Beiträge von Aurelia Corvina

    Nach dem zweiten Vorlauf hatte Corvina sich glücklicherweise weitestgehend zurückziehen können. Die Menschen interessierten sich mehr für die Pferde, die Jongleure und das Essen als für das Mädchen, das das Startsignal gegeben hatte. So konnte sie wieder in die relative Sicherheit der Unsichtbarkeit zurückkehren und sich zwischen den ihr zugeteilten Leibwächtern aufhalten. Gerne hätte sie auch wie die vielen anderen Zuschauer einfach nur das Spektakel genossen und sich eine schöne Zeit gemacht, allerdings war ihre Aufgabe doch zu repräsentativ gewesen, um jetzt wirklich in der Menge untergehen zu können. Abgesehen davon warf das Finale ja auch bereits seine Schatten voraus, und egal, wo sie hinging, sie würde wieder hierhin zurückkehren müssen, um das Finale einzuläuten.


    So hielt sie sich während der Wartezeit beim Startpunkt des Rennens und versuchte, sich so gut es geht, ablenken zu lassen. Kurzzeitig sah auch ihr Onkel vorbei, allerdings machte es das ganze nicht wirklich besser. Auch, wenn er ihr beteuerte, wie gut sie sich hielt, baute dies in ihr viel mehr den Druck auf, ihn erst recht nicht enttäuschen zu wollen.
    Sie versuchte, zu sehen, ob sie unter den Zuschauern vielleicht ein bekanntes Gesicht sah, allerdings waren die wohl eher am Endpunkt der Rennstrecke zu finden. Sie sah zumindest niemanden, den sie kannte.



    Und nach einigen Stunden, ein paar Erfrischungen und noch viel Nervosität kam schließlich, von Fanfaren angekündigt, der Höhepunkt des Tages. Auch wenn Corvina nun schon zweimalig ein Startsignal gegeben hatte, war ihr dieses Mal besonders flau im Magen. Es schien, als wären noch viel mehr Menschen anwesend als noch am Vormittag. Und vor allen Dingen schien es jetzt auch lauter zu sein, denn jede teilnehmende Factio hatte mindestens einen Fahrer im Rennen und damit eine Chance auf den Sieg. Das ließen sich die jeweiligen Fans dann wohl nicht entgehen.


    Die Wagen wurden wieder in einer Linie aufgereiht. Der Lärm schwoll an, Pferde scharrten mit denn Hufen. Ihr Wiehern und Schnappen ging im Lärm der Menge unter. Corvina blickte zum Ende der Rennbahn, wo ihr Onkel war, konnte ihn auf die Entfernung aber natürlich nicht erkennen. Er war nur ein kleiner Punkt unter vielen weiteren, daher konnte sie keinen Mut aus seiner Gegenwart schöpfen oder sich rückversichern bezüglich der richtigen Zeit.
    Dennoch war sie sich sicher, dass jetzt alles nur auf sie wartete. Wieder stieg sie auf ihre Empore, diesmal ein langes, weißes Tuch in beiden Händen. Als sie oben ankam, breitete sich Stille um sie herum aus. Alle Augen schienen wieder auf sie gerichtet, niemand sagte etwas. Es schien Corvina, als würden alle gerade jetzt Luft holen. Sie hob die Arme, und ließ das Tuch fliegen. Und noch rascher, als die Stille zuvor, brach sich eine Welle von Rufen die Bahn, die die vorbeidonnernden Wagen begleitete.

    Corvina entfuhr eben jener hohe Ton, den nur junge Frauen hervorzubringen imstande waren und auch nur dann, wenn es um Babys ging. Oder Kätzchen und Hundewelpen.
    “Ein Baby!“ sagte sie in diesem freudig entrückten Tonfall, der mit dem vorherigen Ton oft einherging und ergriff noch einmal Priscas Hand, anstatt sich wie die anderen zu setzen. Es war so aufregend!
    “Oh, ich freu mich so für dich! Für euch beide!“ bekräftigte sie noch einmal ihre Zuneigung und drückte noch einmal sanft Priscas Hand, ehe sie sich doch an die Tischsitten erinnerte und brav zu ihrem Platz neben ihrem Onkel ging. Auch sie ließ sich einen Becher mit dem süßen Saft geben, konnte sich in ihrem Korbsessel aber nicht ganz entspannt niederlassen. Diese Ankündigung war viel zu aufregend. Also saß sie leicht nach vorne gebeugt, um so auch kein Wort, das Prisca oder Gracchus dazu zu erzählen hatten, zu verpassen.

    Sie war spät dran! Corvina war noch bei ihrer Freundin Lucretia gewesen und beim Weben und Reden hatte sie sich etwas in der Zeit verschätzt. Sie konnte nur hoffen, dass sie nicht ernstlich zu spät wäre, als sie ihre Straßenschuhe von draußen gegen die weichen sandalae für drinnen tauschte. Aber Reunan beruhigte sie, dass die Gäste auch gerade eben erst eingetroffen wären.
    Sie straffte also einmal ihr blaues Kleid und fühlte vorsichtig nach ihrer Frisur. Aber alle Haarnadeln schienen noch dort, wo sie hingehörten. Eigentlich hatte sie vorgehabt, sich für den Abend umzukleiden und neu zu frisieren, da es aber ein Familienessen war und sie ohnehin schon spät, entschied sie, dass wenn sie hübsch genug für einen Besuch bei den Lucretii war, sie auch hübsch genug für ein Abendessen mit der Familie wäre.


    So trat sie also ein, als alle gerade noch dabei waren, sich zu begrüßen, und schummelte sich möglichst unauffällig an die Seite ihres Onkels, ehe auch sie die Gäste begrüßte. Natürlich zuerst ihre Cousine mit einem züchtigen, kleinen Kuss, wie es sich unter Verwandten gehörte. “Prisca, es ist so schön, dich wiederzusehen. Ich wollte dich besuchen, aber andauernd kam etwas dazwischen. Du musst mir nachher unbedingt erzählen, wie es dir geht, und natürlich auch von Cornelia“, plapperte Corvina mit ehrlichem Bedauern und echter Sorge in der Stimme. Zum Lügen war sie eindeutig nicht geschaffen, und so konnte sie auch nicht verbergen, dass sie bei den jüngsten Todesfällen im Haus der Flavier oft an ihre Cousine hatte denken müssen. Es war aber auch schrecklich! Corvina kam es wie gestern vor, dass sie noch auf der Hochzeit von Flavius Scato und Claudia Sassia gewesen war, oder auf der von Flavius Gracchus Minor und Cornelia. Und jetzt waren sowohl Scato als auch Sassia tot. Es war immer tragisch, wenn junge Menschen starben, die noch ein halbes Leben vor sich hatten.


    “Flavius Gracchus, es ist auch eine große Freude, dich wiederzusehen“, begrüßte Corvina auch den Consular – ohne Küsschen. Es kam ihr immer noch komisch vor, bei ihm aufgrund der verwandtschaftlichen Verhältnisse den Rang weglassen zu dürfen. Aber noch vertraulicher konnte sie beim besten Willen nicht werden, ohne mindestens ohnmächtig dabei zu werden. Und dabei hätte sie ihn so gerne das ein oder andere gefragt. Insbesondere, was aus Scatos Klienten wurde – oder besser gesagt einem ganz bestimmten. Aber dafür würde sie wohl auf eine sehr, sehr, sehr günstige Gelegenheit warten müssen, um auch nur etwas zu erfragen, dass auch nur ansatzweise in diese Richtung ging.


    Valerius Flaccus erhielt ein eher schüchternes “Valerius“, begleitet von einem freundlichen Lächeln und einem kleinen Nicken. Alles natürlich auf sichere Entfernung. Sie war unverheiratet, er war unverheiratet und nur einige Jahre älter als sie, und sie wollte auf gar keinen Fall, dass jemand auch nur auf den Hauch eines falschen Gedankens kommen würde. Sie kannte den jetzigen Klienten und vorherigen Tiro ihres Onkels ja nun doch eher flüchtig, wenngleich er ein Jahr lang ständiger Gast des Hauses gewesen war.

    Die Wagen preschten an Corvina vorbei, was sie mehr hörte als wirklich sah. Einen Augenblick blieb sie auf ihrem Podest stehen, den Blick starr aufs Wasser gerichtet, ehe sie sich wieder von starken Händen herunterhelfen ließ. Ihr Herz klopfte noch immer vor Aufregung, aber in dem allgemeinen Jubel, den Anfeuerungsrufen und dem darüber liegenden Kommentar des angeheuerten Ausrufer schien es niemand zu bemerken. Zumindest hatten alle die Höflichkeit, sie nicht diesbezüglich anzusprechen, falls sie etwas bemerkt hatten. Stattdessen erhielt sie etliche Komplimente, wie akkurat sie das Startsignal gegeben habe und wie schön sie dabei ausgesehen hätte.


    Nichts desto trotz war das nur eine kurze Verschnaufpause, denn allzu schnell war die Strecke am Strand von den Gespannen zurückgelegt, die Sieger ausgerufen und Vorbereitungen für den zweiten Start getroffen. So wurde also eine zweite Reihe Wagen an den Start geführt und von Helfern in einer geraden Linie ausgerichtet, und wieder musste Corvina ihr kleines Podest erklimmen.
    Die Aufregung war dieses Mal nicht wirklich kleiner als beim ersten Mal, dennoch erlaubte sie sich dieses Mal einen Blick über das Startfeld. Sieben Wagen mit je zwei Pferden standen da, und sieben Fahrer blickten gebannt zu ihr auf. Auch dieses Mal holte sie wieder ein kleines Seidentuch hervor und hielt es gut sichtbar in die Luft. Sie fühlte regelrecht, wie sich um sie herum Stille breit machte, als sowohl Fahrer als auch Publikum, ja vielleicht sogar die Götter und die Welt selbst den Atem anhielten und nur auf ihr Signal warteten. Corvina wartete nur einen Augenblick, bis sie die Spannung nicht mehr ertragen konnte, und ließ mit einer kleinen Handbewegung auch dieses Tuch wieder im Wind fliegen.

    Corvina war nervös. Weder war sie es gewohnt, im Rampenlicht zu stehen, noch fühlte sie sich dazu in irgendeiner Art berufen. Ihr Onkel hatte es ganz zweifellos als große Ehre für sie gemeint, und ebenso ohne Zweifel war es enorm wichtig, das Startsignal für die Rennen zu geben. In einem Hippodrom gab dieses Signal der Ausrichter gewöhnlicherweise selbst, eben aus diesem Grund. Ganz eindeutig war das also eine gewaltige Ehre, noch dazu für ein junges Mädchen.
    Dennoch hätte Corvina eigentlich lieber darauf verzichtet. Während ihr Onkel also mit dem Opfer an Neptun beschäftigt war, knetete sie nervös ihre Hände und versuchte, nicht zu sehr an die vielen Menschen zu denken, die sie ansahen. Hier am Startpunkt war es zwar nicht ganz so bevölkert wie am Endpunkt, aber immer noch waren beunruhigend viele Menschen unterwegs. Die auf den Beginn des Rennens warteten. Und darauf, dass sie es eröffnen würde...


    Corvina hatte das Gefühl, ihre Hände würden vor Schweiß gleich wegfließen. Zwar war es noch relativ früh und nun Anfang März alles andere als warm, dennoch war ihr fürchterlich heiß. Im Versuch, sich abzulenken, fing sie an, die Wellen zu zählen, die auf den Strand rollten. Eine nach der anderen, in einem ewigen Rhythmus, beinahe hypnotisierend.
    Sehr hypnotisierend, denn von ihr unbemerkt war das Opfer zu Ende gegangen und ihr Onkel zum Zielpunkt geritten. Auch hatten die Wagen des ersten Vorrennens nun Aufstellung genommen und warteten auf den Start. Ihr Startsignal. Und hätte man sie nicht dezent angestupst, um sie darauf aufmerksam zu machen, wäre es ihr wohl gänzlich entgangen.


    So aber schluckte sie und mühte sich ein höfliches Lächeln ab. Corvina ließ sich von einem der Klienten ihres Onkels helfen, eine kleine Empore zu besteigen. Es waren nur einige Treppenstufen aufwärts auf eine kleine Plattform, dennoch erschien es Corvina wie ein kleiner Berg. Als sie oben stand, blickte sie einmal über die wartenden Fahrer, die alle gebannt zu ihr hochsahen. Die Pferde waren unruhig, sie fühlten die Spannung des Moments.
    Starr richtete Corvina ihren Blick wieder auf die Wellen, während sie ein schönes Seidentuch hervorholte und nach oben hielt. Der Wind zerrte an dem leichten Stück Stoff. Einen Augenblick hielt sie es so hoch über ihren Kopf, und dann... ließ sie los.


    Zu ihren Füßen fühlte sie das Donnern, als die Gespanne sich in Bewegung setzten und die Hufe den Sand aufwirbelten. Sie hörte den Jubel der Menge, die den Start mit ihren Stimmen befeuerten. Aber ihr Blick blieb auf dem Seidentuch, das im Wind wie ein lebendiges Wesen tanzte, mal hierhin, mal dorthin, und hinaus aufs Meer schwebte. Einer der Fischer dort würde sich sicherlich über das Stück Stoff freuen, das mehr Wert besaß als sein Wochenfang.

    War Corvina bei der Hochzeit zwischen Iunia und Fabius noch bei der Begrüßung aufgeregt gewesen, war sie nun schon beinahe ein Nervenbündel. Zwar ließ sie sich äußerlich nichts anmerken, hoffte sie zumindest, aber ihr Herz klopfte schon seit dem frühen Morgen wieder wie wild. Sie hatte eine außerordentlich lange Zeit damit verbracht, sich für den heutigen Tag herzurichten, hatte die arme Sklavin ihre Frisur zwei Mal neu auftürmen lassen und war an der Frage, ob sie Make-Up auftragen sollte oder nicht, schier verzweifelt. Letztendlich hatte sie sich aber gegen Farbe entschieden, schon allein, weil sie nicht die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sich ziehen wollte. Lediglich ein Tupfen des teuren Parfums, das von Blumen aus dem Osten jenseits der Seidenstraße kommen sollte, an den Handgelenken und hinter dem Ohr, nichts weiter. Nungut, und ein himmelblaues Kleid mit schneeweißer Untertunika, beides aus Seide und ein wenig goldenen Schmuck.


    An der Seite ihres Onkels stieg sie aus der Sänfte und ließ sich von diesem Vorstellen. Abgesehen von Cornelius kannte sie in der Tat schon alle Anwesenden und begrüßte sie mit freundlich strahlendem Lächeln.
    “Salve, Flavius. Und salve, Cornelius. Ich freue mich, bei diesem freudigen Anlass heute anwesend sein zu dürfen“, bedankte sie sich bei den Eltern des Brautpaares auch artig. Da das Brautpaar sie nicht direkt angesprochen hatte, sondern nur ihren Onkel, begnügte sich Corvina hier auch mit der zweiten Reihe und schenkte beiden nur ein warmes Lächeln. Besonders freudig schien Gracchus Minor ihr nicht zu sein, jedoch hatte sie den jungen Mann bislang ohnehin nur ernst erlebt und schloss daher, dass er zu überschäumenden Gefühlen wohl einfach nicht neigte. Überhaupt galt ihm nur notgedrungen ihre Aufmerksamkeit, und sie war sehr dankbar, dass die Älteren auch sogleich zum kultischen Teil überleiteten. So konnte sie sich in Ruhe einmal kurz umsehen unter den Gästen. Denn heute war die Wahrscheinlichkeit zu ihren Gunsten. Flavius Scato würde doch gewiss seinen Klienten gesagt haben, sie sollten hier erscheinen, um die Position der Gens Flavia nach außen hin zu zeigen.
    Doch noch sah sie weder Flavius Scato, noch seine Klienten. Allerdings war das Fest ja noch früh und würde sicherlich erst im Laufe des Nachmittages zu seiner vollen Größe anwachsen. Sie jedenfalls war dieses Mal vorbereitet, und in der Sänfte wartete neben der Festkleidung ihres Onkels auch eine kleine, hübsch verzierte Wachstafel darauf, gebraucht zu werden.

    Natürlich hatte Corvina sogleich zugesagt, ihren Onkel zu begleiten, als dieser ihr die Einladung offenbart hatte. Zwar kannte sie weder Braut, noch Bräutigam, noch wusste sie, in welcher Beziehung die beiden zu ihrem Onkel standen. Doch war dies alles ohnehin nebensächlich, da eine Hochzeit in der besseren Gesellschaft Roms immer Anlass genug an sich bot, zu kommen, allein schon, um den anderen Gästen die eigene Anwesenheit zu zeigen. So lief man zu solchen Gelegenheiten immer wieder denselben Menschen über den Weg, nur mit der ein oder anderen Nuance Unterschied.


    Corvina hatte sich also ansprechend gekleidet und war mit ihrem Onkel hier hergekommen. Unter den anderen Gästen entdeckte sie auch Flavius Gracchus und ihre Cousine Prisca, und kurz machte ihr Herz einen Sprung. Waren vielleicht auch Flavius Scato und Claudia Sassia anwesend? Und hatten sie vielleicht den ein oder anderen Klienten mitgebracht? Zuletzt hatte Corvina Duccius Callistus ja ebenfalls auf einer Hochzeit gesehen und sich nach ihrem dafürhalten reichlich blamiert. Nichts desto trotz hatte sie durchaus den Wunsch, ihn wieder zu sehen, und die Zeit seit dem letzten Treffen erschien ihr unsäglich lange mittlerweile. Sie dachte auch an die Tafel, die zuhause in ihrem Cubiculum lag, am Boden einer Truhe mit persönlichen Dingen, die die Sklaven nicht anrühren sollten. Sie hatte noch keine Idee, wie sie sie Duccius Callistus zukommen lassen sollte, und was sie schreiben sollte, damit er sie behielt.
    Doch scheinbar waren weder Flavius Scato, noch sein Klient anwesend, zumindest konnte Corvina keinen der beiden entdecken, und allzu auffällig wollte sie den Kopf nicht verdrehen. Schließlich stellte sie ihr Onkel auch gerade vor, und ihre Aufmerksamkeit wurde daher beim Brautpaar benötigt.
    “Iunia, Fabius, es ist mir eine große Freude, euch beide kennen zu lernen und ich wünsche euch Iunos und Iuppiters Segen für den heutigen Tag und alle noch folgenden“, sagte sie also artig und mit einem Lächeln und hoffte, der Etikette damit Genüge getan zu haben. Ohne persönlichen Bezug fiel es ihr schwer, die richtige Form der Belanglosigkeiten festzulegen, über welche man sich unterhalten konnte. Auf der anderen Seite hatte das Brautpaar sicherlich mehr als genug zu tun.

    Ein wenig verwunderte es Corvina, als der Tiberius mit unerwarteter Zärtlichkeit die Wange des sterbenden Mädchens berührte. Sie fühlte sich mit einem Male so, als wäre sie in seine Privatsphäre unerlaubt eingedrungen und hätte einen wunden Punkt damit berührt, wenngleich sie keinerlei Ahnung hatte, was dies sein könnte. Und viel mehr noch fragte sie sich, womit sie diesen Einblick in seine Seele denn verdient hatte und weshalb er diesen nicht besser abschirmte, war sie doch sonst stets von Männern umgeben, hinter deren freundlichem Lächeln ihre wahren Absichten und Intentionen nur sehr selten durchschienen.
    Betreten sah Corvina beiseite und bemühte sich darum, sich weder etwas von ihrer Befangenheit anmerken zu lassen, noch davon, etwas vermeintlich bemerkt zu haben. Erst seine Stimme riss sie wieder ins Gespräch zurück, und nachdenklich betrachtete sie die Statuen. “Nun, als Venus Libitina kümmert sich die Göttin ja um die im Kampf Gefallenen. Allerdings sind ihre Darstellungen hier ansonsten welche in ihrer Eigenschaft als Verticordia oder Genetrix, insbesondere der Tempel. Wäre es da nicht passender, ebenso eher die lebensspendenden oder...“ Corvina bemühte sich, eine Formulierung zu finden, dass den Aspekt der Lust in weniger vulgäre Worte kleiden würde. “...körperlicheren Verkörperungen des göttlichen Handelns darzustellen?“ Wobei Corvina höchstwahrscheinlich sich weniger im Anblick von kopulierenden Statuen verlieren würde wie bei dem sterbenden Gallier oder der ein oder anderen Niobidengruppe. Überhaupt hätte der Garten dann einen sehr viel verrufeneren Beigeschmack als so und sie hätte wohl nicht die Erlaubnis ihres Onkels erhalten, hier allein herumzuschlendern. Oder fast allein, denn nach wie vor folgte in einigem Abstand ihre Anstandssklavin.

    Mehrere Tage schon hatte Corvina den Zauber unter ihrem Bett versteckt. Ob er wirken würde, wenn sie ihn vervollständigte, wusste sie nicht. Was sie aber sagen konnte, war, dass sie die letzten Tage immer und immer wieder von dem jungen Duccius geträumt hatte und jedes Mal beim Aufwachen nicht wusste, wie sie diese unendliche Sehnsucht nur befriedigen sollte. Es war furchtbar! Sie hatte ja noch nicht einmal mit ihm reden können! Warum also konnte sie ihn nicht einfach vergessen? Warum nur hielt ihr Herz so sehr daran fest, was ja doch nie sein würde?


    Nach Tagen des Zweifelns und Haderns also hielt sie es nicht mehr aus. Sie holte das Körbchen unter ihrem Bett hervor, in dem sie die Zutaten des Zaubers verstaut hatte, und setzte sich damit an das kleine Tischchen in ihrem Cubiculum. Ihr Herz klopfte wie wild, während sie nach und nach die einzelnen Teile hervorholte. Die Holztafeln, das Wachs, die Stöckchen. Alles noch da.
    Mit zittrigen Händen nahm Corvina die Holztafeln in die Hand und legte sie vor sich. Was sollte sie schreiben? Ihren Namen, seinen Namen, und ihren Wunsch. Corvina atmete einmal tief durch und ergriff mit zittrigen Fingern das Tintenfässchen auf dem Tisch. Die lange Gänsefeder dazu, mit frisch geschärfter Spitze. Sie atmete noch einmal tief durch und tauchte die Feder in die Tinte ein.



    So, da stand es. Ihr Name und der seine. Verliebt. Versprochen. Ja, das wünschte sie sich. So sehr wünschte sie sich das. Und trotzdem zitterte sie, wenn sie es nur da stehen sah. Wenn sie irgendjemandem davon erzählen würde, er würde sie auslachen. Und das war das harmloseste, was passieren könnte. Ihr Onkel wäre wohl enttäuscht von ihr, ihre Cousinen würden sie damit beständig aufziehen und vielleicht sogar erpressen, ebenso wohl die Sklaven. Am liebsten wollte Corvina das Tintenfass einfach über die Worte ausleeren und damit hatte sich das Thema. Aber auf der anderen Seite wollte sie auch wieder nicht. Ach, es war einfach zum Verzweifeln.
    So lassen konnte sie es aber keinesfalls. Also blies sie vorsichtig auf die Tinte und wartete, bis alles getrocknet war, ein Auge beständig auf der Türe zu ihrem Cubiculum, ob auch niemand hereinkäme und sie erwischen würde. Aber es kam niemand, und die Tinte trocknete. Corvina nahm das mit Kräutern vermischte Wachs zur Hand und strich es mit ihren Händen auf beide Tafelhälften, sorgfältig und energisch, bis schließlich eine dicke Schicht Wachs über dem Holz und der Schrift war und nichts mehr davon zu sehen war. Lediglich ihre Finger rochen nun sehr exotisch, ebenso wie die gesamte Tafel. Fehlte nur noch das letzte bisschen: Die Stöckchen, die die Tafeln auf Abstand halten würden, damit man auf ihnen Schreiben konnte. Doch hierfür benötigte sie erst einmal ein wenig Leim.

    Corvina legte mit kleinen, schlendernden Schritten also das Tempo ihres Spazierganges fest. Die Vögel sangen in den kunstvoll gepflanzten Bäumen, die hier und da mit ihren auslandenden Kronen ein wenig Schatten spendeten, während in der Sonne über den sorgsam gehegten Frühlingsblumen die Schmetterlinge tanzten.
    “Deine Prämisse lässt sich wohl nur schwer widerlegen. Vermutlich lässt es sich durchaus so zusammenfassen, dass jeder gute Künstler auch ein guter Handwerker sein muss, aber nicht jeder gute Handwerker auch ebenso ein großer Künstler ist.“ Corvina war weder das eine, noch das andere. Oh, sie hatte schon auch ihre Talente. Ihre gewebten Stoffe unterschieden sich kaum von jenen ausgebildeter Weberinnen, die ihre Stoffe auf dem Markt feilboten. Ihre Stickereien waren fein und akkurat. Sie wusste, wie man Blumen band und arrangierte, konnte sich notfalls selbst die Haare so richten, dass sie vorzeigbar war, man sagte ihr eine schöne Singstimme nach und sie konnte dutzende von Gedichten und Schriften rezitieren. Sie hatte sogar ein leidliches Talent für das zeichnen. Dennoch würde sie sich nie anmaßen, mit auch nur einem Künstler verglichen zu werden, dessen Werk hier zu sehen wär, oder sich irgendwo in den Mittelpunkt zu stellen und mit dem kläglichen bisschen, dessen sie fähig war, anzugeben.


    Sie kamen zu einer Niobidengruppe. Ein sterbender Jüngling, über seine tote Schwester gebeugt, beide von Pfeilen durchbohrt, und eine klagende Niobe über ihnen, die um das Leben ihrer Kinder zu flehen schien.
    “Auch traurig, nicht wahr?“, meinte Corvinna leise, während sie das Werk betrachtete. “Was meinst du, hat Iulius Caesar und später Sallust dazu gebracht, diesen wundervollen Garten nicht nur mit Statuen der Venus, sondern auch mit solch traurigen Szenen wie dieser oder dem sterbenden Gallier zu füllen?“

    Oh, wenn ihr Onkel wüsste, was sie hier tat, würde er sie wohl übers Knie legen, wenn nicht schlimmeres. Es war Corvina schon außerordentlich schwer gefallen ihn überhaupt darum zu bitten, heute das Iseum besuchen zu dürfen. Die Göttin war schließlich so weit weg von allem Etruskischem, wie man als ägyptische Gottheit nur sein konnte. Sie war noch nicht einmal eine wirklich römische Gottheit und das meiste ihres Kultes lag im Mysterium. Noch ein Grund, weshalb ihr Onkel den Kult argwöhnisch betrachtete und es nicht guthieß, Corvina in dessen Nähe zu wissen.
    Aber – und das war unbestreitbar – Isis war eine Zauberin und hier im Tempel konnte man die sichersten und zuverlässigsten Zauber in ganz Rom kaufen. Natürlich hatte Corvina das ihrem Onkel nicht als Grund genannt. Sie hatte etwas von weiblichen Beschwerden genuschelt und davon, der Göttin der Heilkunst hier einmal eine Chance geben zu wollen. Eine kleine Notlüge, aber wie könnte ihr Onkel, der Haruspex Primus, es jemals gutheißen, dass seine Nichte vorhatte, jemanden zu verzaubern?


    Zum Glück blieb ihre Geleiteskorte vor dem Tempel zurück, um ihr hier ein wenig Privatsphäre zu gönnen. Von einer der Sklavinnen hatte Corvina die Information, hier her zu gehen, und nun sah sie sich um. Sie sollte eine alte Priesterin ansprechen, in etwa ihre Größe... Corvina sah sich im Tempel um und suchte. Und suchte. Entschuldigend lächelte sie schon dem ein oder anderen Tempeldiener zu, weil sie hier so verloren herumstand, aber offensichtlich nicht angesprochen werden wollte. Erst, als sie ein wenig zwischen den Säulen wandelte, sah sie eine Frau, auf die die Beschriebung passte.
    “Bist du... bist du Thakara?“, fragte Corvina mit zittriger Stimme.
    “Wer will das wissen?“ fragte die alte Frau zurück. Corvina hoffte, sich die Losung richtig gemerkt zu haben und antwortete so leise wie möglich “Eine Liebende auf der Suche nach Hoffnung.“
    Als die alte Frau lächelte und einen Mund offenbarte, dem ein paar Zähne fehlten, glaubte Corvina schon, einen Fehler gemacht zu haben. Aber die Frau winkte sie mit sich und ging am Tempel entlang in ein kleines Nebengebäude des Tempels. Corvina sah noch einmal kurz zu ihrer Sänfte und ihrem Leibwächter, die aber brav warteten, und folgte dann unauffällig.


    Die ältere Frau führte sie in einen kleinen Raum, in dem allerlei Kräuter in Bündeln von der Decke hingen. Es roch sehr exotisch nach unbekanntem, und obwohl Corvina nicht gerade groß war, musste sie sich bücken, um nirgends anzustoßen. Thakara saß auf einem Schemel und wies Corvina einen Platz auf einem anderen Schemel zu.
    “Du willst also einen Liebestrank kaufen, ja? Oder einen Liebesfluch? Ich habe die stärksten, ich habe die besten. Dein Angebeteter wird nie mehr eine andere ansehen, sonst wird ihm seine Männlichkeit verfaulen und..“
    “Nein! Nein, ich will nur... einen ganz, ganz kleinen Zauber. Einen... Stups.“
    “Einen Stups?“
    Corvina nickte.
    “Was genau soll denn dieser... Stups... bewirken? Soll sein Glied bei deinem Anblick anschwellen und zucken? Oder soll ihn die Sehnsucht plagen? Soll er bei jedem Kuss an dich denken?“
    Corvina lief rot an, blieb aber tapfer sitzen. Sie hatte nicht gewusst, dass ein Zauber derart heftig und penis-orientiert sein würde. “Nein, er soll nur... ich möchte gerne, dass er von mir träumt.“
    “Träumen... ja, Isis wirkt gut durch Träume, Träume sind ein Blick in die Seele, und Isis ist Herrin der Seelen. Jaja. Was soll er denn träumen? Soll er sich im Traum mit dir vereinigen, ja? Willst du denselben Traum teilen?“
    Corvina wurde noch eine ganze Spur roter. Es war ja nicht so, als hätte sie genau das nicht schon völlig ohne Zauber geträumt. Sich vorzustellen, dass Callistus in genau derselben Zeit genau denselben Traum hätte... ihr wurde geradezu heiß und sie fühlte sich sehr ertappt.
    “N-Nein. A-Also ja, oder... er-er soll einfach von mir träumen“, stotterte sie zusammen und war sich des bohrenden Blickes der alten Frau nur zu deutlich bewusst.


    Thakara kaute ein wenig mit leerem Mund herum und nickte dann. “Gut, dann ein Stups. Warte hier.“


    Sie lief erstaunlich behende in dem kleinen Raum hin und her, holte hier ein wenig, dort ein wenig. Schließlich mischte sie einige Kräuter in einem Mörser und mahlte sie mit dem Stößel ganz fein, mische goldgelbes Bienenwachs dazu und knetete alles gut durch, bis sie einen wohlduftenden Wachsball hatte.
    Zusammen mit zwei durch einen breiten Lederstreifen verbundene Holzplättchen, ein paar Holzstäben und dem Wachs kam sie zu Corvina. “Gut, wenn du willst, dass er von dir träumt, dann gibt es einen verborgenen Zauber. Du schreibst deinen Namen und seinen Namen hier auf eine Holztafel, dazu das, was du von ihm wünscht. Danach bestreichst du die Platten mit dem Wachs und bastelst mit den Stäben hier eine Wachstafel daraus. Wenn der Zauber zuverlässig wirken soll, gibst du ein paar deiner Haare in das Holz, bevor du es verleimst. Dann gibst du ihm die Wachstafel, als Brief beispielsweise. Solange er sie besitzt, wird er dann von dir träumen. Also schreib irgend etwas darauf, das er behalten will. Der Zauber wirkt nur, solange die Tafel in seiner nähe ist. Hast du das verstanden?“
    Corvina hörte aufmerksam zu und nickte zuletzt ehrfürchtig. Es war ihr erster Zauber, und es schien fast schon verlockend einfach zu sein. Bis auf den Teil, dass sie Callistus etwas würde schreiben müssen. Sie konnte ja noch nicht einmal mit ihm sprechen, wie sollte sie ihm da schreiben? Doch als sie schon nach der Tafel greifen wollte, klopfte die alte Frau ihr mit erstaunlicher Geschwindigkeit auf die Finger.
    “Na, erst die Bezahlung. Fünfzig Sesterzen!“
    Nicht gerade ein Schnäppchen, und wenn man eine arme Handwerkerstochter wäre wohl unerschwinglich hoch. Doch Corvina nahm an, dass die alte Frau sehr wohl wusste, dass Corvina sich dies leisten konnte. Corvina kramte also in den Falten ihrer Palla und brachte schließlich einen kleinen Beutel hervor, aus dem sie die geforderte Summe herausholte. Thakara verstaute ihren Zauber in einem einfachen Leinenbeutel und gab ihn Corvina. Denk daran, der Zauber wirkt nur, wenn er ihn behält“ sagte sie noch einmal mit Nachdruck und ließ dann das junge Mädchen aus ihrer Kräuterstube gehen.

    DIES IST DER TEMPEL
    DER ISIS UND DES SERAPIS
    AUF DEM MARSFELD


    Der Kult der Isis wurde wahrscheinlich im 2. Jhdt vor Christus nach Rom gebracht. Cassius Dio berichtet, dass 53 v. Chr. vom Senat die Zerstörung aller ägyptischen Schreine innerhalb des Pomeriums angeordnet wurde. Allerdings beschloss der Senat bereits 43 v. Chr. den Bau eines Tempels für Isis und Serapis.


    Wenngleich der Kult der Isis unter Augustus zwischenzeitlich verboten wurde und Tiberius im Jahr 9 n. Chr. die verbliebenen Priester der Isis und des Serapis hinrichten ließ und ihre Statue im Tiber versenken ließ, überlebte der sehr beliebte Isiskult.


    Offiziell wieder erlaubt war die Ausübung des Kultes wahrscheinlich seit der Herrschaft des Caligula und erfreute sich großer Beliebtheit bis in die späten Kaiserzeit.


    Wann genau das Iseum auf dem Marsfeld erbaut wurde, ist unbekannt, aber wahrscheinlich ist ein Baujahr kurz nach der Beschlussfassung zum Bau 43 v. Chr. Obwohl der Komplex immer wieder zerstört wurde, wurde er zuletzt von Domitian nach dem großen Brand Roms prächtig wieder aufgebaut.

    “Mein Onkel ist ein großzügiger und gerechter Mann“, schloss Corvina an die Erzählung von Tiberius Caudex an und gesellte sich neben ihn, um stumm seiner Aufforderung nachzukommen, mit ihm einfach ein wenig weiter durch den Garten zu schlendern. Die schöne Frühlingssonne war viel zu schön, um einfach nur dazustehen, wenngleich Corvina acht geben musste, doch nicht zu viel Sonne abzubekommen. Bislang lag die Palla nur lose um ihre Schultern und Arme, ein dünnes Stück Stoff, das mehr zur Dekoration ihrer Gestalt diente denn als wirklicher Schutz vor Wind und Wetter. Dennoch würde sie, wenn sie noch lange Zeit in der Sonne gehen würden, sie wohl über ihren Kopf ziehen müssen, um eine Bräunung ihrer Haut zu vermeiden. Es war zu schade, dass es als unfein galt, von der Sonne geküsst zu werden. Es verdarb so manch jungem Mädchen den halben Sommer.
    “Es gibt nichts zu entschuldigen, Tiberius.“ Und Corvina hoffte wirklich, dass dies nur sein nomen gentile wäre, um nicht ohne jede Ausweichmöglichkeit eine ungebührliche Nähe heraufzubeschwören. “Zu einem Streit gehören ja immerhin mindestens zwei Personen. Außerdem lebte ich in meiner Kindheit in Athen und weiß daher, dass so mancher fachliche Disput durchaus auch mit Leidenschaft geführt werden will.“ Da das Landgut ihres Vaters außerhalb der Stadt lag, hatte Corvina eigentlich nichts von den berühmten Diskussionen der diversen Philosophen im Schatten der Akropolis mitbekommen. Ihr Wissen speiste sich auch hier rein aus Erzählungen von Besuchern ihres Zuhauses und der ein oder anderen Geschichte, die die Sklaven natürlich weitertratschten. Nichts desto trotz war es natürlich nur angemessen, den Klienten ihres Onkels sogleich aus einer vermeintlichen Schuld zu erlassen und ihm zu vergeben.
    “Ich hoffe nur, dass du mir meine Neutralität in dieser Sache nicht übel nimmst. Nur verstehe ich wirklich nichts von Bronzegusstechniken. Ich genieße lieber das fertige Werk, ohne zu wissen, wie es entstanden ist.“

    Und der Streit eskalierte noch ein wenig mehr, und Corvina wünschte sich noch ein bisschen mehr einen Held wie aus den Sagen herbei. Einen Perseus, der die Andromeda vor dem Meeresungeheuer errettet. Blieb nur die Frage, welcher der beiden Herren am ehesten mit dem Meeresungeheuer gleichzusetzen wäre, oder ob das Gespräch an sich auch zählte.
    Glücklicherweise verabschiedete der Plebeier dann recht schnell, wobei er noch einmal nicht an blumiger Ausdrucksweise sparte. Corvina wusste wirklich nicht, was sie von dem jungen Mann halten sollte, der ihr auf der einen Seite zu schmeicheln versucht hatte, auf der anderen Seite aber derart rüde ein Gespräch an sich gerissen hatte. So oder so erhielt er zum Abschied ein höfliches “Vale“ und war dann verschwunden.


    Die Hälfte des Ungeheuers war also in jedem Fall geschlagen. Blieb die Frage, ob die zweite Hälfte auch alleine noch ein Meeresungeheuer war, oder eigentlich ganz friedlich, wie es zu Beginn ihrer Unterhaltung schien. In jedem Fall war sie jetzt aber wieder allein mit dem jungen Mann und es galt, ein verlorenes Gespräch wieder aufzunehmen.
    “Du sagtest, du bist Klient meines Onkels?“ fragte Corvina also noch einmal nach und gab dem Tiberius damit die Gelegenheit, ein bisschen mehr von sich zu erzählen, wenn er wollte. In jedem Fall war das ein unverfänglicheres Gesprächsthema als Bronzegusstechniken.

    Eigentlich hatte Corvina gehofft, sich dezent zurückziehen zu können und die Männer ihrem Streit zu überlassen. Sie hatte nun wirklich kein Interesse an einer hitzigen Debatte über Handwerksfertigkeiten, schon allein, weil sie davon nun wirklich keine Ahnung hatte. Sie hätte nicht einmal etwas mit ähnlicher Verve einwerfen mögen wie die beiden Männer, wenn sie gewollt hätte.
    Allerdings war es ihr wohl nicht vergönnt, einfach weiterzuschlendern und ihr Augenmerk der nächsten Niobidengruppe oder Venusstatue stattdessen zuzuwenden, denn mit seltsam anmutenden Worten zog der Plebeier, der sich zwischendurch als Iulier vorstellte, sie unvermittelt in den Mittelpunkt und erkor sie zum Schiedsrichter in dieser Frage.
    “Ich glaube wirklich nicht, dass ich darüber befinden kann, wie hoch der Wahrheitsgehalt in den Schriften des Philon von Byzanz ist, schon allein deshalb nicht, weil ich weder diese kenne noch Werke, die den seinen widersprechen.“ Hoffentlich war sie damit der ihr zugedachten Rolle in diesem Disput ledig. Vorstellen tat sie sich indes nicht. Wie bereits erwähnt stellte eine Dame der Gesellschaft sich nicht einfach selbst vor, erst recht nicht, wenn neben ihr ein Klient ihres Onkels stand, der sie ja jetzt kannte und sie vorstellen konnte, wenn er es für nötig erachtete. Offenbar tat er es nicht, und Corvina würde einem Mann, der im weitesten Sinne zu ihrer Familie gehörte, wenn auch nur als Klient, nicht in der Öffentlichkeit widersprechen. Zumindest nicht, wenn er nicht wirklich etwas sagen würde, dem sie um ihrer und der Ehre ihrer Familie willen widersprechen musste.
    Der Tiberius hingegen schien besagte Werke zu kennen und noch mehr und schien willens, die Ehre des Schriftstellers zu verteidigen, den er zuvor als Quelle genannt hatte. Er besaß genug Höflichkeit, sich dafür bei ihr zu entschuldigen, band sie aber gleichermaßen mit seinen Worten weiterhin an diese Situation. Corvina blieb nicht viel übrig, als huldvoll zu lächeln und weiterhin zu warten.


    Sie ließ kurz ihren Blick in den weiteren Garten schweifen und ihre Gedanken wandern. Zu Beginn dieses Tages hatte sie davon geträumt, wie es wäre, hier den hochgewachsenen Duccius wieder zu treffen, nur sie zwei beide, ohne die vielen beobachtenden Blicke. Vielleicht hätte sie sich dann mit ihm unterhalten können. Aber hätte er sich mit ihr denn über die bildende Kunst unterhalten wollen, oder hätte er auch eher mit einem anderen Mann einen Streit angefangen über die Vertrauenswürdigkeit des einen oder anderen Philosophen? In ihrer Vorstellung wohl nicht. Dort hätte er vielleicht nur noch einmal ihre Hand ergriffen, nicht nur zu einer flüchtigen Begrüßung, sondern um sie zu halten. Vielleicht, ja vielleicht hätte er sie auch... nein, das war zu viel des Hoffens, selbst an einem sonnigen Tag.
    Trotzdem hätte Corvina gerade wenig Einwände, von ihm heldenhaft aus dieser für sie unangenehmen Situation gerettet zu werden. Doch wahrscheinlich wusste er noch nicht einmal mehr, dass es sie gab, geschweige denn, dass sie der Rettung bedurfte.

    Als der junge Tiberius offenbarte, dass er ein Klient ihres Onkels war, hätte es allein die Höflichkeit eigentlich geboten, mit ihm ein paar Worte mehr zu wechseln. Das wäre auch nicht weiter schwer gefallen, da er und Corvina ohnehin schon den philosophischen Aspekt der Statue hier erörterten, was Corvina durchaus Spaß machte. Sie hatte so viele Philosophen gelesen und von ihren Lehrern vorgelesen bekommen, dass sie sich durchaus in der Lage sah, den ein oder anderen Gedanken beizusteuern und so ein Gespräch interessant am Laufen zu halten.


    Doch kam es gar nicht dazu. Der unbekannte Plebeier hielt geradezu einen Vortrag über Herstellungstechniken diverser Statuen, und hiervon verstand Corvina nicht nur nichts, es interessierte sie noch nicht einmal besonders. Ihr war es genug zu wissen, dass es Erfindungsreichtum und Geschick brauchte, um solch ein Werk oder ein noch größeres zu erschaffen. Sie konnte das Ergebnis einer solchen Arbeit auch vollkommen und in ehrlichem Erstaunen würdigen, ohne zu wissen, wie es hergestellt worden war. Bei manchen Dingen machte es ja geradezu den Zauber aus, nicht zu wissen, wie es gemacht wurde, sondern einfach nur die Schönheit des Ergebnisses zu bewundern.
    Allerdings wäre es ziemlich grob gewesen, dies so in Worte zu kleiden. Corvina hatte gelernt, immer nett und höflich zu sein und im Zweifelsfall eben Interesse vorzutäuschen, auch wenn keines bestand. So machte man dies eben in der feinen Gesellschaft. Das, was man sagte, war nicht unbedingt das, was man wirklich meinte, auch wenn man grundsätzlich ehrlich sein sollte.
    Glücklicherweise musste sie kein weitergehendes Interesse heucheln, da Tiberius Caudex die Ausführungen wohl besser verstand als Corvina, und wohl darin gleich einen Fehler entdeckte. Dennoch musste Corvina wohl irgend etwas zu der ganzen Thematik sagen, ehe sie sich dieser seltsamen Unterhaltung würde entziehen können.
    “Die Geheimnisse der Herstellung eines Werkes sind mir nicht geläufig. Ich erfreue mich einfach nur an der Schönheit des fertigen Werkes“, sagte sie also, bemüht, möglichst neutral zu bleiben. Wobei dies beim Koloss von Rhodos wohl unmöglich wäre, ebenso wie eine Überprüfung seiner Herstellung, war der Koloss doch bereits vor Jahrhunderten umgestürzt und zerbrochen.

    “Nur, wenn es etwas gibt, das wir bedauern“, meinte Corvina philosophisch auf die Anmerkung hin, dass jeder bedauernd zurückblickte, und betrachtete noch mehr dieses Gesicht. Irgendwie war sich Corvina nicht sicher, ob sie es eher melancholisch oder doch stolz finden sollte. Doch vielleicht war es genau diese Ambivalenz, die diese Faszination hervorrief und die Menschen stehenbleiben ließ.
    Der junge Mann war aber nicht weniger philosophisch und brachte einen guten Einwand vor. Ja, man sollte auch den Besiegten noch Respekt zollen, und wenn dies gezeigt werden sollte, dann hatte der Künstler dies sehr gut zum Ausdruck gebracht. Sie nickte dem noch Unbekannten also anerkennend zu, konnte allerdings nicht mehr zu einer Antwort ansetzen, da der junge Mann die Gelegenheit nutzte, um sich vorzustellen. Kurz zögerte Corvina, ehe sie zu einer Antwort ansetzte, geschuldet der ungewöhnlichen Formulierung eben jener Vorstellung. 'Tiberius' war schließlich nicht nur ein Gensname, sondern auch ein Praenomen, so dass sie sich nicht sicher war, ob der junge Mann nun tatsächlich Tiberius Tiberius Caudex hieß, oder dieses Wort nur zufällig wiederholt hatte. So war sie sich nicht sicher, ob es nicht eine eigentlich ungebührliche Nähe darstellen würde, wenn sie ihn mit 'Tiberius' ansprach, allerdings gab es ja auch keinerlei Alternative.
    “Ich bin Aurelia Corvina, Tochter von Quintus Aurelius Corvus und Nichte des Senators Aurelius Lupus“, vermied sie es einfach komplett, seinen Namen zu nennen und gab ihm nur den ihren. In Rom hatte sie es sich inzwischen schon angewöhnt, sich nicht nur mit dem Namen ihres Vaters vorzustellen, sondern ebenso mit dem ihres Onkels, da wohl kaum ein Römer etwas mit ihrem Vater in Athen anfangen konnte.


    Und auch jetzt ergab sich nicht wirklich die Möglichkeit, das Gespräch an der eigentlichen Stelle fortzusetzen, denn ein weiterer junger Mann kam hinzu. Jener war etwas weniger elegant, etwas weniger galant und auf den ersten – und auch den zweiten – Blick Plebeier. Corvina trat von der Statue zurück beiseite, um dem Mann nicht die Sicht zu verstellen, denn das wäre unhöflich, obgleich man sicherlich auch so die große Statue auf ihrem Sockel bequem sehen konnte.
    So gab Corvina auch einen Blick auf die Inschrift am Sockel frei, die sie netterweise auch vorlas. “Der Sterbende Gallier aus dem Heiligtum der Athena zu Ehren von König Attalos von Pergamon und seinem Sieg über die Galater.“

    Corvina war so sehr in die Betrachtung der Statue vertieft, dass sie zuerst gar nicht bemerkte, dass ein junger Mann sich ihr näherte. Erst, als er sie ansprach, zuckte sie erschrocken einmal zusammen und blickte zur Seite. Ein wenig fühlte sie sich ertappt, als hätte sie etwas verbotenes getan, allein aufgrund der Tatsache, dass das Objekt ihrer Betrachtung augenfällig nackt war. Wenngleich dies sicherlich nicht der Grund für ihr Interesse an der Statue war. Neben ihr stand ein junger Mann, vielleicht ein wenig älter als sie. Der Kleidung nach zu urteilen aus Roms besserer Gesellschaft, den Schuhen nach zu urteilen ebenfalls Patrizier. Er hielt auch galant die höfliche Armlänge Abstand zu ihr ein, so dass sein Auftritt von Corvina nicht als aufdringlich eingestuft wurde und als keine Bedrohung an ihre Tugend.
    “Meinst du, dass der Künstler dies zum Ausdruck bringen wollte mit diesem Werk?“ fragte Corvina also einmal zurück. Der junge Mann hatte sich nicht vorgestellt, und Damen taten in dieser Beziehung nie den ersten Schritt. Viel weniger noch, eigentlich, denn normalerweise wurden sie von ihren männlichen Verwandten vorgestellt und nannten ihren eigenen Namen daher nur äußerst selten selbst.
    Corvina betrachtete den sterbenden Gallier noch einmal und schritt etwas näher an dessen Gesicht heran. “Wenn ja, dann hätte er ihm weniger traurige Augen geben sollen. So macht es den Sieg über ihn nur allzu bitter für den Sieger, wie ein verborgenes Unrecht.“
    Corvina unterhielt sich gerne über Kunst. Eines der wenigen Betätigungsfelder, das Frauen wie Männern gleichermaßen offenstand, ohne unsittlich zu wirken. Hier konnte sie sich unterhalten und eigene Gedanken beisteuern, ohne Gefahr zu laufen, hierfür allzu sehr gerügt zu werden. Auch war es ein interessanteres Thema als das Wetter oder der Zustand der Straßen, und dennoch unverfänglich.

    Die Horti Sallustani waren vielleicht nicht so ausladend wie die Horti Maecenatis oder so kunstvoll wie die Horti Lolliani, aber Corvina bevorzugte sie dennoch. Nicht nur, weil hier ein kleiner, aber feiner Tempel der Venus stand, den zu betreten sie noch überlegte. Nein, Corvina genoss einfach den Gedanken, wie viele Verliebte hier schon Hand in Hand entlang spaziert waren, vorbei an Statuen der Venus, wie viele Kaiser schon hier im Sonnenschein gesessen und dem Klang der Vögel gelauscht hatten und wie viele Schriften hier verfasst worden waren. Naja, ein Sallust war kein Catull und kein Ovid, aber letztere hatten keine Gärten hinterlassen.
    Der zweite, vielleicht noch bedeutendere Vorteil dieses Parks aber war, dass er dem Kaiser gehörte. Und dies führte zu anderen Dingen. Allen voran natürlich, dass dieser Park nicht nur sehr gepflegt und sauber war und herrlich anzusehen, sondern auch dem Publikum nicht ganzjährig zur Verfügung stand, sondern nur an bestimmten Tagen. Darüber hinaus gab es nur wenige Eingänge, und an allen musste man durch ein bewachtes Tor schreiten, an manchen Tagen für den Besuch der Anlage sogar Geld bezahlen. Auch im Park patrouillierten hin und wieder Prätorianer oder Urbaner und zögerten nicht, auffällige Personen hinaus zu befördern, um die Ruhe des Ortes zu bewahren. Hierdurch war es wohl Roms sicherste Grünanlage überhaupt. Und dies bedeutete für Corvina eines: Freiheit.
    Hier musste sie keine Angst haben, dass sie ausgeraubt oder belästigt würde. Ein einfacher Schrei würde genügen, und ein dutzend Helfer wäre herbei, um sie zu retten. Und da dies für jeden Besucher des Parkes galt, war der Ort hier gänzlich unattraktiv für jegliche Diebe und Halsabschneider. Das Risiko, erwischt zu werden, und die Unmöglichkeit einer Flucht, noch dazu die Gefahr einer Kontrolle am Einlass waren den Kriminellen zu viel. Zumal sie sicher aufgegriffen wurden, wenn sie auch nur einmal irgendwo in Rom auffällig wurden.
    Nein, hier im Park war man 'unter sich'. Keine Bettler, keine Proletarier, kein Gesindel, nur die höhere Gesellschaft Roms. Und das hieß, dass Corvina hier tatsächlich allein sein durfte. Naja, fast allein. Eine treue Sklavin folgte ihr auf Sichtweite, hielt sich aber dennoch zurück, um sie nicht zu stören. Aber soviel Zugeständnis musste sie ihrem Onkel doch geben, denn eine feine Dame ging nicht vollständig allein außer Haus. Dennoch, ihre Sänftenträger und Leibwächter waren vor den Toren des Gartens geblieben, und sie schlenderte hier in der warmen Frühlingsluft zwischen Blumen und Bäumen entlang, vorbei an diversen Statuen. An einer sehr eindrucksvollen Marmorstatue blieb sie stehen. Laut Inschrift handelte es sich um den sterbenden Gallier, und Corvina besah die Statue mit gemischten Gefühlen. Sie war aus einem gewaltigen Block Marmor gemeißelt worden, lebensgroß und unendlich lebensecht. Man sah jeden einzelnen Muskel eines zur Seite geneigten Mannes, der schmerzvoll zu Boden blickte und sich noch mit einer Hand abstützte. Sein Haar war wild und er trug einen Schnurrbart. Corvina stand einfach da, ihm gegenüber, und wusste nicht, was sie darüber denken sollte.