Beiträge von Titus Pompeius Atticus

    Das... war... Atticus konnte gar nicht genau sehen, was alles passierte, und dann war es passiert. Da war Blut. Viel Blut. Und das krachende Geräusch von brechenden Knochen. Malmenden Zähnen. Das Fauchen und Grollen der Löwen. Eigentlich konnte er gar nicht hinsehen, aber er konnte auch nicht wegsehen. Wie der Rest der Zuschauer wohl saß er einfach da und starrte auf den toten Körper der Gazelle und das Blut auf der Schnauze des erfolgreichen Löwen.

    Auch Atticus bekam Wein. Aber sehr verdünnten. Trotzdem beschwerte er sich nicht, war das doch sein erstes Jahr als 'erwachsener Mann'. Abgesehen davon schmeckte das Zeug sowieso gewöhnungsbedürftig.
    Warum er überhaupt hierher mitgemusst hatte, wollte Atticus so genau gar nicht wissen. Irgendwas für seine zukünftige Karriere, im Zweifelsfall. Er hatte die Nase schon sowas von voll davon, konnte dem aber wohl nicht entkommen. Also lächelte er gezwungen und schief beim Willkommensgruß des Consulars und schlürfte dann seinen verdünnten Wein, während er sich bemühte, an irgend etwas nicht total langweiliges zu denken. Nur mit einem halben Ohr hörte er dem Gespräch zu und verdr5ehte schon jetzt die Augen. Wenn das Thema jetzt schon in diese Richtung ging, dauerte es sicher nicht lange, und seine Mutter würde garantiert wieder die alte Geschichte erzählen, dass er als kleines Kind das Wort Waschlappen als Laschwappen ausgesprochen hatte und ähnlich einfach nur schrecklich peinliche Anekdoten, auf die er sehr gerne verzichten konnte.

    Das war es? Das sollte der Kuss sein? Da bekam Atticus ja herzlichere Küsse von der kleinen Schwester seines Freundes Marcus. Und die war vier Jahre alt! Das, das war ein Schmatz auf die Wange, aber doch kein Kuss!
    Atticus schaute zwar sehr zweifelnd drein, aber war nicht so blöd, jetzt auf einen richtigen Kuss zu bestehen. Er verurteilte sich eher selbst, dass er sich wegen diesem kleinen Schmatzer da so hatte verrückt machen lassen. Das hier, das war ja gar nichts, erst recht nichts, wovor man irgendeinen Bammel haben musste!


    So allerdings war das die perfekte Gelegenheit, um das eigene Selbstvertrauen zurückzubekommen und Tiberia Lucia noch ein paar Frechheiten mitzugeben. “Beim nächsten Mal besteh ich auf den Frosch“, meinte er frech und wischte sich leicht über die Wange.

    Ob Hamiris wirklich besser gefahren wäre, wenn das Rennen etwas anders verlaufen wäre, wusste Atticus nicht. Vielleicht wäre auch der Goldene besser gefahren, wenn der Neuling ihm nicht die Peitsche geklaut hätte. Atticus wusste nicht, nach welcher Grundlage man darüber vernünftig spekulieren sollte, also nickte er einfach nichtssagend vor sich hin und versuchte dadurch, etwas Zeit zu schinden.
    Aber seine Wettpartnerin schien in der Frage des Kusses leider nicht so vergesslich wie erhofft. Sie wollte nun auch seinen Namen wissen. Vermutlich, damit sie ihn noch häufiger küssen konnte, falls sie keinen Frosch fand. Aber was sollte Atticus tun? Sich nicht vorzustellen wäre ja schon sehr unhöflich. Und abgesehen vom küssen, dass man nun nicht objektiv als feindselig betiteln konnte, gab sie ihm keinen Grund, unhöflich zu sein.
    Da war er wohl durch Adhäsion und Kohäsion mittels eines nichtmetallischen Werkstoffes an einer Oberfläche befestigt....


    “Tja, wohl eine Frau mit Prinzipien“, schindete er noch etwas Zeit. Und nutzte die Gelegenheit, nochmal ein bisschen frech zu werden, um damit über seine eigene Nervosität hinwegzutäuschen. “Um Küsse mit Fremden zu wetten ist ja auch was gänzlich anderes“, zwinkerte er ihr kurz zu. Dann fiel ihm aber nichts dummes mehr ein (von etwas Klugem ganz zu schweigen).
    “Also, ich bin Titus Atticus filius Gaii Imperiosi aus dem Geschlecht der Pompeii“, stellte er sich auf die längste und komplizierteste ihm einfallende Art und Weise, inhaltlich aber korrekt vor. “Und du?“ kam noch die nächste Zeitschinde-Frage auch gleich hinterher. “Ich hab nämlich auch meine Prinzipien...“ Zum Beispiel, ihm unheimliche Dinge möglichst weit von sich zu schieben, zumindest soweit man ihm dadurch keine Feigheit unterstellen konnte.

    Eigentlich hatte Atticus zu diesem Treffen nicht mehr oder weniger Lust wie zu anderen dieser offiziellen, eindeutig mit Hintergedanken behafteten Treffen, an denen teilzunehmen er regelrecht gezwungen wurde. Allerdings konnte er sich trotz seines jetzigen Erwachsenenstatus wohl kaum dagegen wehren. Letztendlich war sein Weg schon von seiner Geburt an vorbestimmt, und er sah ja ein, dass diese ganzen Treffen nur dazu da waren, ihm eben jenen möglichst leicht zu machen. Das hieß aber nicht, dass er dafür größere Begeisterung aufzubringen imstande war. Zumal er gerade hier so gar nicht sah, was das ganze brachte, oder worüber er mit einem verdammten Consular denn reden sollte. Ein Kaiser war schon schwer genug gewesen, ein Consular war nicht einfacher.


    “Salve“, begrüßte er daher wenig redegewandt mit einer kurzen, winkenden Bewegung und bemühte sich anschließend, möglichst unsichtbar zu bleiben, damit er sich wenigstens mit seinen Gedanken in Ruhe beschäftigen konnte, die das Ganze hier vielleicht nicht allzu langweilig machen würden.

    Also, wenn er den Kuss jetzt nicht bekommen würde, müsste Proteneas schon Achsbruch erleiden. Dennoch fieberte Atticus die letzte Runde mit den Fahrern, hoffte auf einen doch überraschenden Sieg von Sotion, aber vergebens. Da war der rote Wagen schon als erstes über die Ziellinie gefahren und die Russata feierte selig ihren souveränen Sieg.


    Er hatte aber auch gar kein Glück!
    Verlegen sah er zu seiner Wettpartnerin und kratzte sich leicht im Nacken. Zum Glück schritt sie nicht sofort zur Tat, sondern gab ihm noch einen Moment, um sich zu sammeln. “Ja, als er an der goldenen Schnarchnase vorbei war, hat er noch gut aufgeholt“, pflichtete er so ihrem Urteil über Hamiris bei. “Aber fast schade, dass der eine abgedrängt wurde. Der hat ein gutes Rennen geliefert, und wär doch witzig gewesen, wenn ein Neuling gleich auf dem dritten Platz im ersten Rennen landet, nicht?“
    Sich noch ein wenig über das Rennen auszutauschen und so den Zeitpunkt etwas hinauszuzögern, erschien Atticus gerade goldrichtig. Wenn sie sich lange genug unterhielten, hatte sie es vielleicht auch vergessen.

    Im Grunde war es Atticus aufgrund des einen durch den Favoriten gewonnenen Wagenrennens nun nicht klar, wieso da nun ein bedingter Zusammenhang zu bevorzugten Factiones entstanden war, aber er musste ja auch nicht alles verstehen. Etwas hilflos mit dieser Feststellung zuckte er nur mit den Schultern. “Ich finde bisher alles gleich interessant, aber auf verschiedene Weise“, meinte er nichtssagend wie philosophisch.


    Der Kampf ging auch gleich weiter und Atticus war sowieso viel mehr auf das Geschehen in der Arena fixiert als auf den Gesprächspartner. Fasziniert betrachtete er das Vorgehen des Retiarius und war sich nicht sicher, ob dessen Überheblichkeit sich nicht im weiteren Verlauf gleich noch rächen würde.

    Achtzehn? Das war ja schon steinalt! Atticus hätte sie jünger eingeschätzt, jetzt war er dann doch zwar nicht im mindesten beeindruckt, aber doch überrascht. Und noch immer am Zweifeln, wozu Poesie auch in ein paar Jahren nützlich sein sollte.
    “In ein paar Jahren bin ich Eques. Ich weiß nicht, ob mein jeweiliger Kommandant dafür Verwendung hat...“, verbalisierte er dann doch einmal seine Bedenken.
    An das Ende dieses Rennens wollte er lieber gar nicht denken. Es war nur noch eine Runde, und er war wirklich drauf und dran, zu gewinnen! Was machte er denn dann? Wenn er sie wirklich küsste, dann, dann... er wusste ja noch nicht einmal, wer das war! Und wenn sie schon so alt war, war sie auch sicherlich verheiratet! Vielleicht hatte sie sogar schon Kinder...
    “Erlaubt dir dein Mann eigentlich, dass du mit wildfremden Männern Wetten abschließt und sie küsst?“ versuchte er, ein wenig zu sticheln, um dahinter seine eigene Unsicherheit zu verstecken. Vielleicht bekam sie ja jetzt ein schlechtes Gewissen oder sowas und kniff am Ende des Rennens. Oder ein Wunder passierte und Proteneas erlitt jetzt noch Achsbruch....

    Ohje, nicht schon wieder die Factio-Frage!
    “Es war mein erstes Wagenrennen. Meine Familie hat keine traditionelle Bindung zu irgendeiner Factio, und ich habe noch nicht genug Wagenrennen gesehen, um einen persönlichen Favoriten zu haben.“ Die Sache mit der Wette auf die Russata ließ er jetzt aus, sonst wurde er am Ende gefragt, wie es ausgegangen war. Und darüber wollte Atticus weder vor seiner Mutter, noch mit einem Fremden reden.
    “Und wieso ist Vera da unfrei bei den Favoriten?“ fragte er dann weiter höflich nach, da ihm das der einzige Anknüpfungspunkt an das Gespräch zu sein schien.


    In diesem Moment aber machte der Retiarius einen Treffer, und aufgeregt sprang Atticus auf, um vielleicht noch etwas mehr zu sehen. In diesem Fall sah er etwas Blut am Bein des Secutors herunterlaufen. Es war ein komisches Gefühl, auf der einen Seite aufregend, auf der anderen Seite auch schrecklich. Noch nie hatte Atticus gesehen, dass jemand so verletzt wurde.

    Die Jagd auf die Gazellen fand Atticus zwar durchaus interessant, aber nicht so fesselnd. Im Grunde waren es Variationen desselben Vorgehens. Erst mit dem Bogen ein Pfeil nach dem anderen, danach ein Speer nach dem anderen. Es gab kaum Unterschiede für ihn zu erkennen, und ein wenig hatte er Mitleid mit den Tieren, die nirgends hin fliehen konnten. Aber natürlich konnte er das nicht zugeben.


    Aber die Löwen, das war etwas anderes. Er konnte ihr Grollen bis zu sich hinauf hören, und sofort stellten sich alle seine Haare am Unterarm auf. Es waren große, herrschaftliche Tiere. Atticus hatte bisher nur Bilder von Löwen gesehen, auf Mosaiken oder als Schmuck auf Schatullen. Aber das waren die ersten beiden echten Löwen, die er sah. Und sie waren einfach wunderschön! So kraftvoll und groß! So muskulös! Fasziniert sah Atticus ihren geschmeidigen Bewegungen zu, wie sie den Sand betraten. Sah, wie sie die übrige Gazelle witterten. Wusste, was als nächstes passieren würde, bevor es tatsächlich passierte. Und in diesem Moment konnte er nicht sagen, jemals etwas gesehen zu haben, was ihn derartig zu fesseln vermocht hätte.

    Auf welche Art sollten Liebesgedichte denn nützlich sein? Atticus bezweifelte ja schon, dass der Moment wirklich mal kommen würde, wo ihm die Mathematik das Leben rettete. Aber bei der Dichtkunst hatte er nicht einmal mehr Zweifel. Das war ganz und gar unmöglich. Es würde ihm wohl nie jemand ein Schwert auf die Brust setzen und von ihm verlangen, nun ein besonders schönes Liebesgedicht aufzusagen, weil er sonst sterben würde.
    Das weibliche Geschlecht war wirklich so, wie alle Männer es gern und immer wieder betonten: verrückt.


    Noch so von der inneren Überzeugung der Nutzlosigkeit von Liebesgedichten beseelt, fragte das Mädchen dann auch nach seinem Alter. Atticus verstand den Zusammenhang jetzt endgültig nicht mehr. “Vierzehn. Einhalb.“ Atticus wollte nicht zu jung wirken und gab daher die bereits absolvierten sechs Lebensmonate noch hintendrein.
    Verwirrt sah er wieder zu ihr herüber und suchte noch nach dem Sinn der Frage. “Wieso? Wie alt bist denn du?“ Vielleicht wollte sie ja nur ihre Chancen ausrechnen, wie oft er sie küssen würde, oder sowas.

    Atticus hatte keine Ahnung, wieso sich der Helvetius, der sicher zehn Jahre älter als er war, eigentlich ausgerechnet mit ihm unterhielt. Normalerweise bevorzugten die Älteren auch ebensolche Gesprächspartner. Und besonders viele offensichtliche Gemeinsamkeiten, über die sie reden könnten, hatten sie wahrscheinlich auch nicht.
    “Jop, ich habe mir alles heute angesehen. Auch das Wagenrennen“, meinte Atticus daher vielleicht etwas knapp. Aber er wusste wirklich nicht, was er da jetzt erzählen sollte. Oder ob der Helvetius sich hier nur höflichkeitshalber mit ihm als Jugendlichem unterhielt, wie es die Erwachsenen – Moment, er war ja nun auch einer! – die Alten manchmal taten. Hauptsächlich, weil sie sich mit der Mutter gut stellen wollten, indem sie Interesse an den Kindern heuchelten.
    Auf der anderen Seite schleppte seine Mutter ihn auch immer zu eben solchen Anlässen mit, wo irgendwer gezwungen war, sich mit ihm zu unterhalten. Zuletzt selbst der Kaiser. Natürlich wusste Atticus, dass sie das tat, damit alle Welt ihn kannte und er es bei seiner Karriere irgendwann einmal einfacher hätte. Trotzdem empfand er das wohl als mindestens genauso anstrengend, wie sonst sein Gegenüber.
    Allerdings hatte der Helvetius eigentlich keinen Grund, sich mit ihm näher zu beschäftigen. Was aber das Urteil über den Anlass des Gespräches auch nicht vereinfachte. Höflichkeitshalber bemühte sich Atticus also um Konversation und schloss seine kurzen Worte mit einem: “Und du?“

    Der Frosch hatte wohl nichts mit der ganzen Sache zu tun. So langsam bekam Atticus doch ein wenig Angst. Ein Kuss war schon erschreckend genug, aber wenn er jetzt gerade richtig zusammen gezählt hatte, waren sie jetzt schon bei dreitausenddreihundert Küssen! Und er bezweifelte, dass irgend ein Mann der Welt für so etwas genügend Spucke hätte.


    “Äh... nein, von Catullus haben wir auch nichts gelesen. Mein Lehrer konzentriert sich mehr auf... Mathematik und Philosophie. So... Euklid von Alexandria, Thales von Milet, Plato, Sokrates, Aristoteles, auch Euklid von Megara, oder Zenon von Kition. Gedichte sind für ihn mehr was... für...“ Atticus schaute nur kurz zu ihr herüber bei diesen Worten. Seine Ohren waren mittlerweile doch ansehnlich rot. Zum Glück hing sein struppeliges Haar darüber. Aber sein Lehrer hatte doch irgendwo recht! Gedichte, gerade Liebesgedichte, das war was für Mädchen!

    Atticus hatte nur kurz zu den Neuankömmlingen rübergesehen und zur Begrüßung halbherzig gewunken. Sein Blick galt dem Kampfgeschehen unten, von dem er keinen Augenblick verpassen wollte. Dem Gespräch seiner Mutter hörte er daher auch überhaupt nicht zu.
    Ein wenig wurde er aufgeschreckt, als er auf einmal angesprochen wurde. Kurz zuckte er zusammen und schaute nur schnell zur Seite. Beim Antworten galt sein Blick aber schon wieder der Arena. “Es sind meine ersten, ich hab keinen Vergleich. Aber es ist spannend.“


    Sim-Off:

    Da noch nichts vorbei ist, will ich auf das abschließende Urteil jetzt noch nicht eingehen ;)

    “Ja, komm, du Faulpelz“, murmelte Atticus in seinen vorhandenen Bart. (Immerhin hatte er ganze drei Haare auf seiner Oberlippe gezählt. Nur weil diese Blond und flaumig waren und man sie nur sehen konnte, wenn man ganz dicht vor dem Spiegel stand, hieß das ja nicht, dass das nicht als Bart galt.) Er wollte das Mädchen neben sich ja nicht gleich so vernichtend bei der Wette schlagen. Da kam er sich irgendwie unfair vor. Auch wenn er ihr von Anfang an gesagt hatte, sie solle auf Proteneas setzen.


    Als sie dann aber die Amores erwähnte, bemühte sich Atticus absolut, seine Augen auf der Rennstrecke und nur auf der Rennstrecke zu lassen. Liebesgedichte. Das war bei Ovid ja vielleicht auch naheliegend, war er doch auch der Autor der ars amatoria.
    Und das war ein Ratgeber von Ovid, wie man Frauen verführen konnte – oder Frauen die Männer – und wo man sich am besten zum Stelldichein traf.
    Natürlich hatte sein Lehrer sie weder das eine, und erst recht nicht das andere lesen lassen. Seine ungefähre Aussage zu allen Liebeselegien konnte man wohl mit 'Schund' übersetzen, und der Ratgeber von Ovid hatte einige weit unschmeichelhafteren Ausdrücke über sich ergehen zu lassen.
    “Ähm... wir haben nur die Metamorphosen gelesen... um den Hexameter zu üben...“, gestand er halblaut und ließ seinen Blick weiterhin auf der Rennbahn. Auch wenn die Wagen gerade alle auf der anderen Seite waren.
    “Aber Homers Ilias haben wir gelesen. Den Gesang mit Hectors Tod, den fand ich sehr... gut.“ Wie wohl jedem Jungen hatte ihm die Beschreibung des Kampfes gefallen. Auch wenn Hector hier unterlag, obgleich er diesen weitaus mehr schätzte als Achilles, der ihn getötet hatte.

    Kurz musste Atticus überlegen. Er kannte das Zitat, aber ganz auswendig konnte er nun doch nicht alles, was er jemals gelesen hatte. Allerdings hatte er nun auch wieder nicht so viele Gedichte gelesen, die im klassischen Hexameter geschrieben waren. Und davon gab es auch noch weniger Geschichten, die irgendwas mit Fröschen zu tun hatten.
    “Magst du Ovidius?“ fragte also Atticus so nebenbei, als er die Zeile dann zugeordnet gekriegt hatte. Zumindest glaubte er, dass die Zeile aus den Metamorphosen war. Es klang so danach und würde zur Geschichte von Latona passen. Aber ganz auswendig wusste er das nicht mehr. Sein Lehrer hatte sich mit Ovidius Naso nicht so lange aufgehalten und war eher zu den philosophischen Schriften übergegangen. Gedichte waren was für Mädchen. Vermutlich ein Grund, warum dieses hier eben jenes kannte.

    Sie wollte ihn küssen? Dafür gab es drei mögliche Erklärungen.
    Erstens: Sie fand ihn noch schlimmer als jeden Frosch und war felsenfest von Hamiris Sieg überzeugt.
    Zweitens: Sie fand den Frosch viel schlimmer als ihn und wollte lieber nur einen kleinen Einsatz bringen.
    Drittens: Das alles hatte mit dem Frosch nichts zu tun und aus einem Atticus unbekannten Grund brauchte sie eine Ausrede, um ihn küssen zu können. Warum auch immer sie das wollte.
    Natürlich war es im Gespräch mit seinen Freunden so, dass er schon hunderte von Mädchen geküsst und mit mindestens einem Dutzend geschlafen hatte. Natürlich wusste er in solchen Gesprächen ganz genau, was die Mädchen so wollten und er war – genau wie alle anderen – der Traum deren schlafloser Nächte. Aber doch nicht in der Realität! Er hatte doch keine Ahnung, warum das weibliche Geschlecht die Dinge tat, die es tat, und was irgendjemanden dazu brachte, einen anderen küssen zu wollen. Wenn er hier und jetzt also auf die Lösung dieser uralten Menschheitsfrage 'Was will eine Frau eigentlich?' gefunden hatte, würde er wenigstens auch gerne wissen, wie die Antwort lautete.


    So oder so hatte er aber keine Antworten, nur noch mehr Fragen. Aber wenigstens hatte er einen passenden Kommentar: “Quak!“ Verschmitzt zwinkerte er ihr einmal zu und schaute gebannt auf das Geschehen beim Rennen. “Und das war einer von den drei neuen Fahrern. Ich kann die aber nicht so gut auseinanderhalten.“ Auch wenn er nun insgeheim hoffte, dieser Fahrer würde nun tatsächlich gewinnen. Oder einer der beiden Goldenen, die dahinter kamen. Dann hätte keiner von ihnen beiden gewonnen, und sein erster nicht-erfundener Kuss wäre noch ein wenig aufgeschoben.

    Was er wollte, dass sie tun sollte? Irgendwie kannte er das anders. Eigentlich musste sie doch von sich aus etwas setzen? Oder nicht?
    Für einen Moment hatte sie Atticus wirklich erwischt, so dass ihm keine schlagfertige Antwort darauf einfiel. Sein “Äääääh“, war auch nicht wirklich beredter – und zum Glück wurde dies nicht von seinem Lehrer gehört. Der hätte ihm für diesen ungebildeten Laut eins mit dem Lineal übergezogen. Aber was sollte er schon sagen? Sie würde wohl kaum den Einsatz halten können und auch einen Pferdestall ausmisten. Außerdem wär das auch eine unfaire Wette, da der rote Wagen der Favorit war und Hamiris nicht. “Pff, keine Ahnung? Einen Frosch küssen?“ Atticus hob hilflos die Schultern. Er hatte doch wirklich keine Ahnung, wie Mädchen sowas üblicherweise handhabten. “Wie sicher bist du dir, dass Hamiris gewinnt, und was setzt du darauf?““ Atticus zuckte noch einmal mit den Schultern.


    Lange konnte er sich aber nicht weiterwundern, weil ihn ein oranger Funkenregen ablenkte. Einer der unbekannten Fahrer hatte eben den zweiten roten Wagen an die Mauer gedrängt. “Whoa! Hast du DAS gesehen?“ fieberte Atticus und reckte seinen Hals, um vielleicht doch noch etwas mehr zu sehen. Aber der Moment war genauso schnell vorbei, wie er gekommen war.

    Ein bisschen verdutzt schaute Atticus schon zurück, als das Mädchen ihn über die Bedeutung ihrer Schalfarbe aufklärte. Frauen trugen doch ständig irgendwelche pallae in sämtlichen Farben, die konnten ja nicht alle was auch noch bedeuten! Oder naja, wenn's nach den Frauen ging, wahrscheinlich schon. Aber die waren auch alle gelinde gesagt verrückt. Und warum die meisten seiner Freunde inzwischen einigen von diesen Verrückten hinterherhecheln ließ, machte das ganze nicht unbedingt logischer.
    So oder so hatte Atticus ja aber nur helfen wollen, so dass ihn der Rüffel nun weit weniger traf, als von seiner Gesprächspartnerin vielleicht vermutet – oder beabsichtigt. Im Gegenteil, er sah die Worte jetzt eher als Herausforderung an.
    “Das wär wohl wirklich ein blaues Wunder, meinte er frech grinsend und fieberte im Grunde die restliche Runde nur darauf, auf welchem Platz nun der blaue Wagen wirklich landen würde. Am Ende aber war Proteneas ein ganzes Stück vor Hamiris, und Atticus sah sich nur noch mehr in der Statistik bestätigt. Dementsprechend wurde sein Grinsen noch breiter und thriumphierender. “Er lässt den anderen nur Vorsprung, um es spannender zu machen?“ schlug er dem Mädchen als mögliche Erklärung vor. “Also, wenn er dass jetzt noch gewinnt, dann... dann...“ Dann... ja, was? Jetzt war er am Rand einer Wette, und ihm fiel kein passender Einsatz ein. Immerhin musste die Veneta-Verteidigerin ja auch dagegenhalten können. Und wenn er jetzt etwas vorschlug, was er mit seinen Freunden sonst machen würde, wäre das für sie wohl eklig. Sie würde wohl kaum einen Regenwurm essen. Vor ein paar Jahren wäre 'ein Mädchen küssen' auf der Eklig-Skala direkt dahinter gekommen, wenngleich dieser Einsatz beträchtlich an Schrecken verloren hatte. Und Mädchen an sich waren bei dem Thema ohnehin... anders. Also, was blieb dann übrig?
    “...dann... geh ich morgen zu den Ställen der Veneta und miste die für ihn aus!“ Na, das war doch mal ein Einsatz! Mal schauen, ob sie sich traute, dagegen zu halten.