"Hallo, alter Freund. Du erinnerst dich noch an mich?", waren die ersten wenig enthusiastischen Worte, die der direkt von der Bauruine des Serapeium kommende Iulier an den Grabstein des Helvetius Ocella gewandt sprach. Halbherzig und müde lächelte er dabei. "Lang ist es her, nicht wahr? Und eine ganze Menge ist seither passiert..." Er stockte. "Ich meine, du liegst jetzt hier, was?" Und wenn man allein das nicht schon als eine ganze Menge bezeichnen könnte, was sonst? Eine kurze Pause entstand, bevor Dives den Faden wieder aufnahm. "Naja, dafür habe ich auch extra etwas Zeit mitgebracht... Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich mich ein bisschen zu dir setze?" Kurz stand der Iulier einfach nur da - nichts tat sich -, bevor er einen größeren Stein einige Passus an Ocellas Grab holte und sich sodann darauf setzte. "Sieh hier. Ich habe uns sogar einen guten Wein mitgebracht... den gleichen sogar, den wir damals in der Casa Helvetia an den Iunikalenden getrunken haben, wenn man den Worten des Händlers Glauben schenken darf. Du erinnerst dich noch an diesen Tag? Damals lernte ich deine Cousine Fausta von den Sergiern kennen... Damals nahm das ganze Unglück seinen Anfang... Auf dich, Ocella! Auf dich, unsere gemeinsame Zeit als ostiensische Magistrate und unsere Freundschaft! Zum Wohl!", goss Dives etwas Wein aus seinem Trinkschlauch in eine flache Patera, um jene hernach über dem Grab opfernd für den Toten darzubringen. Anschließend nahm er selbst einen Schluck aus seinem Schlauch. Ob er dabei tatsächlich den gleichen Wein wie damals trank, entging seinem wenig geschulten Gaumen. Billig allerdings schmeckte das Zeug nicht... und es erfüllte seinen Zweck: Der Iulier musste sich schließlich durchaus etwas Mut antrinken für dieses 'Gespräch'.
"Verdammt, Ocella, ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen soll dir das alles zu erzählen, was ich dir heute erzählten wollte... und will." Er schluckte. "Es... es ist kompliziert, weißt du. Tze!" Kurz musste er bitter auflachen. "Aber ist es nicht immer kompliziert, wirst du mich wahrscheinlich fragen. Da würde ich dir vermutlich recht geben. Und dann würdest du mich wieder fragen, warum ich es denn so kompliziert mache, stimmts?" Dives nickte. "Schon damals, nach dem Angriff, ich war wochenlang ans Bett gefesselt und du hattest mich in der Villa Iuliana besucht, da hattest du eine ganz genaue und ganz klare Vorstellung davon, was man in der Situation deiner Meinung nach hätte tun sollen. Ich meine mich zu erinnern, dass du ein ganz und gar klares Bild vor Augen hattest, was die nächsten Schritte hätten sein müssen, die ich hätte gehen sollen... und nicht gegangen bin." Er schüttelte den Kopf. "Ich habe dir nie gesagt, dass das eine große Gabe ist, für die ich dich gerade in letzter Zeit wirklich bewundere... sich eben nicht in diese ganzen Lügen und Intrigen, die Machtspiele und Erpressungen, falschen Hoffnungen und falschen Versprechungen hinein ziehen zu lassen." Ein betrübtes Seufzen kam ihm über die Lippen. "Hoffentlich haben dir das wenigstens deine Eltern mal gesagt. - Nebenbei erwähnt sind die Lilien deiner Mutter" Dass sie von ihr kamen, stand auf dem weißen Stoff, der um den noch frischen Strauß gebunden war. "wirklich schön, sehr geschmackvoll." Er nahm die Hand vor den Mund und schüttelte energisch den Kopf, bevor er noch einen weiteren Schluck aus seinem Trinkschlauch nahm.
"Ich weiß, ich lenke ab.", gab er anschließend zu und sah sich kurz um. Eine ansonsten absolute Stille - eben eine Totenstille - beherrschte das Gräberfeld. Vermutlich wurden in den meisten Haushalten bereits die letzten Handgriffe für die Cena gemacht, die Dives heuer angekündigtermaßen für 'einen dringlichen Termin' würde ganz persönlich ausfallen lassen. Ein weiterer Schluck aus dem Trinkschlauch folgte. "Es tut mir übrigens Leid; also dein Unfall... und dass ich nicht auf deiner Trauerfeier war. Nicht dass ich eingeladen gewesen wäre - vermutlich war es deine Mutter unangenehm, öffentlich den Tod ihres eigenen Sohnes beklagen zu müssen -, aber ich hätte schon durchaus da sein wollen. Und es tut mir auch Leid..." Er stockte einen kurzen Augenblick. "Ja, irgendwie tut es mir auch Leid, dass ich jetzt hier bin, um dir Dinge zu erzählen, die ich mit sonst niemandem teilen kann. Ich meine, ich wäre ja auch ans Grab meiner Eltern gegangen. Aber ich weiß nicht, ob ich dir das jemals erzählt habe, doch liegt meine Mutter ja irgendwo in den Tiefen von Neptuns Reich, was es äußerst schwer macht, mit ihr zu reden. Und mein Vater, tja, der liegt zwar in der Nähe Romas als Urbanersoldat begraben, jedoch kannte ich ihn ja eigentlich kaum. Ganz ehrlich: Da KANN ich einfach nicht mit ihm reden... nicht so... nicht darüber. Er... er würde mich nicht als seinen Sohn erkennen und würde mich wahrscheinlich sogar noch aus dem Jenseits mit aller Macht verfluchen, weil ich durch das, was ich so schwer mit mir trage, auch seinen guten Namen als ehrenhafter Soldat der standhaften Cohortes Urbanae in den Dreck gezogen habe... und noch immer ziehe... und wohl ewig ziehen werde." Der Iulier legte seine Stirn in tiefe Falten. "Und wir reden hier nicht von der grauer Staub-Art von Dreck, sondern von richtig schwarzem Dreck, pechschwarz! Genauso klebrig jedenfalls ist der bestimmt. Lebenslang, wie gesagt." Darauf nahm Dives erst einmal wieder einen größeren Schluck aus seinem Trinkschlauch. Nicht zuletzt musste er seine Stimme schließlich in diesem monologen Dialog halten.
"Deswegen bin ich also hier, bei dir, mein Freund. Ich weiß nicht mehr weiter, weiß nicht, was ich tun soll und manches Mal sogar nicht einmal mehr, was ich gerade tue. Ich fühle mich verloren in einem Sumpf; verloren in dem Sumpf, den einst Tarquinius Priscus vor hunderten von Jahren trockenlegte; verloren, ja, in Roma." Dieser spontane Vergleich erstaunte den Iulier in der Tat durchaus selbst. "Und dabei liegt der Anfang allen Übels eigentlich hier in Ostia! Und nur ich allein bin Schuld an der Misere, aus welcher es keinen Ausweg zu geben scheint." Dives machte eine kurze Pause und atmete einmal tief durch. "Denn ICH habe entschieden, dass ich meinen Klienten Asinius und seine Schwester auf deine Feier an den Iunikalenden begleite. ICH habe entschieden, dass ich mich überhaupt erst mit dir anfreunde. ICH habe entschieden, dass du damals bei der Stadtverwaltung von Ostia überhaupt erst angestellt wirst. ICH habe entschieden, dass ich die Decimer allesamt nach Ostia einlade." Moment. "Naja, gut DAS hatte damals vielleicht dieser Decimus Flavus - ich weiß nicht, ob dir dieser Name etwas sagt - entschieden. Aber ICH habe IHN erst eingeladen und ihn damit erst auf diese Idee gebracht alle seine Verwandten mitzubringen. Und ICH hatte zuvor auch entschieden, dass ich diesen Paris mit seinem vescularierfeindlichen Prometheus für dieses Theater engagiere. Immer nur ICH, ICH, ICH! Ich habs verbockt! Völlig! Und ganz alleine." Beschämt wandte er seinen Blick zu Boden und gönnte sich zur Aufmunterung hernach einen weiteren Schluck vom Wein.
"Ich war schon immer schwach, auch wenn meine Worte die Menschen in meiner Umgebung schon immer versuchten vom Gegenteil zu überzeugen. Dabei weiß ich es spätestens seit... ja, seit dem Morgen nach den Aprilkalenden des Jahres meiner ostiensischen Quaestur. Ja, seit den Geschehnissen des Vorabends und der darauffolgenden Nacht und dem Morgen dann weiß ich es definitiv, dass ich schwach bin; dass ich die Erwartungen meines Vaters mitnichten werde gänzlich erfüllen können, ohne mich selbst dabei zu verraten; dass ich meine eigenen Erwartungen mitnichten erfüllen kann, ohne mich selbst und auch ihn dabei zu verraten; dass ich mein Leben in der Angst leben muss, dass jemand in Erfahrung bringt, was ich dir hier erzähle und es dann gegen mich einsetzt... was ja letztlich nun eh bereits geschehen ist." Wieder brauchte Dives einen kleinen Moment, um seine Gedanken zu sortieren. "Deine Cousine Fausta war es übrigens - die erste, der diese kleine Kunststück gelang. Und ich bin wahrlich nicht scharf darauf zu erfahren, wann ich mich das nächste Mal in dieser Situation wiederfinden werde." Nachdenklich kratzte sich der Iulier am Hinterkopf. "Hättest du mich wohl zu deinem Nutzen hintergangen, erpresst und verraten? Also, ich meine natürlich, wenn du jetzt noch leben würdest und ich dir das alles hier trotzdem erzähle." Die Ruhe dröhnte von überall her. Nur sanft hörte man ein leises Meeresrauschen in einiger Entfernung, wie man bei ganz genauer Konzentration sogar eine wortwörtlich nur überaus leise Vorstellung davon bekam, wieviel lauter es zeitgleich gerade sowohl bei den Schiffen in Portus als auch im kleinen Hafenviertel des Portus Tibris im Stadtkern von Ostia zuging.
"Ich habe dir noch immer nicht erzählt, worum es eigentlich geht, nicht wahr?" Wie ein Kater schlich er in der Tat um den heißen Puls, den selbst als Kern seines Problems identifizierten Punkt. Da half nur noch ein weiterer Zug aus dem Trinkschlauch! "Also... ähm... Wie soll ich das sagen? Es... also... Also dieser Abend, von dem ich gesprochen habe - der an den Kalenden des April im Jahr meiner ostiensischen Quaestur -, den hatte ich eben damals nicht alleine verbracht. Ich war also gewissermaßen in Begleitung, wenn man so will.", druckste er herum und schlich sich Stück für Stück näher an den Brei heran. "Andererseits kann man es auch nicht wirklich 'Begleitung' nennen, nachdem ich mich ja überhaupt nicht um diese Begleitung bemüht hatte. Aufgelauert hat sie mir, meine Begleitung! In meinem eigenen Cubiculum! Von meinen eigenen Sklaven eingefädelt!", begann er sich intuitiv bereits zu verteidigen. "Und ich meine, du weißt wie das so ist am Tag der launenhaften Venus: Man spielt sich gegenseitig einen Streich und sagt am Ende dann 'April, April' und gut ists. Und bedenke, dass das schon ein paar Jährchen her ist. Damals war mein Verhältnis zu Sklaven noch ein etwas anderes; freundschaftlicher; ich selbst war noch etwas kindlicher; etwas naiver - auch wenn ich mehrfach bewiesen habe, dass ich auch seitdem noch durchaus zu Naivität mehr als in der Lage bin." Wo war er gleich? Exakt: "Diese Begleitung also, die man mir unwissentlich und nur als Scherz gedacht in mein Bett gelegt hat...", wurde aus dem eigenen Cubiculum in der Erzählung nun also ganz beiläufig sogar das eigene Bett. Schweißtropfen bildeten sich auf Dives' Stirn. "Hier, du solltest auch noch etwas Wein haben!", lenkte er sodann noch ein letztes Mal ab und opferte noch etwas des Rebensaftes mittels Patera für den Freund, der wohl nur mit etwas Glück selbiger bleiben würde und ihn nur mit etwas Glück nicht künftig heimsuchte.
"Caius Caelius Caldus.", flüsterte Dives den Namen beinahe nur, obgleich sich wohl auch bei normaler Lautstärke niemand weit genug in der Nähe befunden hätte, um diese Worte zu hören. Sodann unterbrach erwartungsvolles und vielsagendes Schweigen auf beiden Seiten des Grabmals - haha - die Konversation. Endlich war es raus.