"Na los, du musst auch nur einen Blick drauf werfen!"
versuchte Lucius es noch einmal. Gemeinsam mit Antonius, seinem alten Schulkameraden, saß er auf der Bank im Garten der Domus Petronia, die Fallbeschreibung des Cursus Iuris in der Hand. Natürlich hatte er es zuerst allein versucht, aber es hatte nicht geklappt. Es mochte sein, dass Jura eine sehr strukturierte und logische Wissenschaft war - aber es war eine Logik, die den jungen Petronier niemals groß interessiert hatte. Und außerdem hatte Eumenius diese Struktur niemals besonders hervorgehoben, sondern immer mehr die Winkelzüge betont, mit denen man die Strukturen umgehen konnte - womit das ganze wieder absolut unlogisch geworden war. Und jetzt zahlte der junge Petronier den Preis dafür, dass er sich auch nie Mühe gegeben hatte: Allein die Fallbeschreibung war schon völlig aus der Luft gegriffen - wieso sollte man sich mit diesem theoretischen Problem herumschlagen, das in der Praxis sowieso nie vorkam?
Leider hatte sich das Hilfesuchen als schwieriger herausgestellt, als er erwartet hatte. Zuerst hatte er natürlich Iulius, seinen ehemaligen Klassenkameraden gefragt - der war ein wandelnder Kommentar zu allen Gesetzen, die Lucius kannte. Aber natürlich war der Sohn des Rechtsberaters seines Vaters viel zu feige gewesen und viel zu hochtrabend - als ob es irgendwen einmal interessieren würde, ob er betrogen hatte oder nicht. Aber vermutlich lag es auch daran, dass Lucius niemals etwas für einen der anderen Jungen aus seiner Klasse gemacht hatte, sondern eben ein Außenseiter gewesen war. Glücklicherweise war es ihm auch langfristig gelungen, den Mord an Caius zu vertuschen - sonst würde vermutlich niemand mehr mit ihm sprechen. Aber dann wäre das wohl sein geringstes Problem gewesen, denn dann wäre er auch längst im Elysium und könnte sich den lieben langen Tag mit Geometrie beschäftigen - wahrscheinlicher aber hätte sich seine Seele ins Nichts aufgelöst und sein Körper wäre verbrannt worden.
Als letzten Notnagel hatte er sich nun eben Antonius ausgesucht. Der war zwar kein brillanter Jurist - eher sogar ein mäßiger - aber immerhin war er der einzige gewesen, der zumindest ein bisschen nett zu Lucius gewesen war und so musste dieser es einfach versuchen. Leider zierte aber auch er sich noch ein wenig...
"Pass auf, ich geb' dir 100 Sesterzen, wenn du mir hilfst!"
versuchte Lucius es noch einmal, nachdem Antonius keine Antwort gab. Es war nicht einmal ein Bluff, denn der junge Petronier hatte sich ja wegen seines Geheimabkommens mit Hamilkar an der Geldtruhe des Alten bedient. Zwar hatte er einen Teil wieder zurückgelegt, nachdem die Magoniden Mogontiacum sang- und klanglos verlassen hatten, aber ein bisschen hatte er doch behalten - zum Glück, wie sich nun herausstellte, denn langsam schien Antonius warm zu werden:
"Einhundert Sesterzen?"
fragte er ungläubig, fügte dann aber ein
"So viel Geld hast du doch gar nicht!"
an. Vermutlich erinnerte er sich an die Zeit bei Eumenius, als alle Lucius verspottet hatten, weil der Alte ihn so kurz hielt, dass der junge Petronier immer nur den billigsten Eintopf zu Mittag hatte essen können. Aber das war jetzt anders - das Geld lag sicher unter Lucius' Bett!
"Ich kann es dir zeigen. Ich gebe dir 50 Sesterzen als Anzahlung und nochmal 50, wenn ich den Cursus Iuris bestehe - was ist?"
Eine Weile zögerte Antonius noch, aber dann siegte sein gutes Herz und sein Interesse an einer kleinen Finanzspritze - zwar bekam er mehr Geld von seiner Familie als Lucius, aber 100 Sesterzen waren 100 Sesterzen. Also willigte er endlich ein:
"Also gut, ich schau's mir einmal an und sehe, wie ich dir helfen kann..."
Zufrieden klappte Lucius die Tafel mit dem gebrochenen Siegel der Schola auf und zeigte sie Antonius. Dieser runzelte die Stirn.
"Das ist ja eine ganz schöne Menge an Aufgaben!"
stellte er fest, obwohl er es eigentlich hätte wissen können - immerhin hatte er den Cursus Iuris vor einiger selbst abgelegt hatte (weshalb er für Lucius überhaupt in Betracht gekommen war). Lucius stand auf.
"Ich hol' das Geld. Lass dir ruhig Zeit."
Der junge Petronier ging in sein Schlafzimmer und kam kurze Zeit später wieder, in der Hand eine Menge Münzen und dazu eine Rolle aus Euklids Elementen - das war die erstbeste, die ihm in die Hände gefallen war und es musste ja nicht jeder sehen, dass Antonius ihm beim Unterschleif einer staatlichen Prüfung half. Wenn der Alte das herausfand, würde er Lucius vermutlich totprügeln - und Antonius gleich mit!