mmh. Ich weiß nicht.“ Diesmal seufzte sie. „Ich will jetzt eigentlich noch nicht heiraten. Andererseits… die Verbindung ist nicht schlecht. Im Gegenteil, sie ist sogar fast besser, als ich hätte hoffen können.“ Sie kaute auf ihrer Unterlippe. „Lass mal. Soll Witjon das entscheiden, das wird schon passen dann.“
    „In Ordnung“, antwortete Hadamar und neigte sich dann leicht über sie, um sie zu küssen, bevor er sich – diesmal sie näher an sich ziehend – wieder ins Gras zurücksinken ließ und in das Astgeflecht über sich und die Himmelsflecken dazwischen starrte.

    Er fühlte sich so heiß, dass es ihn nicht gewundert hätte zu sehen, dass sein Körper dampfte. Es war später Nachmittag, der ganze Tag war schon nahezu unerträglich heiß gewesen, und noch immer knallte die Sonne vom Himmel. Und am Ufer des Sees, der irgendwo in dem Wald auf den duccischen Ländereien war, lagen Hadamar und Runa nackt nebeneinander im Gras. Die Nässe vom Schwimmen war schon längst wieder getrocknet, der Schweiß, der von einer anderen Art der horizontalen Ertüchtigung stammte, war gerade erst dabei. Hadamar drehte leicht den Kopf und blinzelte zu Runa hinüber, die mit geschlossenen Augen lang gestreckt da lag und die Sonne genoss, die gesprenkelt durch die Blätter des Astwerks über ihnen fiel. Ihren vom Licht- und Schattenspiel gefleckten Körper präsentierte sie dabei auf eine Art, die ihn im Bruchteil eines Augenblicks den Entschluss fassen ließ, sich noch mal eingehender damit zu beschäftigen, bevor sie wieder zurück mussten. Für den Augenblick allerdings hätte er sie gern einfach nur an sich gezogen und ihren Körper an seinem gespürt, aber dafür war ihm gerade einfach zu heiß.


    Eine Weile lagen sie einfach schweigend nebeneinander. Das war das Hervorragende an Runa. Kein überflüssiges Geschwätz, jedenfalls nicht in Momenten wie diesen.
    „Wann musst du wieder zurück sein?“
    Runa zuckte nur die Achseln. „Keine Ahnung.“ So unbefriedigend die Antwort eigentlich war, fragte Hadamar dennoch nicht weiter nach. Ein bisschen fühlte er sich verantwortlich dafür, dass sie nicht allzu großen Ärger bekam – nicht nur weil sie ein Mädchen war, sondern auch, weil er es da wohl etwas leichter hatte als sie, sich loszueisen. Aber grundsätzlich herrschte zwischen ihnen eine stillschweigende Übereinkunft, dass jeder von ihnen selbst zusah, wie er daheim dann zurecht kam. Und auch wenn Hadamar ab und zu versuchte, diesem vagen Gefühl von Verantwortung nachzukommen – ohne allerdings wirklich zu wissen, was genau er da eigentlich tun könnte, um ihr vielleicht zu helfen –, blieb es letztlich dabei, dass alles, was sie nach ihren Treffen erwartete, den anderen nur am Rande etwas anging.
    Dann allerdings fügte Runa noch etwas an, das ihn ein wenig aufhorchen ließ: „Ich hab nicht gefragt.“
    Hadamar sah erneut zu ihr. „Nicht gefragt?“ Das war ungewöhnlich, das wusste auch Hadamar. Er machte sich nicht immer die Mühe, sich eine Ausrede auszudenken, und verschwand öfter mal einfach so, wenn er Lust hatte – den Ärger billigend in Kauf nehmend, der ihn bei der Rückkehr erwartete. Aber bei Runa war das anders. Erstens war Runa anders, zweitens war sie ein Mädchen, drittens war sie von niedrigerem Stand und viertens lebte sie nicht in einem großen Haus mitten in Mogontiacum mit weitläufigen Stallungen, wo Fehlen ohne vorher platzierte Ausrede nicht so schnell auffiel. „Wieso?“
    Sie zuckte nur erneut die Achseln. „Keine Lust?“ Weil er sie immer noch ansah, bemerkte er wie sie eine Grimasse schnitt, und nach einem Augenblick des Schweigens fügte sie an: „Ich hab mir gedacht, ich nehm mir ein paar Freiheiten raus, solang ich das noch kann.“ Hadamar lag schon auf der Zunge zu fragen, was los war, aber diesmal beherrschte er sich. Eines der Dinge, die er bei Runa gelernt hatte war, dass sie nach solchen Andeutungen in der Regel ohnehin mit dem rausrückte, was sie sagen wollte. Warum sie erst drum herum redete – ob sie es spannend machen wollte, ob sie gefragt werden wollte, was auch immer –, das hatte er noch nicht herausbekommen. Allerdings interessierte ihn das auch weniger. Nachdem ihm einmal klar geworden war, dass er in solchen Fällen nur als Stichwortgeber fungierte, hatte er beschlossen damit aufzuhören – und es funktionierte, das hieß, wenn er denn daran dachte die Klappe zu halten.
    So auch jetzt. Es gab wieder eine kurze Pause, dann rückte Runa mit dem raus, was sie sagen wollte: „Ich soll heiraten.“

    Hadamar hatte ja geglaubt, dass es nicht schlimmer hätte kommen können in diesem Moment. Von seinen Freunden veräppelt, weil er verweichlichtes Zeug wie Lernen machen musste, nicht wirklich fähig zu kontern, weil er ja selbst nicht so recht wusste, was er mit sich anfangen sollte, hatte er gehofft, dass wenigstens Sönke zu ihm halten würde.


    Pustekuchen, wie sich herausstellte. Zuerst reagierte Sönke – wie immer eigentlich, wenn er darauf angesprochen wurde, dass er sich noch nicht bei der Legion gemeldet hatte – empfindlich und lieferte Gründe, was Nandrad und Reik dazu veranlasste, sich breit zuzugrinsen, während Thore in scheinbar tiefstem Ernst kommentierte: „Natürlich. Weil die Tudicii natürlich nach all den Jahren immer noch nicht gelernt haben, was man so als Bauer können muss...“ Dass Sönke das nicht gefiel, konnte Hadamar sich vorstellen. Ihm hätte das auch nicht gefallen, und mehr noch, Sönke hatte ja ziemlich handgreiflich gezeigt, was er davon hielt – weswegen Thore auch der einzige war, der mehr tat als nur grinsen, sondern sich traute auch tatsächlich etwas zu sagen. Thore konnte es egal sein, wenn Sönke – oder sonst wer – das Bedürfnis verspürte, sich auf ihn zu stürzen, weil er den meisten ohnehin überlegen war, auch wenn Hadamar ihm zugute halten musste, dass er das kaum heraushängen ließ.


    Jedenfalls, Hadamar konnte Sönke verstehen. Ihm ging das ja genauso, ihn nervte es auch, wenn irgendwer sich über ihn lustig machte, weil er halt... sich mehr von anderen treiben ließ als selbst zu entscheiden, was er tun wollte. Deswegen hatte er ja gehofft, dass Sönke da zu ihm halten würde – der wusste ja immerhin wenigstens, was er wollte! Im Gegensatz zu Hadamar, der nur wusste, was er alles ziemlich sicher nicht wollte. Dann allerdings kam die Sprache auf Hadamar und die Legion, und Sönke bekam das in den völlig falschen Hals. Hadamar begegnete dem anklagenden Blick, zuerst verständnislos, dann zunehmend ärgerlich. Was sollte das denn jetzt bitte? Er hatte doch gesagt, er wollte das nicht, nur dass er es könnte, wenn er wollte, und überhaupt: glaubte Sönke etwa auch, dass Hadamar dazu unfähig war? Warum sonst sollte er denn jetzt so reagieren, warum sonst sollte dieses ungläubige Du?, und das Warum solltest du das wollen? kommen? Je mehr Hadamar die Worte in seinem Kopf drehte, desto sicherer wurde er, dass er da das Gleiche heraushörte wie auch schon bei Thore und den anderen: Was, du, Hadamar, willst zur Legion? Was willst du da? Du schaffst das doch nie, du bist dafür völlig ungeeignet, überlass das lieber denen, die besser sind als du, und bleib bei dem, was du kannst. In anderen Worten: nichts. Weil er nichts so richtig konnte. Da spielte es in diesem Moment gar keine Rolle mehr, dass er auch zur Legion nicht wirklich wollte – es ging darum, dass ihm irgendwie jeder absprechen wollte, dass er dazu in der Lage wäre, oder eben in der Lage sonst etwas Vernünftiges zu tun, zu lernen, und Hadamar sah nicht ein, das auf sich sitzen zu lassen. „Warum sollte ich nicht?“ fragte er trotzig zurück, während – von ihm unbeachtet – Reik und Nandrad nun gespannt dreinsahen, und sogar Thore seine gespielt ernste Miene aufgab und erwartungsvoll zu grinsen begann. „So schwierig kann das doch gar nicht sein, bei der Legion anzufangen!“

    Hadamar war… aufgeregt. So sehr ihm das auch widerstrebte – und so sehr er sich bemühte, sich das nicht anmerken zu lassen, sondern ganz im Gegenteil abgeklärt und abgebrüht zu wirken –, es gab kein anderes Wort um zu beschreiben, was in ihm vorging. Schon gar nichts, was das so gut in einem einzigen Wort zusammenfasste, das Flattern in seinem Magen, das Prickeln unter seiner Haut, das Matschige in seinen Knien. Nicht dass das die ganze Zeit und dauerhaft so war, aber immer mal wieder meldete sich eines oder auch zwei dieser Anzeichen…
    Ja, er war aufgeregt. Und es ärgerte ihn maßlos. Er war der Jüngste unter seinen Freunden, die hatten ihre Mannwerdung alle schon hinter sich – zugleich war er der Älteste seiner Geschwister. Und ein bisschen kam er sich dabei nun so vor, als hätte er alle Nachteile davon, aber nicht die Vorteile: er war als erster seiner Geschwister dran und hätte als solcher vielleicht irgendeinen Bonus, was Aufregung oder mögliche Blamagen seinerseits betraf, aber da seine Freunde alle älter waren, konnte er nichts von dem, was schief gehen könnte, darauf schieben. Er war als letzter seiner Freunde dran und hätte als solcher vielleicht den Vorteil genießen können, dass da nun niemand mehr so genau darauf achtete, aber weil seine Geschwister alle jünger waren, würden sowohl sie als auch seine Mutter mit Adleraugen zusehen, weil, nun ja, er war halt der Älteste, und sie wollten stolz auf ihn sein. Und Hadamar wollte ja auch, dass sie stolz auf ihn sein konnten. Aber wenn er sich seine Freunde so ansah, gönnten die ihm eh keinen Bonus als Jüngstem in ihrer Runde, also war das vermutlich ohnehin egal. Nur den Bonus, den er als Ältester hätte haben können, um den fand er es ein wenig schade… denn heute würde er kaum seine Familie von seinen Freunden so trennen können, dass die Kleinen nichts von den Frotzeleien mitbekamen. Und seine Freunde nichts von seiner Mutter oder den anderen Erwachsenen, die sich irgendwie peinlich benehmen könnten. Und dann war da noch Runa, die auch da sein würde… Bei den Göttern, er hasste es so im Mittelpunkt zu stehen, da war die Gefahr doch viel zu groß, dass er am Ende das Gespött der Leute war. Und die Mannbarkeit war wichtig. Er war sich nicht so sicher, ob es da wirklich eine Möglichkeit gab, das zu versauen – wobei, irgendwie konnte man immer irgendwas versauen, so schwer war das nun auch nicht. Und falls es so eine Möglichkeit gab, würde er sie wohl finden. Er hoffte nur, dass er sie nicht auch nutzte, sondern sie im Gegenteil dann weiträumig umgehen konnte, wenn er sie fand.


    „…bisschen mehr anstrengen, Hadamar“, hörte er gerade seine Mutter sagen. Sie hatte offenbar noch viel mehr gesagt, aber Hadamar hatte nach Sönke Ausschau gehalten, dessen Gesellschaft er im Augenblick deutlich bevorzugen würde. Und bitte ohne Thore und die anderen, die konnten erst mal auf Abstand bleiben, aber das würde sich wohl kaum realisieren lassen. „Hörst du mir überhaupt zu?“
    „Mehr anstrengen“, wiederholte er ohne rechte Überzeugung und ohne seine Mutter überhaupt anzusehen, aber als er ihren Blick auf sich spürte – den Blick –, fand er es dann doch plötzlich angebrachter, zu ihr zu sehen. Und nach dem eigentlichen Sinn in ihren Worten zu suchen. „Also, ich mich. Ich könnte mich mehr anstrengen.“
    „Du solltest das nicht so leicht nehmen! Solche Möglichkeiten bekommen nicht viele, und du könntest damit viel erreichen…“ Sie begann an seiner Kleidung herumzuzupfen.
    „Nee komm, lass das bitte!“ Hadamar fing ihre Hände ein und drückte sie herunter. „Ich nehm das ernst. Ich… bemüh mich.“
    „Und das soll ich glauben?“ Natürlich musste sie mal wieder wissen, wenn er log. Warum noch mal hatte er zugelassen, dass sie mit Milacorix geredet hatte? Ah ja richtig, weil es keine Möglichkeit gegeben hatte, das zu verhindern. Aber immerhin versuchte sie nicht wieder, vor allen, die schon da waren, an ihm herumzuzupfen. Und wenigstens sprach sie auch leise, leise genug, dass niemand etwas hören konnte, der nicht gerade direkt in ihre Nähe kam. Obwohl, wer Hadamar kannte, konnte sich vermutlich denken, dass es bei diesem Mutter-Sohn-Gespräch nicht gerade darum ging, wie stolz sie doch auf ihn war. Bei diesem Gedanken hatte Hadamar wenigstens den Anstand, ein bisschen ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Seine Leistung im Unterricht war nicht die beste, das stimmte schon, aber es war einfach so schwierig, und so frustrierend, dass er schlechter war als seine jüngeren Verwandten. Dass die schon wesentlich länger Unterricht bekamen als er, zählte nicht wesentlich für ihn. Und für seine Mutter auch nicht, die gerne gesehen hätte, dass er wenigstens irgendwen überflügelte. „Wenn du dich anstrengst, könntest du sicher einen Posten in der Verwaltung bekommen. Hast du schon mit Witjon gesprochen, was für dich in Frage käme?“
    Wuuusch. Da war das schlechte Gewissen wieder davon gerauscht. Was hatte sie nur mit der Verwaltung? Warum sollte er den ganzen Tag… Verwaltungskram machen wollen? Hadamar verdrehte die Augen, verzichtete aber vorsichtshalber darauf laut auszusprechen, was genau er von der Verwaltung im Allgemeinen und von dem möglichen Beginn seinerseits in eben jener im Speziellen hielt. Da war doch schon mal gleich das erste Fettnäpfchen, das er umschiffen konnte. „Nein, noch nicht“, antwortete er wahrheitsgemäß, und ebenso wahrheitsgemäß fuhr er fort: „Dafür bin ich noch nicht gut genug, was den ganzen Lateinkram angeht.“ Eine Antwort, die seine Mutter zwar nicht begeisterte, aber von der sie wusste, dass sie stimmte – und die sie zumindest vorläufig davon abhalten würde, ihn weiter mit der Verwaltung zu traktieren. Er wusste zwar, dass er ihr irgendwann würde sagen müssen, dass er ganz sicher nicht vorhatte je in der Verwaltung anzufangen… aber irgendwann war ebenso ganz sicher nicht heute.

    „HADAMAR! Wenn du nicht SOFORT hier auftauchst und weiter machst, setzt es was! Und zwar nicht von mir, sondern von Elfleda!“ donnerte es durch den Stall.


    „Jjjaaaa, ich mach ja schon!“ brüllte der Angesprochene... Angebrüllte seinerseits zurück, bevor er sich zähneknirschend aus dem Haufen Stroh wälzte, in den er sich verkrochen hatte. Nicht allein, wohlgemerkt. Mit ihm zusammen war Runa. Dunkelblond, etwas jünger als er und biegsam wie eine Weidenrute. Ihre Familie, und damit auch sie, stand in der Munt der seinen, und arbeiteten auf den Landgütern vor der Stadt. Und bisher hatte sie nicht den Eindruck gemacht gehabt, sonderlich viel Interesse an ihm zu haben, aber seit er nun in der Casa wohnte, schien sich das… irgendwie geändert zu haben. Zuerst hatte Hadamar gar nicht gemerkt, dass sie ihm schöne Augen machte, aber irgendwann hatte der Zufall – oder Runa, das war auch möglich – es so gewollt, dass sie beide allein waren, und da war sie so deutlich geworden, dass noch nicht einmal er das hatte missverstehen können. Und seitdem landeten sie regelmäßig im Stroh – so regelmäßig wie es möglich war, hieß das, also dann, wenn Runa mit irgendetwas zur Casa geschickt wurde, was sie abliefern sollte. Und auch nur, wenn sie es so hinbiegen konnte, dass sie etwas Zeit hatte und es nicht auffallen würde, wenn sie später zurückkam, und natürlich, wenn er es hinbiegen konnte, dass er auch Zeit hatte – wobei letzteres nicht ganz so schwierig war. Er musste es nur irgendwie schaffen, sich vom Unterricht oder diversen Aufgaben davon zu schleichen; dass sein Fehlen im Nachhinein nicht auffiel, darauf legte er keinen gesonderten Wert.
    Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten diese Treffen noch wesentlich öfter stattfinden können, aber für den Moment war nichts anderes machbar, und er war schon zufrieden mit dem, was er bekam. Er war ja schon glücklich darüber, dass Runa sich überhaupt mit ihm abgab, etwas, das er bis vor kurzem nicht für möglich gehalten hätte – obwohl man sich erstaunlich schnell daran gewöhnen konnte, stellte er fest. So sehr daran gewöhnen in der Tat, dass er fast schon vergessen hatte, wie er sich davor gefühlt hatte in der Gegenwart vom anderen Geschlecht, jedenfalls denen, die in die Kategorie mögliche Zielgruppe fielen: hauptsächlich unbeholfen und scheinbar immer auf der Suche nach dem nächsten Fettnäpfchen. Mit Runa hatte all das nun ein Ende, denn jedenfalls für den Moment verlieh sie ihm ein völlig neuartiges Gefühl des Selbstbewusstseins.


    Was allerdings nichts daran änderte, dass er Pflichten hatte. Heute hatte er gerade im Stall gearbeitet, als sie aufgetaucht war und ihn mit sich auf den Heuboden gezerrt hatte, wo sie übereinander hergefallen waren. Letztlich war es ein Glück, dass es ihnen beiden gar nicht schnell genug hatte gehen können, denn es hatte auch nicht sonderlich lange gedauert, bis Leif seinen Kopf in den Stall gesteckt und gesehen hatte, dass Hadamar nicht, wie eigentlich aufgetragen, am Ausmisten war. Und natürlich hatte Leif nicht einfach warten können, bis Hadamar wieder auftauchte; er hatte auch nicht nur einfach nach ihm gerufen, was man hätte ignorieren können; er hatte Elfleda ins Spiel gebracht, und Hadamar konnte nur darum beten, dass er Elfleda nicht schon Bescheid gegeben hatte – oder noch Bescheid geben würde, wenn er nicht schnell genug auftauchte. Eile war deshalb geboten, wenn er noch eine Chance haben wollte, Leif so weit zu beschwichtigen, dass der duccische Hausdrachen keinen Wind davon bekam. Und er hoffte, dass er mit der Behauptung durchkam, er hätte im Stroh einfach nur ein wenig schlafen wollen – in erster Linie, um seine Treffen mit Runa nicht zu gefährden, denn ihr wurde sonst womöglich verboten, wieder zu kommen, wenn das rauskam; dass sie dann wohl noch mehr Ärger bekommen würde als er, war ihm zwar durchaus auch bewusst, aber das spielte nur eine untergeordnete Rolle in seinen Gedanken.
    „Bleib am besten noch hier“, wisperte Hadamar und drückte Runa einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, die ein Kichern nicht ganz unterdrücken konnte, bevor er nach seinen Klamotten angelte und sich hastig anzog. Im nächsten Moment turnte er die Leiter hinunter, die zum Heuboden führte. „Bin ja schon da“, warf er Leif ein wenig verdrießlich zu, bevor er sich die Mistgabel schnappte, die er vorher hatte fallen lassen, und mit dem Ausmisten begann.

    „Meiner“, kam von Nandrad, seines Zeichens Händlersohn, der hin und wieder – nicht immer mit dem Wissen oder gar der Erlaubnis seines Vaters – den ein oder anderen besseren Tropfen beisteuerte. Thore unterdessen wehrte den spielerischen Angriff mit einer Leichtigkeit ab, die Hadamar vor Augen führte, dass das Unentschieden gerade kein echtes gewesen war. Eigentlich hätte er sich das denken können, war Thore doch ein kleines Stück größer als er, und kräftiger. Und ein gutes Jahr älter. Trotzdem passte ihm das nicht. Halb empört, halb missmutig erdolchte er den anderen für einen Moment mit seinen Blicken, aber der beachtete ihn gar nicht, sondern grinste Sönke an. „Hadamar will beweisen, dass er deinen Traum leben kann, nachdem du dir Zeit damit lässt...“
    „Er will zur Legion“, feixte Reik.
    „Will ich nicht“, widersprach Hadamar, „aber ich könnte, wenn ich wollte!“
    Thore zog die Brauen hoch und taxierte ihn erneut kurz, und Hadamar stellte fest – nicht zum ersten Mal –, dass er die Art hasste, wie Thore das tat. „Ha, ha.“
    Hadamar dachte ganz kurz darüber nach, sich wieder auf ihn zu stürzen, aber erstens war ihm nach den ersten beiden Balgereien ein bisschen die Puste ausgegangen, und zweitens lag nun Sönke zwischen ihnen. Hadamar redete sich erfolgreich ein, dass es hauptsächlich letzteres war, was Thore rettete. Natürlich. Den Schmiedelehrling hätte er sonst mit links fertig gemacht, wenn er denn gewollt hätte... Im nächsten Moment hörte Hadamar damit auf, sich etwas vorzumachen, obwohl das wirklich wunderbar war und auch wunderbar klappte, schob das Thema Rache durch physische Gewalt für den Moment beiseite und schnappte sich von Sönke den Met, um selbst noch mal etwas zu trinken. Und sich bei der Gelegenheit hinter dem Krug zu verstecken, weil ihm auch nichts einfiel, was er verbal hätte kontern können.

    „Hu?“
    Die ohnehin nicht sonderlich adäquate Abwandlung der Frage Was hast du bitte gesagt? kam Hadamar mehr als Grunzen über die Lippen denn als vernünftiger Laut. Aber bitte, was sollte das Getue – er war hier nicht bei seiner Mutter, er war auch nicht bei Milacorix, er war unter Freunden. Nachdem Tavernenbesuche doch nicht ganz so günstig waren, jedenfalls für sie, trafen sie sich meistens so irgendwo, lümmelten sich mit mitgebrachtem Met an den Ufern des Rhenus oder an sonst einem Ort, wo sie darauf vertrauen konnten ungestört zu bleiben, und vertrieben sich so die Abende. Und da verstand man sich auch so. Ein Grunzen, im richtigen Augenblick, mit der richtigen Betonung, verstand eh jeder, da begriff er sowieso nicht ganz, warum man da dann bitteschön sich die Mühe machen sollte, das in einem ganzen Satz zu formulieren.


    Einziges Pech: der vermaledeite Unterricht war das Thema, auf das Thore gerade gekommen war. Hadamar wusste nicht wie, weil er seine Aufmerksamkeit exakt in diesem Moment sehr intensiv dem Schlauch Met gewidmet hatte, der gerade mal wieder auf seiner Wanderschaft zu ihm gekommen war und leider, leider schon bedenklich zur Neige ging, aber: irgendwie war er offenbar darauf gekommen.


    „Kleiner Schreiberling“, wiederholte Thore, der das Grunzen selbstredend richtig verstanden hatte und sich ebensowenig wie sonst einer der Anwesenden mit unnötigen Höflichkeiten aufhielt, mit einem leicht hämischen Grinsen, und verzichtete darauf, neben der Titulierung auch den Rest des Satzes zu wiederholen, der ohnehin nur als Vorlage für die Stichelei gedient hatte. Hadamar verzog das Gesicht. Dass er in der Casa Duccia nun seit geraumer Zeit Unterricht bekam, war konstanter Anlass zum Ärgernis. Ganz persönlich, weil es ihm gehörig gegen den Strich ging, und ganz allgemein, weil seine Freunde ihn deswegen aufzogen. Und das nicht mal zu Unrecht, fand er. Wo sie irgendwas Vernünftiges machen konnten, hatte er Unterricht. Dabei blendete er geschickt aus, dass das, was seine Freunde so Vernünftiges machen konnten, etwas war, was er bis zu seinem Einzug in die Casa Duccia kaum reizvoller gefunden hatte als jetzt den Unterricht: auf dem heimatlichen Hof schuften. Auch dass Thore mittlerweile bei einem Schmied in die Lehre ging, und Reik ebenso bald irgendwas anderes machen würde, wäre nun nichts, was Hadamar noch bis vor kurzem für sich in Erwägung gezogen hätte – er zog es im Grunde immer noch nicht in Erwägung, aber das hinderte ihn nicht daran, die Bequemlichkeit des Vorwands zu nutzen und sich einzureden, dass ihm das jetzt plötzlich doch recht verlockend erschien. Jedenfalls im Vergleich zu dem, was er zu tun hatte: in der Casa rum sitzen und lesen lernen und schreiben und irgendeinen anderen Kram, der angeblich nützlich war, aber auf Hel komm raus nicht in seinen Kopf hinein wollte. Hadamar war nicht dumm – aber er langweilte sich furchtbar in diesen Stunden, und er sah keinen Sinn darin. Jetzt, im Frühjahr, wo das Wetter so verlockend war, noch viel weniger.
    „Zeig mal deine Hände her, sind die schon weich und zart geworden von der Schreiberarbeit?“ feixte Nandrad und machte Anstalten, sich Hadamars Arme zu krallen, aber der schlug die Hände beiseite. „So’n Schwachsinn“, maulte er, und zumindest in Teilen stimmte das auch, denn nur weil er Unterricht hatte, hieß das nicht, dass er sonst von jeglichen Arbeiten befreit war. Ganz im Gegenteil. Wenn er in der Casa war, wurde er eigentlich immer von irgendwem herumgescheucht, ob das nun Albin, Marga oder Elfleda war, machte keinen großen Unterschied. Die anderen gaben auf den Widerspruch allerdings wenig. „Wahrscheinlich fängst du bald in der römischen Verwaltung an und lässt dich rumkommandieren wie ein Leibeigener“, stieß Reik ins gleiche Horn, während Nandrad einen neuen Versuch startete, sich Hadamars Hände anzusehen – den dieser wiederum abwehrte, was nun allerdings dazu führte, dass sich daraus ein paar Handgreiflichkeiten entwickelten.
    Thore grinste unterdessen nur, während die zwei sich kurz balgten, sorgte dann aber recht bald mit einem „Passt auf den Met auf, Jungs…“ für Ruhe, und fügte dann an: „Und haltet die Klappe. Hadamar in der Verwaltung, das ist doch absurd.“ Für einen winzigen Moment freute sich Hadamar fast darüber, dass Thore ihm beisprang. Fast. Immerhin kannte er Thore. Und nur für einen winzigen Moment. Denn dann begann sich auf dessen Gesicht ein genüssliches Grinsen auszubreiten, das Hadamar auch kannte, besser, als ihm lieb war. „Seine weichen Hände wird er doch viel besser in den Thermen der Römer als Masseur einsetzen…“ Und Widerspruch darauf war vergebliche Liebesmüh. Schon allein weil jedes weitere Wort erst mal in Gejohle und Gelächter unterging, das sich in Anfeuerungsrufe verwandelte, als Hadamar – der ohnehin nicht vorgehabt hatte, diese Beleidigung mit Worten zu kontern – sich nun auf Thore stürzte.


    Irgendwann später lagen sie, schwer atmend und auf dem Rücken, nebeneinander. „Nimm’s zurück.“
    „Vergiss es“, keuchte Thore.
    Hadamar hatte mit nichts anderem gerechnet, immerhin hatte es gerade keinen eindeutigen Sieger gegeben. Sich noch mal auf Thore zu stürzen war auch keine Option – keine Lust, keine Ausdauer, keine Aussicht auf ein anderes Ende. Trotzdem passte ihm das nicht. Hadamar raffte sich immerhin dazu auf, sich aufzusetzen und Thore einen missmutigen Blick zuzuwerfen. „Ich könnt zur Legion gehen, wenn ich wollte!“
    Für einen Augenblick verblüfft starrte Thore ihn an, bevor er sich nun auch aufsetzte, sich den Schlauch mit Met angelte und einen tiefen Zug nahm. Danach wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund, und danach erst schüttelte er den Kopf. „Du? Im Traum vielleicht.“
    Jetzt klappte Hadamars Mund auf, als Empörung über ihn schwappte. „Bitte was?“
    „Die Legion ist nichts für dich. Sönke, ja, der träumt ja schon seit ner halben Ewigkeit davon. Aber du…“
    „Natürlich ist die Legion was für mich!“
    Für einen Augenblick taxierte Thore ihn. Dann… war es wieder da, plötzlich, dieses genüssliche Grinsen. „Beweis es.“

    Missmutig starrte Hadamar auf die glatte Wasseroberfläche vor ihm. Wie lang war er jetzt hier? Drei Wochen, vier? Gefühlt sicher mehr. Und was hatte er hier zu tun? Schuften auf der Hros. Fantastisch. Da hätte er auch genauso gut daheim bleiben können, fand er. Genauer gesagt, daheim wäre es besser gewesen, denn neben der Arbeit hier im Gestüt musste er auch noch lernen. Lernen. Lernen! Lesen und Schreiben und Latein, was alles Dinge waren, durch die er sich mehr schlecht als recht durchquälte, schon allein weil er nicht die geringste Lust dazu hatte, und dass er sich unsäglich dumm dabei vorkam, half auch nicht wirklich. Das war... das war furchtbar! Er hatte sich irgendwie was anderes vorgestellt, als Witjon sein Einverständnis gegeben hatte. Gut, er hatte sich gar nichts vorgestellt, aber hätte er, dann wäre es ganz sicher nicht das gewesen. Und jetzt war er hier, in Mogontiacum, und von den Vorteilen, die es haben mochte in einer Stadt zu leben, hatte er bisher noch nicht wirklich was mitbekommen. Er arbeitete, und wenn er fertig mit Arbeiten war, dann schleifte ihn Milacorix in den Unterricht. Hadamar wusste gar nicht, wozu das alles nötig sein sollte, aber ganz offenbar wurde das einfach erwartet von einem Duccius. Jedenfalls einem, der in der Stadt lebte und es hier zu etwas bringen wollte. Oder besser: bringen sollte.


    Irgendwas musste sich ändern. Er konnte sich doch nicht einfach so vereinnahmen lassen, und das an jedem einzelnen Tag! Wenn er schon hier war, dann wollte er auch was erleben, er wollte etwas von der Stadt sehen, er wollte abends in den Tavernen umher streichen... Er sollte sich einfach hinstellen und, nun ja, ein Machtwort sprechen. Jawoll. Milacorix vor vollendete Tatsachen stellen, und jeden anderen, der ihm über den Weg lief. Aber er wusste jetzt schon, dass das nichts werden würde, also war es wohl besser sich von vornherein einfach auf den Weg zu machen. Und wenn er dann heimkam... Wie? Unterricht? Ich dachte heute fällt er aus, ich hatte da so was gehört... Oh, er konnte sich schon vorstellen, wie Elfleda auf so was reagieren würde. Oder seine Mutter, wenn sie das irgendwann erfuhr. Aber das war es definitiv wert. Hoffentlich. Und er war ein Mann, so einfach war das. Er war der älteste von seinen Geschwistern, und sein Vater war tot. Das musste doch irgendwas heißen. Nachdenklich starrte er auf das Wasser. Der Teich war nicht mehr gefroren – es zwar immer noch kalt, aber in den letzten Tagen hatte genug Tauwetter eingesetzt, dass sich die Eisschicht aufgelöst hatte. Hadamar stand also da... dann bückte er sich kurzentschlossen und zog sein Schuhwerk aus. Er hatte plötzlich das Gefühl, sich selbst etwas beweisen zu müssen, und das Wasser... im Winter... das schien eine gute Idee. Mit den Neugeborenen machten sie das ja auch, und was so ein Winzling aushielt, das konnte er ja wohl schon lange. War ja auch nicht das erste Mal, dass er so was machte, nur war er bisher noch nie allein gewesen dabei. Mit Freunden, ja, wenn es um eine Wette ging oder eine Mutprobe oder sie einfach nur was getrunken hatten und ihnen die lächerlichsten Ideen kamen... Mit nackten Füßen stand Hadamar am Ufer des Teichs und überlegte für einen Augenblick, ob er zuerst die Temperatur des Wassers testen sollte. Hm. Hm. War vielleicht keine so schlechte Idee. Hadamar machte einen Schritt nach vorne und machte Anstalten, seinen linken Fuß in das Wasser zu tauchen. Und zog ihn wieder zurück, bevor er nass werden konnte. War vielleicht doch eine schlechte Idee. Hadamar hatte schon eine ungefähre Vorstellung davon, wie kalt das sein würde, aber wenn er es tatsächlich spürte, verließ ihn vielleicht der Mut, und er wollte sich nun mal etwas beweisen. Besser nicht das Risiko eingehen, dass er dann doch einen Rückzieher machte. Mit wenigen Handgriffen zog Hadamar sich bis auf seinen Lendenschurz aus, und im nächsten Moment sprang er kopfüber ins Wasser. Und kam prustend und keuchend und um sich schlagend wieder hoch. „VERDAMMTE AXT IST DAS KALT!!!“

    So sicher er seinen Sieg schon geglaubt hatte, so sicher war er sich nun, dass er seiner Mutter würde beichten müssen, dass er nicht erfolgreich gewesen war. Wie peinlich bitte war das denn? Fehlte dann nur noch, dass das irgendwie bekannt wurde, dann würden sich alle über ihn lustig machen. Mehr noch, da Sönke nun schon so viel geschafft hatte, und das sogar gegen den Widerstand seiner Eltern. Während er es offenbar nicht mal mit der Hilfe seiner Mutter schaffte. Seine Hand krampfte sich für einen Moment um den Krug, den er in der Hand hielt, und hätte er nicht ohnehin schon vorgehabt, sich an diesem Abend zu besaufen, hätte er es spätestens in diesem Moment, mit dieser unglaublichen Scham vor Augen, beschlossen.


    Hadamar sagte erst mal gar nichts, während Witjon grübelte, und überlegte stattdessen schon, wie er das seiner Mutter würde beibringen können. Und was diese dann wohl tun würde. Vermutlich würde sie ihn zwingen, gemeinsam mit ihr noch einmal zu Witjon zu gehen und zu Kreuze zu kriechen, aber wenn er Glück hatte, würde sie das auf irgendwann die nächsten Tage verschieben und nicht heute von ihm verlangen. Und dann, mitten in diese düsteren Gedanken hinein, platzte auf einmal Witjon hinein – mit der Erlösung. „Wa...“ Hadamar unterbrach sich selbst und täuschte mit einem kurzen Husten darüber hinweg. War vielleicht nicht so klug, wenn Witjon merkte, wie überrascht er war, das könnte blöd aussehen, und mehr noch: Witjon könnte daraus vielleicht schlussfolgern, dass es vielleicht doch keine so gute Idee war, ihn in die Stadt zu holen. Und das wollte er nicht riskieren, zumal Witjons Worte ihm ziemlich zusagten – irgendwo, irgendwas. Ja, das klang hervorragend, und noch besser klang, was er danach sagte. Das war mal eine Anweisung, die er nur zu gern befolgte. „Jawoll!“ Hadamar grinste und prostete seinem Verwandten ebenfalls zu, bevor er einen kräftigen Schluck.

    Hadamar brummte nur bei Sönkes genauso unwiderstehlicher wie unbestechlicher Logik. Erst als er anfing was von Hadamars Stimme zu faseln, ruckte sein Kopf herum. „Moment ma-“, begann er empört, aber Sönke kam dann zu Lanthilda und was sie angeblich gesagt hatte, und das ließ ihn vergessen, was Sönke da für einen Schmarrn über seine Stimme erzählt hatte – die ganz sicher nicht schrill war, ganz im Gegenteil, vielleicht vor einiger Zeit noch, aber den Stimmbruch glaubte er inzwischen zuverlässig hinter sich gelassen zu haben. Hoffte er jedenfalls. Redete er sich ein. „Hat sie echt gesagt?“


    Und gleich darauf schockte Sönke ihn noch viel mehr. Hadamars Mund klappte auf, für einen endlosen Moment lang, und fassungslos starrte er seinen Freund an. „Nein. Nein! Hat sie nicht!“ Für einen langen Augenblick hatte Hadamar das Gefühl, erst mal gar nicht mehr richtig denken zu können, während plötzlich das Adrenalin in seinem Körper pulste, dann, für einige weitere, lange Augenblicke durchforstete er mühsam sein Gedächtnis. Walda. Nein. Die hatte er schon noch ein paar Mal gesehen seit jenem Abend, wenn sie auch – leider, leider, jedenfalls aus seiner Sicht – nicht wirklich etwas miteinander zu tun gehabt hatten mehr. Und die war nicht schwanger gewesen. Jedenfalls nicht so, nicht so, dass man es schon hätte sehen können, dass sie jetzt schon ein Kind hätte zur Welt bringen können, eines das lebte jedenfalls, und überhaupt, so lange war das ja tatsächlich nicht her, seit diesem Abend. Sobald er das einmal für sich geklärt hatte, erholte Hadamar sich erstaunlich schnell von dem Schreck, während er zugleich jeden Gedanken daran, dass Walda vielleicht doch schwanger sein könnte, nur eben noch nicht sichtbar für jeden, mit absoluter Zuversicht verdrängte. Allerdings, das wurde ihm dann doch klar: seine gespielte Selbstsicherheit vor Sönke war mit diesen – für ihn selbst endlos lang erscheinenden, in Wahrheit aber nur wenigen kurzen – Momenten flöten gegangen. Er räusperte sich verlegen und versuchte abzulenken. „Das muss wer anders gewesen sein, von der du das gehört hast.“

    Zitat

    Original von Numerius Duccius Marsus
    Oh scheiße! In dem Moment, als Elfleda kurz angebunden an ihm vorbeistapfte, realisierte Witjon, dass er gerade einen großen Fehler gemacht hatte. Und das auch noch in aller Öffentlichkeit! Wenn er nachher irgendwann die Casa betrat, würde die Kacke wohl schon ordentlich am dampfen sein. Dass er aber auch nie mal etwas richtig machen konnte!
    "Hm?" machte er, als Hadamar zu stottern anfing. Achja, der Junge. Witjon hörte nickend zu, in Gedanken bereits beim Donnerwetter von den Ausmaßen eines Jahrhundertsturms, das ihn erwartete. "Alt genug, in die Casa zu ziehen?" Er musterte Hadamar flüchtig und nickte erneut. "Ja, ist gut. Wir haben noch Zimmer frei. Wann willst du einziehen?" erklärte er sich einverstanden. Witjon hatte andere Dinge im Kopf. Von ihm aus sollte der Junge ruhig in die Casa ziehen. So hatte er damals ja immerhin auch begonnen. "Äh," erinnerte er sich des letzten Satzes, den er gehört hatte. "Was denn zu tun? Hast du bereits etwas gelernt?"


    Witjon wirkte genauso abgelenkt, wie Hadamar es noch vor einem Augenblick gewesen war. Er wusste nur nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, was sein eigenes Anliegen anging. Allerdings hatte er nun nicht mehr groß die Wahl, als damit einfach rauszurücken, alles andere wäre nur noch peinlich gewesen… ganz abgesehen davon, dass sich sonst seine Mutter doch noch eingeschaltet hätte, und das wollte Hadamar aus bekannten Gründen vermeiden.


    Und siehe da: Witjon sagte ja. Überraschenderweise sogar sehr unkompliziert. Jedenfalls dachte Hadamar das, und er freute sich auch schon darüber. Genau einen Moment lang, oder vielleicht zwei. „Klasse, danke!“ Mit einem Erfolg in der Tasche von dannen ziehen, zum nächsten Met, und nebenbei seiner Mutter erzählen, dass er alles im Griff hatte, das war doch was… Und dann, ja, dann machte Witjon Äh. Und Hadamar sah seinen schon sicher geglaubten, so furchtbar einfach errungenen Erfolg durch die Finger gleiten. Er stoppte mitten in der Bewegung, mit der er schon begonnen hatte sich von Witjon wegzudrehen, und noch während er wieder zu ihm sah, kam eine Frage, die Hadamar in Erklärungsnöte brachte. „Uhm. Was… zu tun halt.“ Noch während er das sagte, war Hadamar klar, wie bescheuert das klang. In diesem Moment wünschte er sich, er könnte ein wenig mehr wie Sönke sein, ein wenig mehr nur… ein wenig mehr diese Überzeugung haben, die sein Kumpel ausstrahlte, diese absolute Sicherheit, die sich darin gründete, dass er einfach wusste, was er wollte. Während Hadamar nur wusste, was seine Mutter wollte, aber nicht er selbst. Er wusste ja noch nicht mal so genau, was er alles nicht wollte, und das war noch mal bedeutend einfacher festzulegen. Hadamar kratzte sich verlegen am Kopf, erfolglos in dem Bemühen, sich seine Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. „Gelernt hab ich nichts. Ich hab bisher halt das Übliche gemacht. Aufm Hof gearbeitet.“ Und sich dem entzogen, wann immer es möglich gewesen war.

    Als Elfleda ihn begrüßte, lächelte Hadamar ihr noch zu. Als sie dann fragte, was er wollte, gefror sein Lächeln ein wenig. Er hatte eigentlich nicht vorgehabt, hier mit seinem Anliegen herauszurücken, nicht vor Ortwini und schon gar nicht vor Elfleda. Dann hätte er ja doch warten können, bis seine Mutter die Sache für ihn in die Hand nahm. Er kratzte sich etwas verlegen am Hals, unschlüssig, wie er darauf reagieren sollte, während zugleich nun Witjon ihn begrüßte – und dann mit ihm ein paar Schritte zur Seite ging. Jetzt war Hadamar vollends verwirrt. Noch mehr, als Elfleda gleich darauf an ihnen vorbei kam und irgendetwas zu Witjon sagte, was Hadamar nicht ganz verstand. Er hatte zugleich das unangenehme Gefühl, dass er da irgendwie unfreiwillig in ein Wespennest gestochen hatte. Und das Problem an so etwas war: egal wie unfreiwillig man das getan hatte, man bekam immer, immer etwas ab. Er brauchte einen Moment, bis er sich wieder daran erinnerte, dass Witjon vor ihm stand und ihn abwartend ansah. „Eh, ja“, beeilte er sich zu sagen. „Die Sache ist die, ich so-“ Hadamar verschluckte den Rest und räusperte sich. Machte sich wohl nicht so gut, wenn er von Anfang an klar machte, dass eigentlich seine Mutter dahinter steckte. „Ich wollte fragen, ob ich zu euch nach Mogontiacum ziehen kann. Ich, also... ehm... ich bin ja nun alt genug, um...“ Etwas vernünftiges zu machen. Wenn er DAS SO sagte, war klar, dass seine Mutter dahinter steckte. Etwas anderes fiel ihm allerdings auch nicht ein. „Ich bin alt genug“, entschied er sich schließlich für die arge Kurzform, bevor er dann doch nicht umhin kam zu erwähnen, auf wessen Antrieb er das machte, weil es einfach so... so... nach so wenig klang, was er bisher von sich gegeben hatte: „Und meine Mutter würde sich darüber freuen. Also, wenn ich zu euch in die Stadt ziehen könnte. Und... dort... etwas zu tun finde.“

    Hadamar hatte bereits seinen Becher bereits einmal nachfüllen lassen, während er mit ein paar Freunden über den Festplatz zusammen stand und nach Sönke Ausschau hielt. Der hatte auch kommen wollen, aber aus dem gemeinsam Kommen war dann nichts geworden, weil Hadamars Mutter darauf bestanden hatte, schon früher in die Stadt zu gehen, weil sie einkaufen wollte, und weil sie Hadamar dafür als Packtier gebraucht hatte. Hatte sie behauptet, eigentlich.
    Uneigentlich hatte sich dann herausgestellt, dass sie ihn einfach nur in die Mangel hatte nehmen wollen. Aber wie. Hadamar hatte das Gefühl, dass ihm immer noch die Ohren glühten. Wenn seine Mutter etwas drauf hatte, dann war es das – einem ins Gewissen zu reden, auf eine Art, wo man irgendwann nicht mehr auskam. Du bist alt genug, Hadamar. Alt genug um Verantwortung zu übernehmen. Alt genug um etwas aus deinem Leben zu machen. Und das, während sie die ganze Zeit durch die Straßen von Mogontiacum gelatscht waren, mal hier und mal dort gehalten hatten, und, was das Schrecklichste war, für ihn etwas Gutes zum Anziehen zu kaufen, was sie ihm vorher natürlich auch nicht verraten hätte. Die Rede hätte er ja noch über sich ergehen lassen, schon allein weil er wusste, dass er der eh nicht hätte entgehen können – aber hätte er gewusst, dass sie ihn wie seine kleinen Schwestern ihre Puppen traktieren wollte, hätte er sich schlichtweg geweigert mitzukommen.


    Hadamar seufzte lautlos und trank, während er sich erneut nach Sönke umsah. Fast genauso schlimm wie die nachmittägliche Tortur war die Tatsache, dass seine Mutter viel zu viel ausgegeben hatte. Für ihn. Damit er etwas Anständiges zum Anziehen hatte. Mehr als gut war, fand er, mehr als sie einfach so hätte erübrigen können, wusste er. Und: sie hatte ihn damit unter Druck gesetzt, unter gewaltigen Druck, um genau zu sein. Jetzt war er ja mehr oder weniger verpflichtet, sich diesem Geschenk als würdig zu erweisen, noch besser, wenn irgend möglich bald irgendwie in die Lage zu kommen, ihr unter die Arme greifen zu können. Es zählte nicht, dass sie Witjon um Hilfe bitten konnte, wenn es eng werden sollte. Es zählte nur, dass er indirekt Schuld war. Und er argwöhnte, dass sie das verdammt genau wusste – was aber nichts daran änderte, dass es einfach so war.
    Noch ein Seufzen, noch ein Schluck. Und dann fing er plötzlich den Blick seiner Mutter auf. Auffordernd war nichts dagegen. Hadamar runzelte erst mal nur die Stirn und hob leicht die Schultern, weil er nicht begriff, was sie wollte, aber daraufhin machte sie nur eine leichte Kopfbewegung, und als Hadamar in die angedeutete Richtung sah, entdeckte er Witjon. Er sah zurück zu seiner Mutter und verdrehte die Augen, aber er konnte selbst auf die Entfernung hin sehen, dass es ihr ernst war. Und bevor er es so weit kommen ließ, dass sie ihn am Schlafittchen packte und zu Witjon zerrte, ging er lieber selbst.
    „Heilsa. Elfleda.“ Er lächelte die Mattiakerin an und fühlte sich unbeholfen, was er hasste. „Witjon, Ortwini. Eh. Schönes Julfest“, fiel ihm zum Glück noch ein, bevor er zur Sache kam und Witjon direkt ansprach: „Kann ich mal kurz mit dir sprechen?“

    „Dein Vater hat doch echt keinen Grund sich zu beschweren. Meine Mutter TRÄUMT von einem Sohn wie dir. Und Witjon sorgt doch für Ersatz, oder nicht?“ Hadamars Stimme klang unwillig. Dass Sönkes Eltern so gar nichts von den Plänen seines Sohns hielt, und noch weniger davon, dass er sie in die Tat umzusetzen begann, begriff er nicht ganz. Seine eigene Mutter hielt Sönke für ein leuchtendes Beispiel, und Hadamar wusste, dass sie hoffte, der Freund könnte Einfluss auf ihn haben in dieser Hinsicht. Aber das brachte weder ihm noch Sönke etwas. Er blinzelte zu ihm hinüber. „Hab ich noch nicht gratuliert?“ Er hob einen Arm, ballte die Finger zur Faust und stieß Sönke damit gegen den Oberarm. „Dann hol ich das jetzt nach.“ Er grinste versuchsweise. Dass Sönke Trübsal blies, gefiel ihm nicht so recht.


    Beim nächsten Thema starrte Hadamar dann wieder auf das Wasser. Sehr bemüht um einen entspannten, ja, lässigen Gesichtsausdruck. „Walda“, half er noch bereitwillig aus, nur um dann, für den ersten Moment, wieder zu verstummen. Die Wahrheit wäre nämlich gewesen: er wusste es selbst nicht. Er hatte keine Ahnung, was er gemacht hatte. Er wüsste es nur zu gerne, denn dann könnte er das Ganze wiederholen, beliebig oft, jedenfalls stellte er sich das vor – und dass es bei den mogontinischen Mädchen nicht leichter war, enttäuschte ihn etwas. Was er nur zu genau wusste war, dass aus irgendwelchen Gründen sie ihn gewollt hatte, und dass sie ein wenig älter war als er, schon ein wenig Erfahrung hatte und vielleicht ein klitzekleines bisschen angetrunken gewesen war, mochte auch dazu beigetragen haben. Aber Hadamar hätte sich lieber die Zunge abgebissen als DAS zuzugeben. Stattdessen zuckte er nur leicht mit den Achseln und versuchte bei den nächsten Worten möglichst... lässig zu wirken. „Och, so schwer war das nicht...“