"Die Administratio wird sich um einen Termin kümmern und ihn dir mitteilen", meinte ich beiläufig. Natürlich würde sich der Kaiser nicht höchstselbst mit diesen Nichtigkeiten befassen, wie die Tiberia offensichtlich annahm, jedoch war ich es leid das Mädchen zu belehren. Ich hatte mich bereits lange genug mit ihr beschäftigt und nun, da ich keinen Nutzen mehr darin sah, meine kostbare Zeit für sie aufzuwenden, auch bereit dieses einsame Nest hinter mir zu lassen. Als meine Gedanken sich bereits gen Ausgang richteten, nahm das Gespräch aber eine neuerliche, unvorhergesehene Wendung. Nun berichtete sie mir über einen Bruder, der genauso wie ihr Vater als verschollen galt. Die Inkongruenz der Aussagen der Tiberia bereitete mir allmählich Kopfschmerzen - nicht, weil ich um sie besorgt war, sondern vielmehr, weil sie mir mit ihrem wirren Gerede die Zeit raubte. Zuerst war da die Villa, die sie abtragen und nun wieder herstellen wollte. Und jetzt erzählte sie mir von einem verschollenen Bruder? "Aha", entgegnete ich in skeptischen Tonfall und suchte in ihren Augen angestrengt nach einer Antwort auf die einzige Frage, die mir noch ungeklärt schien: Hatte sich womöglich die Saat der geistigen Verwirrung in diesem Mädchen breit gemacht? Nach all den Widersprüchen konnte ich ihren Worten kaum vollends Glauben schenken. Dennoch, wenn dieser Bruder tatsächlich existierte, konnte ich ihn womöglich aufspüren. Nicht, um die Tiberia zu beglücken, denn von ihr hatte ich nichts zu erwarten, außer schwülstige Worte. Vielleicht aber war der Tiberius als vermeintlich einziger Sohn des Hauses daran interessiert zu erfahren, was seine Schwester hier in Rom trieb. Recht eng konnte das Verhältnis der beiden ja nicht sein, wenn er, so er denn lebte und tatsächlich existierte, nicht um ihr Wohl besorgt war. Vor Stella wollte ich meine Absichten aber nicht preisgeben, deshalb warf ich ihr einen abschätzigen Blick zu und winkte mit einer Handgeste ab. "Was schert mich dein verschollener Bruder?" Vielleicht mehr als sie denken würde. Aber das war mein Geheimnis. "Wenn du nichts von ihm gehört hast, ist er wohl tot", verlieh ich meiner gespielten Gleichgültigkeit nochmals Nachdruck, obwohl ich vor meinem geistigen Auge bereits die Möglichkeiten einer Verwertung dieser Information für mich auslotete. "Carpinatius, wir gehen", informierte ich meinen Schreiberling und wandte mich dann nur noch kurz zur Tiberia und auch nicht mehr mit jenem höfischen Anstand, den ich sonst allen anderen Damen von solch hoher Geburt und Abstammung entgegenbrachte. "Vale, Tiberia", verabschiedete ich mich und verließ die Villa genauso zielstrebig wie ich eingetreten war.