Fast alle Gäste waren mittlerweile vom Tisch weggetreten und amüsierten sich einige Schritte davon entfernt beim Armdrücken, Tanzen, Singen und Trinken. Unbemerkt nahm Curio daher seinen Becher hoch, nickte nochmal eine paar Gästen zu, die grade zu ihm blickten und ging dann mit dem Becher in der Hand zurück zu jenem Baum, auf dessen Ast das Taubenpaar ein bisschen unbeteiligt herumpickte, aber nicht davon flog. Auch nicht als Curio nun wieder näher kam, ganz im Gegenteil schienen sie immer wieder einen Blick auf den jungen Helvetier zu werfen, ganz so, als wären sie nur für ihn hergekommen und würden nun etwas von ihm erwarten. Curio fühlte, je näher er ihnen kam, eine für ihn unerklärliche Freude, die im vollkommenen Gegensatz zu seiner eigentlichen Gefühlswelt lag, die irgendwo zwischen Angst und Verzweiflung changierte. Er wollte Silvana nicht verlieren, er durfte sie nicht verlieren!
Erneut blickte er sich nun um und entschied sich, in den Schatten des Baums zu treten, wo man ihn nur sehen könnte, wenn man ihn ganz gezielt genau dort am Baum suchen würde. Endlich brach sich nun auch seine Anspannung komplett Bahn, er lehnte sich mit der freien Hand an Baum an und musste erstmal mehrfach tief durchatmen. Ein Schock war es, nicht weniger, als sein Patron ihm eröffnet hatte, dass es, entgegen seiner Erwartungen, nun doch schon relativ konkrete Pläne für die Verheiratung Silvanas gäbe. Seine Lippen zitterten leicht und hätte er sich nicht so gut unter Kontrolle, wäre wohl eine Träne seine Wange hinunter gelaufen. Wie ein tiefes Loch in seinem Herzen wirkte die Nachricht nach und hatte wohl nur den einen kleinen Lichtschimmer, dass sie sich im schlimmsten Fall wenigstens nicht immer über den Weg laufen und daran erinnern lassen mussten, wie sie füreinander empfanden und dass die Empfindungen schlichtweg von der Gesellschaft nicht erwünscht waren....
Es dauerte einige Augenblicke, bis er sich in der Lage sah, das zu tun, was er hier vorhatte, in der Hoffnung, dass er die Zeichen auch tatsächlich richtig gedeutet hatte. Seine freie Hand ergriff nun die unebene, rauhe Rinde des Baums, löste sich von ihr und und richtete die Handfläche nach oben Richtung Himmel - und Baumkrone, wo die beiden Tauben immer noch saßen und scheinbar warteten, was gleich passieren würde. Dann erhob Curio die Stimme. Sie war nicht laut, vielleicht grade so laut, dass die Tauben ihn hören könnten, aber auch so leise, dass man ihn nicht ohne weiteres belauschen konnte.
Liebliche Venus! Überlegte Venus! Siegreiche Venus! Göttin der Liebe und Herrscherin über alle Liebenden. Du bringst die Liebenden zusammen und mehrst ihre Liebe zueinander. Zu dir spricht, Iullus Helvetius Curio, ein römischer Bürger, der seit längerem von deiner Macht eingenommen wurde und sich glücklich schätzen darf, dass seine Liebe erwidert wird von einer jungen Frau namens Duccia Silvana, die du als Freya unter dem Namen Runa kennst. Nun hast du die Pläne ihre Vaters für ihre Zukunft gehört.
Zumindest hoffte er das...
In deinem Sinne, der wahren Liebe zueinander, möchte ich dich um zwei Dinge bitten. Einerseits bitte ich dich darum, in dem clarennischen Pontifex Sextus Fundanius Ticinius die Liebe zu einer anderen heiratsfähigen und heiratswilligen Frau als Duccia Silvana zu entfachen und ihn mit dieser anderen Frau zusammenzubringen. Dafür verspreche ich dir ein blutiges Opfer im Schrein des Bonus Eventus, umgehend nachdem ich davon hören sollte. Zum zweiten bitte ich dich, in untertänigster Weise, darum, dass du Duccia Silvana und mir beistehst und einer Hochzeit zwischen uns beiden den Weg ebnest. Dafür verspreche ich dir ein großes blutiges Opfer im Schrein des Bonus Eventus am Tage nach meiner Hochzeit mit Duccia Silvana und einen Weihestein an der Via Borbetomaga, wo ihn jeder Vorbeireisende sehen und dir dort huldigen kann.
Das war einiges. Doch das war es ihm wert. Er konnte Silvana nicht an irgendeinen clarennischen Pontifex verlieren. Es ging einfach nicht. Es durfte einfach nicht so sein.
Als Zeichen der Ernshaftigkeit meiner Bitten bringe ich dir diesen Wein dar, in der Hoffnung, dass es dir als als Vorausschau auf die zukünftigen Opfer ausreichen möge.
Vorsichtig neigte er den Becher und der Wein floss langsam, beinahe bedächtig über eine oberirdische Wurzel des Baums in den Boden darunter und versickerte schließlich. Mit einer Wendung nach rechts schloss Curio das Gebet ab und erneut musste er sich mit der freien Hand am Baum festhalten, um nicht zu wanken. Dann legte er den Kopf in den Nacken und wartete auf ein Zeichen...