Beiträge von Quintus Flavius Dexter

    "Dura lex, sed lex."
    bemerkte Dexter lakonisch, als nach dem interessanten jedoch ausufernden Wortwechsel auch der letzte Redeschwall des Purgitius abgeklungen war. Dexter hielt den Mann, der von den Cohortes Urbanae in der wir-Form sprach für einen Tribun, denn dass ein einfacher Soldat sich unter die Wissensdurstigen hier mischen könnte, sprengte des Flaviers Vorstellungsvermögen. So nahm er kein Blatt vor den Mund.
    "Befehlsverweigerung wird aus gutem Grund mit dem Tode bestraft."
    Beifällig hatte er genickt, bei den historischen Beispielen, die der Aulus genannte Teilnehmer angeführt hatte.
    "Wenn gemeines Fußvolk sich anmaßt nach eigenem Gutdünken zu urteilen, Befehle zu missachten, eigene Weisungen fälschlich als 'Gesetz' anzusehen, so öffnet dies dem Chaos und der Wirrkürr..."
    Tanit, die sich neben dem Platz ihres Herrn im Schneidersitz niedergelassen hatte und Notizen machte, tippte Dexter diskret ans Bein.
    "...Verzeihung, der Willkür Tür und Tor. Nur die vorzüglichsten und gebildetsten unter uns Römern sind dazu befähigt und würdig, im Senat die Gesetze unseres Gemeinwesens zu pflegen und gegebenenfalls anzupassen."
    Codizes, Gewohnheitsrecht und prätorisches Recht, kaiserliche Dekrete, Senatus Consulta... Dexter überlegte, ob darüber hinaus die mores maiorum zu erwähnen waren, kam jedoch zu dem Schluß, dass sie wohl als Teil des Gewohnheitsrechtes galten.

    Der Ritt vom Landgut seiner Eltern nach dem Hause des Magisters hatte länger gedauert, denn auf halbem Wege hatte Dexter ein Paar von Turmfalken erspäht, welches in einer Nische der Aqua Tepula nisteten. Fasziniert hatte er den Rüttelflug der gewandten Jäger beobachtet und darüber die Zeit vergessen. So traf er, begleitet von seiner Leibsklavin, der treuen Tanit, mit einer Viertelstunde Verspätung beim Cursus ein. In seinem Bestreben, sich auf das Wesentliche zu beschränken, war der junge Flavier wie stets betont schlicht und konservativ gekleidet, wenn auch in hochwertige Stoffe und mit maßgefertigten Calcei patricii an den Füßen.


    Von einem der Sklaven des Magisters geleitet, betrat Dexter das Peristylium. Wie ein Schatten folgte ihm Tanit, welche Tabula und Stylus sowie eine kleine Aufmerksamkeit für den Lehrmeister trug. Interessiert betrachtete der Flavier die höchst heterogene Gruppe während er den letzten Wortwechsel vernahm.

    "Eine Regel ist zuvörderst eine Grenzziehung."
    ergriff er zuletzt selbst das Wort, noch an der Frage des Magisters haftend.
    "Sie steckt, obschon in der Tat durchaus wandelbar, einen Raum des Erlaubten und oder Erwünschten ab gegenüber einem Terrain des Verbotenen und oder Missbilligten. Das Gelten einer Regel generiert somit ein Feld, in dem alles Tun, alles Denken und Sagen zwischen jenen zwei Polen eingeordnet, beurteilt und -"
    Dexter blickte zu seinem Vor-Vorredner.
    "- wie bereits erwähnt gegebenenfalls auch sanktioniert werden kann."
    Gravitätisch grüßte er daraufhin in die Runde.
    "Salvete. Sehr erfreut. Quintus Flavius Dexter ist mein Name."

    3580-tusculum-jpgJegliche Erkenntnis trug in sich den Keim neuer Fragen. Um eine Lehre wahrhaft zu erfassen, galt es, ihre Wurzeln in der Tiefe der Zeit, ebenso wie ihre Verzweigungen in der Gegenwart restlos zu erforschen. Eines führte zum anderen, genug war es nie, Gewissheiten verflüchtigten sich bei genauerer Untersuchung wie Luftspiegelungen, und um so länger die Studien des Quintus Flavius Dexter bereits währten, bei um so mehr Meistern verschiedenster Schulen er seinen forschenden Geist geschärft hatte, um so ferner wusste er sich dem hehren Ziel, mit dem er einst die Pforten des Museions von Alexandria überschritten hatte. Steter Zweifel war die einzige Konstante.
    In einer neopythagoreeischen Lehr-Gemeinschaft auf Sizilien war es, deren Schüler soeben in weißen Gewändern ehrfürchtig den Festtag der Zahl acht begingen, wo Dexter das schon lange erahnte Bewusstsein der inhärenten Beschränktheit allen ontologischen Strebens jäh überkam. Es war ein dumpfer Schlag. Dunkle Mutlosigkeit überfiel den jungen Flavier. Seine treue Leibsklavin Tanit war es, die seine Rückreise nach Tusculum in die Wege leitete.


    Hier, in der lichten Landvilla mit der guten Luft, in Gesellschaft seiner Frau Mama Aemilia Lepida, seines tarquitischen Stiefvaters und der Schar seiner Halbgeschwister, leckte Dexter seine Wunden. Wobei ihm in der Villa stets zu viel Lärm und Leben war, zu viele muntere Kinder, seichte Abendgesellschaften mit benachbarten Gutsbesitzern und vor allem zu viele Künstler und "Künstler", die es sich unter dem großzügigen Mäzenat der Aemila Lepida wohl sein ließen.


    Dexter verbrachte viel Zeit in den Hügeln und studierte die heimische Vogelwelt, insbesondere eine Population possierlicher Blauscheitel-Laubsänger war Balsam auf seiner wunden Seele. Als der Lenz übers Land zog, war er bereit, ein neues Kapitel aufzuschlagen und begab sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder nach Rom.

    "Confusus wird es nie zu etwas bringen." versetzte Dexter, zurück ins klassische Griechisch fallend, mit jäher Harschheit. Auch die lange Trennung hatte seine Bitterkeit gegen den mittleren der Brüder nicht gemildert. In Dexters Augen war Fusus ein weichlicher Schwarmgeist, ein lebensuntüchtiger Paradiesvogel, geradezu peinlich in seinem effeminierten Ästhetizismus. Um so empörender empfand Dexter die überströmende Mutterliebe, die Aemilia Lepida ihrem Mittleren gegenüber an den Tag legte. Fusus war offenkundig ihr Favorit. Dexter trug ihm das bitterlich nach...
    Als Scato wiederum von dem Sklaven sprach, zuckte Dexter uninteressiert die Schultern.
    "Nun, es scheint ja eine gewisse Modeerscheinung zu sein, sich unbotmäßige Sklaven zu halten. Wie ich schon fragte: wer ist hier im Hause für die Disziplinierung zuständig?"
    Was ihn drauf aufmerksam machte, dass Tanit noch nicht erschienen war. Wahrscheinlich ruhte sie noch. Doch angesichts der strapaziösen Reise, welche hinter ihnen lag, beschloss Dexter ihr dies zu gönnen. Es waren ja ausreichend Haussklaven präsent um ihnen aufzuwarten.
    Mit Appetit verspeiste Dexter ein großes Fladenbrot mit viel Knoblauch und Moretum, und bat:
    "Erzähl mir von deinem Tirocinium, Caius, und von deinem Vigintivirat."

    Es gab Momente, in denen Dexter mitten in Gesellschaft, in trauter Runde, in festlichem Beisammensein, unvermittelt der Drang überkam, ein Buch zur Hand zu nehmen. Und sich darin zu vertiefen. Zu lesen...
    Diese Momente waren nicht selten. Gerade jetzt war ein solcher Moment.
    Das Thema Einreisebeschränkungen, Dexter an sich schon wenig passionierend, hatte sich erschöpft. Nun erfüllte lediglich das Klappern des Geschirrs das Triclinium, das Mahlen flavischer Kiefer und das Blubbern dicker Saucen.


    Bücher hatten so viele unbestreitbare Vorzüge gegenüber Mitmenschen. Zum einen konnte man sich die Auswahl, die einen umgab, frei zusammenstellen, und dabei eine sorgfältige Auswahl treffen. (Natürlich keine Trivialliteratur.) Man konnte sie aufrollen und wieder zurollen, sie öffnen und schließen, ganz wie einem der Sinn stand. Dem gebildeten Leser boten sie ihren Inhalt freigiebig dar, zierten sich nicht, niemals würde ein Buch einen anschweigen. Selbst die Schriftrollen mit den üppig verzierten Hüllen ruhten sich nicht darauf aus, lediglich ungeheuer schön zu sein, nein, auch diese Schmuckstücke präsentierten ohne Scheu ihren geistreichen Inhalt, der sie erst interessant machte. Menschen waren dem gegenüber oft so... hermetisch.
    Liegt es daran, dass ich den Schlüssel nicht besitze?
    Wenn ja, wo mag er zu finden sein?

    Dexter verspeiste ein paar Eier, und schielte sehnsüchtig zu seiner beiseite gelegten Schriftrolle.
    "Beim Essen wird nicht gelesen!" – Es war die Stimme seiner Frau Mama, deren stete Ermahnung er verinnerlicht hatte.
    Aber an seiner Karriere zu arbeiten, das war erlaubt.


    Dexter schluckte den Bissen herunter und tupfte sich den Mund mit der Serviette ab.
    "Was meinen Weg hier in Rom betrifft" meldete er sich zu Wort, "so gedenke ich diesen auf traditionelle Weise mit einem Tirocinium Fori zu beginnen."
    Er blickte in die Runde. Ratsuchend von einem zur anderen zum anderen.
    "Der Senator, den ich dafür wähle, sollte natürlich rhetorisch herausragend sein, zudem reich an Verbindungen, und dem Patriziat oder der Nobilitas angehören. Was meint ihr, werte Anverwandte, welche Senatoren kommen dafür in Frage?"

    Wie verlegen der jüngere Gracchus mit einem Mal erschien. Seine Wahl schien er noch nicht recht bedacht zu haben. Oder gab er die brave Antwort lediglich, um seinen Herrn Vater zufrieden zu stellen? Dexters Blick schweifte von Gracchus Minor zu Gracchus Maior und wieder zurück, es war nicht allein das Interesse an seinen Verwandten, auch die Lust daran Schwächen und Bruchstellen im Gefüge seiner Umgebung zu finden, die Dexter hier aufmerksam machte.


    Bevor er zu weiteren Schilderungen ausholen konnte, füllte sich der Speisesaal mit breviloquenten Verwandten. Zuförderst die sinnliche Tante Domitilla. Ihr zu begegnen, gereichte stets dazu, Dexter in einen Zustand der Befangenheit zu versetzen, und auch heute war es nicht anders. Verschüchtert beinahe erwiderte er ihren Gruß.
    Zwar missbilligte er im Grunde jedweden Tand und Flitterkram, zwar war er in der Theorie sehr überzeugt davon, dass es (im individuellen wie auch im gesellschaftlichen Zusammenhang) zu geistiger Seichtheit führte, die Reize des Äusserlichen so in den Vordergrund zu stellen, zwar fand er koischen Stoff einen so dekadenten wie unnötigen Import..... doch trotz alledem. Ratio und Prinzipien vermochten auch ihn nicht zu bewahren vor der verwirrenden Wohlgeformtheit einer schlanken Fessel, welche in eine Wade überging, deren köstlich gerundete Konturen sich unter dem zarten Stoff nur allzu verlockend abzeichneten. Was, von dem sonnengelben Hauch umflossen, über diese Wade hinausging... ließ Dexter den Blick schnell abwenden. Betont uninteressiert. Er hasste es, sprachlos, nicht mehr Herr seiner selbst zu sein. Angelegentlich musterte er das Tischgedeck. Welches aus spiegelndblankem Silber bestand, und sich somit nahtlos in die allgemeine Dekadenz um ihn herum fügte.
    Ebenso wie die junge Tochter des Hausherrn. Dass das Mädchen sich offenbar, trotz ihres noch kindlichen Alters, mit einer Perücke aus blondem Germanenhaar schmückte, fand Dexter ausgesprochen unnatürlich.
    Zuletzt erschien Scato. Leiser schien er Dexter geworden zu sein, verhaltener, im Vergleich zu dem Bruder den er früher kannte.


    Während die Sklaven die Vorspeisen auftrugen, wandte Dexter sich erneut Gracchus dem Jüngeren zu.
    "Staatskunde und etwas Recht habe ich natürlich auch belegt. Doch mir ist an einer umfassenden Reflexion gelegen, darum habe ich den Schwerpunkt meiner Studien auf die Philosophie gelegt, und da wiederum insbesondere auf die Schule der Pyrrhonisten. Es ist gar nicht leicht, in diesem Bereich einen Lehrmeister zu finden. Leider ist die akademische Skepsis deutlich mehr 'in Mode', doch in meinen Augen unterliegen deren Anhänger, in ihrem feurigen Bestreben alle Dogmen zu zertrümmern, letztendlich selbst einem Dogma."
    Ein Nicken von großer Bestimmtheit unterstrich diese Worte.
    "Am Museion habe ich aber zu meinem Glück doch einen Weisen der pyrrhonischen Skepsis gefunden. Den ehrenwerten Ariston von Salamis. Er ist sehr wählerisch, und verlangt eine gediegene Vorbildung in Atomismus und Sophismus, bevor er einen Schüler akzeptiert, aber dann... lehrt er einen großartige Wege der Erkenntnis, beziehungsweise..."
    Dexter lächelte vergnügt, wie verwandelt durch dieses Thema welches ihn wahrhaft mit Leidenschaft erfüllte.
    "...der Nicht-Erkenntnis. - Es ist eine im Leben höchstwahrscheinlich einmalige Gelegenheit, am Museion zu sein. Du solltest dir überlegen was du noch studieren willst, über das Rüstzeug für den Cursus Honorum hinaus. Wenn wir erst einmal Senatoren sind," hier umschloß Dexter mit einer selbstverständlichen Handbewegung Gracchus minor, Scato und sich selbst, "können wir niemals mehr dorthin."

    "Salve, Gracchus Minor."
    antwortete Dexter zerstreut, diesen nur aus den Augenwinkeln wahrnehmend, denn er wollte noch schnell den Absatz zur 'Verschiedenheit der Erscheinungen je nach der Art der Verbindung' zu Ende lesen. Erst danach rollte er die Papyrusbahn langsam und methodisch zusammen, und verstaute sie in ihrem mit purpurnem Saffianleder bespannten Futteral, während er sich dem Vetter dritten Grades zuwandte.
    Wie kann man nur so fett sein.
    schoß es ihm abschätzig durch den Kopf. Denn die Leibesfülle des jüngeren Gracchus schien ihm ein Zeichen für einen höchst blamablen Mangel an Selbstdisziplin. Dann allerdings ließ er diesen eben gedachten Gedanken Revue passieren, und während er den Vetter mit schräg gelegtem Kopf betrachtete raisonierte Dexter, das sowohl sein gefälltes Urteil, als auch die Wahrnehmung auf der es basierte auf vielfältige Weise anfechtbar waren.
    Wir können nicht sagen, wie die Sache an sich ist, sondern nur wie sie uns erscheint.


    "Salve, Gracchus Maior." begrüßte er den Hausherren bei dessen Eintreten respektvoll.
    Minimus! Das Amüsement über diesen paradoxen Namen zuckte wie ein Wetterleuchten über Dexters strenge Züge.
    "Noch nicht. Doch traun." antwortete er.


    Und zu Minor: "Zuvörderst solltest du dich darauf gefasst machen, dass die Alexandriner einen unmäßigen Hang zur Bürokratie haben. Die ersten Schritte in die Hallen der Erkenntnis sind darum weit weniger erhebend als man meinen möchte. Doch sobald du der Proxenie teilhaftig bist, und in die Listen der Akroatoi eingetragen, da öffnet sich dir wahrhaftig eine neue Welt. Deren Möglichkeiten so mannigfaltig wie exzellent sind. Welche Bereiche gedenkst du zu studieren?"

    Seit einigen Wochen weilte Dexter nun im Hause seiner Familie in Rom. So war es nicht ausgeblieben, dass er seine Verwandten, und sie ihn, zumindest flüchtig kennengelernt hatten. Beziehungsweise dass er die Bekanntschaft, bei jenen, die für ihn lediglich eine Erinnerung aus Knabenzeiten gewesen waren, wieder aufgefrischt hatte.
    Dexter zeigte sich stets wohlerzogen, und artig hatte er Bericht erstattet über seine Studienzeit in Athen, auf Skios und am Museion von Alexandria. Tiefergehende Gespräche hingegen hatte er bisher kaum geführt. Was daran liegen mochte, dass er durch die Warnungen seiner Mutter eine inhärente Reserviertheit gegenüber der Gens seines Vaters aufrechterhielt. Stets hielt er sich gewappnet gegen böse Überraschungen, beobachtete genau, achtete bei jeder Geste und Gebärde eines Anverwandten darauf, ob darin Anzeichen eines lauernden Wahnsinnes mitschwangen. Bisher hatte er zwar keine eindeutigen Hinweise auf ein solches Übel entdecken können. Doch ebensowenig hätte er die Hand dafür ins Feuer gelegt, dass seine Verwandten sich ungetrübten geistigen Wohlbefindens erfreuten.


    Die Räder der Welt drehten sich weiter in jener Zeit. Die Blockade der Stadttore war endlich aufgehoben worden. Der Senat war während vieler Sitzungen damit beschäftigt, dem Reich einen neuen Kaiser zu küren, und mehr und mehr zeichnete sich bereits ein Sieg des Aquilius Severus ab. Die Ludi Ceriales wurden, wohl aufgrund dessen dass der plebeische Aedil sein Budget schon in der letzten Amtszeit verbraucht hatte, recht unspektakulär begangen.


    Dexter war in Begleitung Tanits und Molochs viel in der Stadt umhergeschweift. Auf den Foren und in den Thermen hatte er die Ohren gespitzt. Auch hatte er einigen Bekannten seiner Mutter und seines Stiefvaters Höflichkeitsbesuche abgestattet.
    Noch war Rom ihm nicht wieder Heimat geworden. Er vermisste das Museion, das Leben auf dem Campus, die inspirierenden Gespräche, er vermisste (schmerzlicher als er es in ihrer Gesellschaft je für möglich gehalten hatte) seine Commilitonen und die raren Freunde unter ihnen. Bisweilen zog er sich dann in die Bibliothek zurück, und vergrub sich in einer der Schriftrollen, die er kistenweise als Abschriften aus Alexandria mitgebracht hatte. Er hatte sie der Hausbibliothek einverleibt, von A wie Atomlehre bis Z wie Zenons Paradoxa. Zum Unwillen des alten Mago studierte er sie jedoch nicht nur dort, sondern schleppte beständig irgendein Werk mit sich herum.


    Im Augenblick war es ein Kommentar zu den Zehn Tropen des Ainesidemos von Knossos in dem Dexter las. Es war im Chrysotriclinium, wo er sich auf einer Polsterbank ausgestreckt hatte. Aufgrund der Festtages hatte Tanit ihn heute dazu bewegen können, sich in eine elegante Synthesis mit Kornährenmuster zu kleiden. Doch Dexter hatte etwas Schroffes an sich, etwas Widerborstiges in seinen Bewegungen, was auch das eleganteste Gewand in dem Augenblick in dem er es anlegte, zur puren Zweckmäßigkeit verdammte. Nie hielt sich ein Faltenwurf lange, edle Stoffe zerknitterten zwangsläufig, und Stickereien, die zuvor durchaus kunstvoll gewirkt hatten, schienen an ihm nurmehr rustikal.
    Dexter hatte den Kopf in die Hand gestützt, und eine grüblerische Furche stand zwischen den Brauen. Er war etwas zu früh zur abendlichen Cena der Familie erschienen. Die Sklaven waren noch bei den letzten Vorbereitungen. Und so wartete Dexter, versunken in große Gedanken über epoché und phainómena, auf das Eintreffen der anderen Familienmitglieder...

    Eine struppige Braue hob sich, wölbte sich, und asymmetrische Falten zeichneten sich auf Dexters breiter Stirn ab, als sein Bruder ihn nach dem Befinden ihrer Frau Mama fragte.
    "Davon vermagst du, Caius, mir wohl mehr zu berichten als ich dir."
    Lag doch bis vor kurzem das Mare Nostrum zwischen ihm und der Familie in Tusculum, während Scato in Rom nur eines Tagesreise entfernt gelebt hatte. Schließlich schilderte er dem Bruder doch:
    "Sie befindet sich wohl, nehme ich an. Sie spricht stolz von deinem Vigintivirat und deinen glänzenden Zukunftsaussichten. Und von Fusus... obgleich er noch immer rein gar nichts geleistet hat, wenn ich das recht verstanden habe?"
    Dexters Stimme hatte bei diesen Worten eine ungewohnte Schärfe angenommen. Fusus und er... das war ein Kapitel für sich.
    "Darüber hinaus hat sie, die große Maecena, wieder einmal das ganze Haus voller nichtsnutziger 'Künstler'. Für ein paar wertlose Kritzeleien, Gereime oder sinnlose Skulpturen schnabulieren sie Küchen und Keller leer, die Weinkeller insbesondere. Und lehren unsere jungen Stiefgeschwister lose Sitten." berichtete Dexter missbilligend. "Unser Stiefvater sagt schon gar nichts mehr dazu. Ausser dass er immer sagt: 'Ich sage schon gar nichts mehr dazu."
    Es war lange her, in der Tat. Dexter konnte nicht umhin, die lässige Art zu bewundern, mit der sein älterer Bruder sich gebärdete, wie selbstgewiss er - "In Rom ist es einfach nicht dasselbe " - vom Leben in der Hauptstadt sprach.
    "Vor den Toren haben die Leute das erzählt." gab er zur Antwort. "Dann war es wohl nur die Fama. Auf der einen Seite ist das schade... -"


    Indigniert verfolgte Dexter sodann den Auftritt des blonden Servus, wedelte mit der Hand vor der Nase gegen dessen saure Ausdünstung an.
    "Ist das dein Ernst?" fragte er Scato, ungläubig den Kopf schüttelnd, und unwillkürlich auch wieder ins Lateinische verfallend.
    "Mit so etwas verwahrlostem willst du dich umgeben? Warum verkaufst du ihn nicht an einen Ludus? ...Wobei ich zugeben muß, dass dein Ganove sich gestern nacht, als ich ankam, durchaus als tüchtig und tatkräftig erwiesen hat. Du mußt wissen, die Türsklaven waren extrem unverschämt. Sie wollten mich zuerst nicht einmal einlassen. Ich muß sie noch auspeitschen lassen. Wer ist hier im Haus dafür zuständig?"

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    Frei war er gewesen. Wie exotisch. Tanit lächelte ihm trotzdem jovial zu und plauderte weiter – er konnte ja nichts dafür dass er nicht so wie sie selbst von Geburt an zu den auserlesensten Sklavenkreisen gehörte. Sie hatte nichts gegen Freigeborene. Nein wirklich nicht. Nicht prinzipiell. Freigeborene waren oft so erfrischend. Und manche von ihnen waren ja recht talentiert und entwickelten sich zu guten Sklaven, mit der Zeit.
    Doch hatte sie die Erfahrung gemacht, dass ein hoher Anteil von ihnen seltsame Vorstellungen hegte. Und sich bisweilen um Nichtigkeiten willen in ernsthafte Schwierigkeiten brachte. Bei solchen Individuen hieß es gebührenden Abstand zu wahren, damit ihr Unglück nicht abfärbte... Hellhörig wurde sie, als sie vernahm, dass Angus die Stellung als Leibwächter wohl verloren hatte? Wenn das mal kein Zeichen war, etwas Vorsicht walten zu lassen.
    Er half ihr mit der Matratze, mühelos mit den starken Armen.
    "Danke!" rief Tanit, und warf sich zur Probe einmal selbst längelang darauf. Auf dem Boden war das Liegegefühl schon deutlich weniger komfortabel.
    "So sollte es gehen." entschied sie, schnellte wieder auf die Füße und drapierte Decke und Kissen ordentlich. Sie fand das alles ja etwas überspannt. Doch auf ihre Meinung kam es natürlich nicht an. Bestimmt war es nur eine Phase...
    Angus hielt sich bedeckt, seinerseits vorsichtig, als sie sich nach den Herrschaften erkundigte. Streng in Sinne von "gleich den Löwen vorwerfen", oder streng im Sinne von "ganz normal auspeitschen", das war hier die Frage.
    "Bestimmt nicht!" lachte Tanit abwehrend, "Ich bin ja nicht von Sinnen."


    Nachdem das Zimmer fertig gerichtet war, ging Tanit ihren Herrn holen. Und in der Tat schien ihm alles recht zu sein. Oder vielleicht war er auch zu müde um sich zu beklagen. Er rollte sich in die Decke und versank in tiefem Schlummer, während Tanit und Moloch sich von Angus alles wichtige zeigen ließen, und in der Küche sogar noch etwas zu essen abstaubten.
    Dieses war die erste Nacht. Auf die schon bald der erste Morgen folgte.

    Zum ersten Mal war Dexter in der Villa Flavia in Rom erwacht. Obgleich die Nacht nur kurz gewesen war, lies ihn die Neugier nicht weiter ruhen. Gewaschen, gekämmt und in eine frische Tunika gekleidet, trat er ins Triclinum, wo er seinen ältesten Bruder antraf.
    "Das ist er." gab Dexter trocken Antwort auf dessen Frage. Er sprach griechisch mit seinem Bruder, klassisches Griechisch, wie das die Gepflogenheit im Hause ihrer Frau Mama war. Ein unvoreingenommener Zuhörer hätte allerdings bemerkt, dass Dexters gepflegter attischer Oberklassenakzent unter den Auslandsjahren ein wenig gelitten hatte.
    "Sei mir gegrüßt, theurer Bruder."
    Und spottend fügte er hinzu: "Konntest du dich der Umarmung deiner Kissen - oder war es die einer lieblichen Hetäre? Oder eines noch lieblicheren Falerners? - endlich entreissen?"
    Kurz huschte ein Lächeln über sein Gesicht, als er seinem Bruder gemessen die Hand drückte. Seitdem sich in Athen ihre Wege trennten, hatten sie sich nicht mehr gesehen. Dexter war seitdem von einem schlaksigen Jugendlichen zu einem hochaufgeschossenen (noch immer schlaksigen) jungen Manne gereift, und insgeheim wartete er darauf dass sein großer Bruder Scato dies bemerken und gebührlich würdigen würde.


    "Meine Zeit am Museion ist vorüber. Vor drei Tagen kam ich in Tusculum an. Mama lässt dich und Fusus grüßen. Am gestrigen Tag ritt ich gen Rom. Doch die Soldaten haben uns nicht eingelassen. Ist das nicht allerhand? Darum fuhren wir in einem Boot, mit echten Schmugglern..."
    Ein Funke von Abenteuerlust blitzte da in Dexters Augen.
    "...heimlich in die Stadt. Was geht da vor? Ist es wahr, dass der Kaiser ermordet und die Republik ausgerufen wurde?"

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    Leichtfüßig huschte Tanit neben dem großen Britannier her.
    "Zwei Jahre, ach so. Wo hast du denn zuvor gedient? Bist du Leibwächter?" erkundigte sie sich mit einem bewundernden Blick auf seine imposante Statur. "Ich bin immer schon bei meinem Herrn, also seitdem ich mich erinnern kann. Mal hier mal dort." schwatzte sie munter weiter, lachte dann: "Ja, so heißt er, Moloch der Vierte seines Namens. Er ist ein ganz Lieber. - Danke dir, Angus."
    Es war wichtig einen zu haben, der wußte und erklärte wie es hier im Hause zuging. Zwar hatte Tanit die meiste Zeit ihres Lebens unter der gütigen Hand der Aemilia Lepida zugebracht, und dann auf Reisen mit ihrem Herrn, doch sie hatte damals auf den Gütern des Flavius Felix Dinge gesehen, an die sie niemals wieder zurückdenken wollte. Und gehört, dass es hier in diesem Haus ähnlich sein sollte. Dass man für Vergehen, die bei Aemilia Lepida nur einen milden Tadel nach sich gezogen hätten, hier, wenn man Pech hatte, schon mal bei den Löwen landen konnte. Um so wichtiger war es, sich auszukennen.


    Sie folgte Angus in das leere Schlafzimmer, sah sich um, und öffnete die Fensterflügel weit zum Lüften. Dann prüfte sie das Bett, stützte sich auf die Matratze und schürzte unwillig die Lippen.
    "Das wird ihm zu weich sein. - Viel zu dekadent und verweichlichend." sprach sie mit tiefer, gravitätischer Stimme, kicherte dann leise und griff an einer der Schmalseiten zu, machte Anstalten die Matratze vom Bett auf den Boden zu zerren.
    "Puh. - Sag mal, Angus... wie sind die Herrschaften hier denn so?"

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    "Mein Herr ist selbstverständlich der Bruder des Herrn Scato." stellte Tanit fest, verblüfft dass diese entscheidende Information sich zwischen Porta und Cubiculum des nicht erweckbaren Bruders anscheinend schon wieder verflüchtigt hatte.


    Während Dexter zunehmend ungeduldig die Stirn runzelte. Mit flavischer Absonderlichkeit in diesem Hause hatte er gerechnet, vorgewarnt durch seine Frau Mama, doch gewiss nicht mit unbotmäßigem Personal und einem solch über die Maßen in zähem Treibsande sich dahinschleppenden Ablauf der allersimpelsten und banalsten Aspekte seiner Ankunft.
    "Sagte ich es nicht bereits, Servus? Ich bedarf lediglich eines Bettes. Kümmere dich. Jetzt."


    Tanit sprang auf.
    "Ich helfe dir." bot sie Angus bereitwillig an, und folgte ihm.
    "Du arbeitest wohl noch nicht lange für die Familie?" fragte sie ihn, sobald sie das Atrium hinter sich gelassen hatten. "Wie heißt du? Ich bin Tanit. Ich stamme aus flavischer Zucht. - Und nun, wohin jetzt? Ausserdem, Moloch und ich, wir könnten dann schon einen Happen vertragen..."

    Die Augen mussten ihm zugefallen sein. Jäh sah Dexter sich einem fremden Sklaven gegenüber, den er nicht hatte kommen sehen. Er richtete sich auf, von den Kissen, auf die sein struppiges Haupt gesunken war, rieb sich die Augen, und wiederholte desorientiert:
    "..schläft?"
    Seine Leibsklavin Tanit, die neben ihm Platz genommen, so über ihren Herrn gewacht hatte, war es, die resolut das Wort ergriff:


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    "Mein Herr Quintus Flavius Dexter braucht zuerst einmal eine angemessene Unterbringung. Soll er denn hier im Atrium schlafen? Dann frische Kleidung und ein leichtes Nachmahl. Was ist das denn für ein Empfang für meinen Herrn? Wir sind den ganzen Tag und die halbe Nacht gereist, von Tusculum bis hierher geritten, und auf schwankenden Planken gefahren, mussten das Gepäck vor der Stadt zurücklassen, und dann wollten diese..." sie deutete Richtung Porta "...beiden Spezialisten uns nicht einmal einlassen, verdächtigten uns gar, Verbrecher zu sein!"


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    "Sind wir nicht. Ehrlich nicht." brummte Moloch mit tiefer Basstimme, redlich bemüht hilfreich zu sein.


    Müde stand Dexter auf und reckte seine Glieder.
    "Sssh ihr beiden. Ich bedarf lediglich eines Bettes. Am morgigen Tage wird sich alles finden."
    Erwartungsvoll sah er auf zu dem großen, barbarisch anmutenden Mann, ungeduldig dass er oder irgendjemand endlich seinem Wunsch Folge leiste. Dexter war entäuscht über diesen ungastlichen Empfang im Hause seines Großvaters, trotz später Stunde hätte er anderes erwartet, und er konnte dies, da seine Contenance, nach all dem heute erlebten etwas ausgehölt war, kaum verhehlen.
    "Was geht vor in der Stadt, dass die Wächter so verschüchtert sind?"
    fragte er ahnungslos den Sklaven seines Bruders,
    "Sind es Proskriptionen, oder Bandenkriege? Ist es wahr, dass die Republik ausgerufen wurde?"

    Zerstoben war der weite Weg, verweht Meile um zurückgelegte Meile, schon begannen die unerhörten Begebenheiten des vergangenen Tages und dieser Nacht in einen wohligen Nebel der Müdigkeit zu sinken.
    Gleichsam sank der junge Dexter auf eine Kline und gähnte wie ein Nilpferd. Seine Sklaven drapierten sich zu seinen Seiten. Tanit schräg hinter seiner linken Schulter.
    Moloch rechts. Während sein Herr den beiden Custodes nicht mehr Beachtung schenkte als der sonstigen Möblierung, richtete der grobschlächtige Koloss seine kleinen Schweinsäuglein mißtrauisch auf die Mißtrauischen.

    Nun endlich schien die Verwirrung ein Ende zu haben. Flavius Dexter trat ein, gefolgt von den zwei Sklaven. Die schmutzigen Reisecalcei patricii streifte er noch im Vestibulum von den Füßen. Darauf heftete sein Blick sich auf den Servus, welcher ihm so frech hatte die Türe weisen wollen, und darob die natürliche Ordnung der Dinge gestört hatte. Eine natürliche Ordnung, um die wieder herzustellen, Dexter dafür Sorge würde tragen müssen, dass dieser Sklave bestraft wurde. Dass das Personal einer harten Hand bedurfte, um reibungslos zu funktionieren, das hatte Dexter anhand der Vorbilder seines Vaters und Großvaters schon früh gelernt.
    Andererseits, so zweifelte der junge Anhänger des Pyrrhon seinen eigenen Gedankengang sogleich routinemäßig an Hatte der Servus zugleich standhaft seinem Befehl gehorcht, niemanden hineinzulassen. Sollte er also zugleich belohnt und bestraft werden? Oder wiegen jene beiden Implikationen seines Handeln sich gegeneinander auf?
    Er folgte dem Schein der Lampe.