Wie sehr unterschied sich das Stadtbild von Rom. In Sparta gab es weder Bettler noch leichte Mädchen, die Polis war selbst im Niedergang noch voller Würde. Auch Diebe suchte man vergebens, von der ritualisierten Diebeskunst während der Agoge abgesehen. Die spartanischen Frauen erkannte man an ihrem kurzen Haar und dem Eisenschmuck, denn Edelmetalle waren nicht einmal zur Dekoration erwünscht, geschweige denn als Tauschmittel. Die einzige anerkannte Währung war pures Eisen. War Sparta anfangs noch berühmt für seine Töpferarbeiten und Keramiken, produzierte es mit der Entwicklung zur Autarkie irgendwann nur noch für den Eigenbedarf. Heute fand man weder Import noch Export. Sparta mochte die Außenwelt nicht und wollte mit ihr so wenig wie möglich zu tun haben.
Auf Kyriakos wirkte die moralisch unanfechtbare Würde seiner Heimat reinigend von seiner alten Sünde und die klare Hochlandluft befreiend. Die Polis stank nicht, im Gegensatz zu Rom. Sparta war durchweg sauber. Kyriakos sollte sein Leben wandeln, sollte aufhören, mit den Händen im tiefsten Schmutz nach Gold zu wühlen, wenn Sparta gänzlich ohne Gold groß geworden war.
Auf der Agora traf er Kássandros, ganz allein, wie auch früher. Kássandros, dessen Blick er aufrecht begegnete. Der Mann schien vor der Zeit verfallen zu sein, der Zustand seines Körpers und seines Gewands war nicht gut. Mitleid empfand Kyriakos nicht. Er grüßte ihn mit dem Respekt, den sein gesellschaftlicher Status ihm gebot, doch ohne Zuneigung.
»Kalós órises píso, Kyriakos.« Er winkte ihn zu sich und Kyriakos trat heran an seinen alten Ausbilder und die Geißel aller schönen Knaben. Er war kein Knabe mehr und fürchtete Kássandros nicht länger. Dessen Blick loderte auch nicht mehr vom unerfüllten Verlangen, sondern war trüb. »Du kommst sehr spät, doch es ist gut, dich lebend zu sehen. Wo ist Lýsandros«, fragte er und es überraschte Kyriakos, dass er ihn nach all den Jahren scheinbar noch immer vermisste, während jeder andere froh sein sollte, dass der Zersetzer nicht mehr zugegen war. Das Fehlen dieses Unmenschen schien ihm wichtiger zu sein als die Rückkehr seiner unerwiderten Liebe.
»Lýsandros ist weit fort, noch immer am Leben, doch er wird weder dich noch andere mehr plagen. Er kommt nicht zurück.« Für jemanden wie Kássandros gab es keine Heilung, dessen faltige Lider sich müde vom Leben schlossen. Doch es war Kyriakos eine Wohltat, diese reinigenden Worte auszusprechen. »Vergiss seinen Namen und sein Gesicht, denn nichts anderes hat er verdient. Auch ich suche jemanden: Zisimos, doch ich konnte ihn nicht finden.« Er war eine jener Personen, an welche Kyriakos sich stets gern erinnerte.
»Fort«, antwortete Kássandros und seine Müdigkeit wich nun einem Ausdruck von Spott. »Unseres Lebens leid. In der Fremde sucht er einen anderen Weg. Auch er sagte, er würde nicht zurückkehren und ich wünschte, ich könnte dir nun gleichsam empfehlen, ihn aus deinem Gedächtnis zu streichen, doch eines Tages lenkt jeder seine Schritte zurück nach Sparta, und sei er fußlahm. Was ist mit deinen Füßen geschehen?«
»Das tat mir der Mann an, den du so schmerzlich vermisst. Es war ein Werk von Lýsandros, der sich heute Terpander nennt und ein sehr bequemes Leben nach römischem Brauch führt. Du sehnst dich nach einer Bestie, sein Herz ist das eines Panthers. Auch jetzt noch, da das Schwarz seines Haars verblasst und er seine Mähne ablegte. Er versteht es noch immer, die Klauen in die Herzen der Menschen zu schlagen und sich an ihrem Herzblut zu laben.«
»Mir ist sein Aussehen gleich, und sei er vollständig kahl. Was zwischen dir und ihm geschah, ist nicht meine Angelegenheit, auch nicht, was er anderen antat oder nicht, und ich werde nicht urteilen. Mir ist er stets willkommen. Doch du wirst wieder gehen, nehme ich an? So richte ihm aus, dass er hier fehlt.«
»Er fehlt niemandem hier, außer dir. Antío, Kássandros.«
»Antío, Kyriakos.«
Wenn es nicht um Lýsander ging, der sein Herz scheinbar auch aus der Ferne noch fest in den Klauen hielt, besaß Kássandros die Gabe, die Menschen zu lesen: Er sollte recht behalten, denn nachdem Kyriakos seinen Sohn im Haushalt seines Vaters Kosmas abgegeben und mit ihm gesprochen hatte, übernachtete er bei Diamantís, besuchte Kimon, um Sparta am folgenden Tag wieder zu verlassen.