Beiträge von Galeo Seius Ravilla

    Auch das Rabenhaar des Ravilla ward nun bedeckt von weißem Stoff. Er nahm von Crispina die Schale entgegen, in welcher die übrige Mola Salsa schwappte. Salzig-würzig duftete die Gabe. Ein Blickwechsel mit Vindex bestätigte, dass der Augenblick gekommen war. Ruhig blieb das Tier, sich in der Kunst stoischen Gleichmuts besser übend als mancher Mann, dem nahenden Tod gefasst entgegensehend. Warm dampfte sein Atem in der Kälte. Ravilla spürte seine Körperwärme auf der eigenen Haut, obwohl er nicht näher als notwendig herangetreten war. Langsam goss er die mola salsa vom Nacken des Stieres seinen Rücken hinab bis zur Hüfte. Die Flüssigkeit perlte an den schwarzglänzenden Flanken hinab. Der nunmehr geweihte Stier zeigte noch immer keine Regung. Es war ein prächtiges Tier, welches beim Verkauf einen guten Preis erzielt haben würde, und sich seiner angedachten Bestimmung würdig zeigte.


    Hernach trat Ravilla zurück an seinen Platz neben Crispina, welcher er ein aufmunterndes Lächeln schenkte, ehe er den Blick wieder nach vorn richtete. Nun, da er einen Moment Zeit fand, sich umzuschauen, fand er einige vertraute Gesichter unter den Anwesenden: den ehrwürdigen Pontifex Flavius, den jungen Octavius Gracchus - und Furius Saturninus, der Mann, bei welchem er noch nicht ergründet hatte, ob dessen trockene Art eine Form von Humor darstellte oder ob er tatsächlich so humorlos und gefühlsarm wie ein Stück Holz war.

    Die rituelle Waschung erfolgte aus einer erlesenen Vase, deren Ästhetik Ravillas Gefallen erweckte. Nachdem seine Nachbarin in dieser Prozession, Annaea Crispina, dem Opferherrn das tönerne Gladius überreicht hatte, folgte die Darbietung des dazugehörigen tönernen Scutums durch die Hände Ravillas.

    Auch Ravilla fand sich auf dem Forum Augustum vor dem Tempel des Mars ein, die nackenden Füße wagte er nicht anzusehen, so scheußlich war der Anblick bei seinem letzten Blick hinab zu ihnen gewesen. Ravilla sah stattdessen die Säulen hinauf bis zum Dache und dem dunkelgrauen Himmel darüber. Kalter Wind riss an Haar und Kleidern. Im Angesicht des Heiligtums schrumpften seine eitlen Empfindungen auf ein für den Seius unübliches Maß zurück. Die Trommler und Tibicines spielten eine Weise, welche seinen Geist betörte. Dass Sol Invictus sich hatte besänftigen lassen durch die Gebete Ravillas am Hausaltar und in einem Anfall von Milde diese extra dicke Wolkendecke über Roma spannte, war als gutes Vorzeichen zu werten und er meinte in jenem Moment, eine positive Verbindung zum gleißenden Gott seiner Schmerzen zu spüren. Mochte das bedeutsame Ritual, welches nun stattfinden würde, gleichsam erhört werden von dem Gott, an welchen es adressiert war.


    Langsam wich jenes nervöse Sentiment und eine innere Ruhe hielt Einzug. Die Erhabenheit des Opfers ließ keinen Raum für Vergangenes und Kommendes. Der Augenblick zählte und Ravillas vom Schmerz befreiter Geist erhob sich aus der Belanglosigkeit, fokussierte sich zur Gänze auf das Opfer, welches Mars zur Ehre gereichen sollte und seine eigene Rolle darin. Mars Ultor liebte Blut. Er sollte es bekommen.

    Ravilla hatte die Ehre, das tönerne Scutum zu transportieren, welches ein Teil des Vorpopfers bilden würden. Sol invictus hüllte sein Haupt in schwere Wolken, was für den sonnenkranken Ravilla eine angenehme Prozession verheißen würde. Er nahm dies als gutes Zeichen. Ein scharfer Wind fuhr ihm durch die weiße Toga, die er über der blutroten Tunika trug, doch vermochte er nicht, die Empfindung der Kälte auszulösen. Da waren problematischer Ravillas gepflegte Füße, frei von Hornhaut und nackend, wie sie über das Pflaster patschten und jedes Steinchen zu schmerzhafter Buße zwang, bis die Kälte seine Füße taub werden ließ. Das hinderte ihn nicht daran, im gewohnten Überschwang die Menschen zu grüßen, die mit ihm gemeinsam dieses Opfer vollziehen würden.


    "Senator Annaeus, es ist mir eine Ehre! Und diesmal darf ich dich zurecht mit jenem Titel begrüßen! Meine Gratulation!"

    "Selenus, nicht so grimmig, es ist ein wundervoller Tag, das schlechte Wetter ist ganz vorzüglich!"

    "Annaeus Vindex, der Mann, dessen Zunge schärfer ist als sein Schwert! Wie schön, dass wir uns heute wiedersehen."

    "Annaea Crispina, meine aufrichtigste Verzückung! Galeo Seius Ravilla ist mein Name."

    "Und Saturninus, zu lange ist es her! Du siehst blendend aus! Heute keine Schweinsblase anbei?" Ein freundliches Zwinkern verriet den Scherz.


    Der ältere Herr am Ende des Zuges war indes leider zu weit entfernt, als dass Ravilla ihn erkennen und begrüßen konnte.


    Als die Prozession schließlich das Marsfeld erreichte, schaute Ravilla im Winkel der Cohortes Urbanae, ob er seinen Neffen entdeckte und dessen freundlichen Mitbewohner.

    Gracchus Minor ließ sich nicht abwimmeln. Dies wäre indes auch ein unglücklicher Wesenszug für einen Ädil gewesen. Ravilla stützte, auf der Kline liegend, das Kinn in seine Hand. Nachdenklich schmunzelnd hüllte er sich einige Zeit in Schweigen.


    "Als spektakuläre Spiele bieten sich freilich die Megalesia an. Kreischende Eunuchen, welche sich mit Astragal-Peitschen ihre Leiber zerfleischen - wer liebt so etwas nicht?"


    Ein kurzes Emporzucken seiner Braue deutete an, dass der letzte Satz nicht gänzlich ernst gemeint war. Es gab genügend Personen, welche diese Inszenierung als barbarisch erachteten. Nicht von ungefähr war es römischen Bürgern untersagt, ein Galluspriester zu werden. Ravilla zählte nicht zu den Kritikern. In seiner Heimat gab es häufige Feste dieser Art und die exzentrischen Eunuchenpriester der Kybele, Bellona, Ma - der Großen Mutter - waren je nach Region ein alltäglicher Anblick.


    "In jedem Fall ein Schauspiel, welches im Gedächtnis haften bleibt. Sind die dazugehörigen Wagenrennen verbunden mit deinem Namen, so wird man sich an diesen hervorragend erinnern. Besonders, wenn du Geschenke in die Menge wirfst. Deine wichtigsten Freunde, Verbündeten und Gönner solltest du ebenso, vielleicht bei einer Ansprache, nicht zu lobpreisen versäumen."


    Ihm kam der Gedanke, einen der Galloi zu engagieren, welcher sich den Namen des Gracchus auf den Rücken ritzen lassen würde, doch würde dies womöglich als Lästerung der Magna Mater oder Gottesanmaßung des Flaviers fehlinterpretiert werden, weshalb Ravilla diesen gewagten Einfall in weiser Voraussicht für sich behielt.

    Nun folgte ein Moment, in welchem Ravilla sich etwas hilflos wähnte, da er gern beginnen wollte mit seiner Arbeit, jedoch keine konkreten Handlungsoptionen sah. Diese temporäre Unsicherheit spiegelte sich wohl auch in seinem Antlitz, als er sich umblickte, was die anderen nun tun würden und hernach Blickkontakt mit seinem Magistrat suchte, der sich inzwischen auf dem prunkvollen Möbelstück niedergelassen hatte. Ravilla nahm er an, er solle warten und sich in gutaussehender Manier bereithalten, bis Gracchus Minor ihm Instruktionen erteilte, doch womöglich lag er damit auch falsch und es wurde erwartet, dass er einen Stapel Wachstafeln und etliche Rollen Papyri aus einem der Offici holen mochte, um sich deren Abarbeitung zu widmen.

    Dass ein Mensch mit äußerer und innerer Ruhe ein solch beachtliches Maß an Selbstsicherheit ausstrahlen konnte wie der Pontifex, war für Ravilla ein faszinierendes Rätsel. Würde er sich so geben, würde er sich wie ein graues Mäuslein fühlen, keines zweiten Blickes und keiner Aufmerksamkeit wert, ja, unwert, und dies würde in stringenter Konsequenz das Gegenteil souveräner Emotionen kausiert haben.


    "Ich danke dir für die Erinnerung, welch Reputation dem Namen Flavius Gracchus über die Generationen hinweg innewohnt."


    Dass in der Mahnung auch eine Warnung mitschwang, entging dem Seius nicht. Das Patronat dieses Mannes vermochte ihm viele Türen zu öffnen - und noch mehr Türen zu schließen. Doch Ravilla gedachte nicht, sich von dieser Aussicht einschüchtern lassen, sondern mit beiden Händen nach der offerierten Gelegenheit zu greifen. So lächelte er und breitete in einer entwaffnenden Geste beide Hände aus.


    "Wenn nicht für Rom, wofür lohnte es sich sonst, den steinigen Weg des Cursus Honorum als Homus Novus auf sich zu nehmen? Der Name Seius kann nicht isoliert wachsen, er ist untrennbar verwoben mit der Größe Roms. Und wie, wenn nicht den alten Tugenden folgend könnte Rom effizient gedient sein? Ein Dreiviertel Jahrtausend ist unser Reich nun alt. Wenn dies kein Beweis für die Sinnhaftigkeit römischer Tugend ist, so gibt es keinen."


    Bescheidenheit gehörte nicht dazu, doch war diese auch nicht als Tugend konsolidiert, sondern eher als Marotte Einzelner zu betrachten. Gerade Ravilla, der die Zurschaustellung von Überfluss, Abundantia, in besonders farbenfroher Weise aus der Heimat gewohnt war, hielt nichts davon, sich kleiner zu machen, als man war. Doch im Widerspruch zu den römischen Tugenden stand sein extrovertiertes Gebaren keineswegs. Er selbst nahm sich als im Einklang mit jenen lebend wahr. Seine Erziehung war väterlicherseits römisch-konservativ verlaufen und mütterlicherseits kappadokisch-konservativ. Dies mochte einen nicht zu leugnenden östlichen Akzent über sein Gebaren legen, doch minderte es nach seinem Verständnis nicht seine erzrömische Tugendhaftigkeit.


    "Gibt es eine Schwerpunktlegung der Tugenden, auf welche die Gens Flavia besonderen Wert legt? Und selbstredend ist das Prinzip Do ut des auch Grundlage meines Handelns. Nur so funktioniert das System unserer Gesellschaft und wer von sich meint, sich an dieses Prinzip nicht halten zu müssen und nur nehmen zu können, wird bald sehr einsam sein."

    Der Volksmund behauptete, Menschen seien in die beiden Schlaftypen "Lerche" und "Eule" zu unterteilen. Lange Zeit hatte Ravilla sich als Eule gewähnt. Wenn Sol hinter den Horizont wanderte, nahm er Ravillas Pein mit sich und hinterließ einen putzmunteren und gut gelaunten Mann, der vor Tatendrang nicht zu Bett gehen mochte. Nachts schwangen Ravillas Lebensgeister sich zu Höhenflügen auf und auf seinem Arbeitsplatz stapelten sich die Tabulae mit Notizen. Das Problem daran war, dass Ravilla gegen Abend bereits vom Tagewerk erschöpft früher diese Zeit kaum zu nutzen hatte vermocht.


    Der Arzt der Familie hatte die Lösung des Problems gefunden und dem photophoben Patienten einen ungewöhnlichen Schlafrhythmus verordnet, damit Ravilla seine kreativen Schübe besser nutzen konnte. Er ging seither nicht mehr nach seiner nachtaktiven Phase, sondern vorher zu Bett. Denn Ravilla war keine Eule - er war die Extremform einer Lerche. Am besten funktionierte er, wenn er sich des Nachmittags zur Nachtruhe bettete und sich dann in der Mitte der Nacht ausgeschlafen erhob, um zu stockfinsterer Stund, wenn alles ruhte, sein einsames wie erquickliches "Tagewerk" zu beginnen. Gegen Mittag, wenn bei anderen die Mittagsmüdigkeit zuschlug und Ravilla sich besonders gequält hatte, war seither die Zeit, da er sich bereits gemütlich auf seinen Schlaf vorbereiten konnte, anstatt sich bis zum Abend schleppen zu müssen.


    Ravilla war also jetzt, zur Mittagszeit, nicht mehr ganz auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit. Inwieweit er seine gewohnten Abläufe beibehalten konnte, wenn künftig die eine oder andere Cena rief, zu deren Zeiten er normalerweise bereits schlief, würde sich zeigen. Von Begeisterung erfüllt besah er nichtsdestoweniger die noblen Amtsräumlichkeiten, in denen er fortan gemeinsam mit seinem Magistrat arbeiten würde.


    "Welch exquisites Sitzmobiliar", rief Ravilla in der ihm eigenen extrovertierten Zurschaustellung seiner Verzückung, als er des Elfenbeinstuhls gewahr wurde. "Gerade gut genug für dich, nicht wahr?"

    Ravilla, ob der finsteren Tageszeit in bester Stimmung, leistete der Einladung sich zu setzen folge und platzierte seinen Leib auf dem offerierten Sitzmöbel. Dezent richtete sein Sklave ihm die Toga und zog sich alsdann an die Wand zurück. Ravilla blickte ausgeschlafen und guter Dinge dem Pontifex ins würdevoll anmutende Antlitz.


    "So korrigiere ich meine Hoffnung dahingehend, dass der kurze Schlaf dich ausreichend erholt haben möge. Mit deinem Sohn führte ich in der Tat ein hochinteressantes und sicher für beide Seiten aufschlussreiches Gespräch. Wir vereinbarten, dass ich sein Tiro fori werden möge und ich erzählte ihm von meinen Vorfahren und meinem bisherigen Wirken."


    Da Ravilla aus den Worten des Pontifex die Bitte um eine ausführlichere Wiedergabe des Gesprächsinhaltes herauszuhörenglaubte, berichtete er auch diesem über seine mütterlicherseits bezeugte Abstammung von Lycomedes, Priester des Ma in Komana, unterschlug jedoch auch nicht die Verwandtschaft zum ambitionierten Prätorianerpräfekten Seianus.1


    Sim-Off:

    1Um Wiederholungen zu vermeiden, verweise ich auf den entsprechenden Thread, in welchem die Thematik ausführlich abgehandelt wurde. Nachfragen dürfen natürlich nichtsdestoweniger gern gestellt werden. :)

    "Sollte die Gelegenheit sich bieten, wäre es mir eine Freude, dieser Einladung zu folgen."


    Ein solches Gastmahl würde dafür sorgen, dass Ravilla die Nobilitas samt Anhang kennenlernte. In einer Gesellschaft, in welcher Kontakte das Alpha und das Omega darstellten, wäre Ravilla ein Narr, würde er diese Gelegenheit nicht beim Schopfe greifen.


    "Die große Vergangenheit der flavischen Ahnen ist hinreichend bezeugt. Dein ehrenwerter Vater amtiert in heutiger Zeit als Pontifex. Er wäre nie zu einem solchen berufen worden, würde es den Flaviern an respektablen Kontakten und Fürsprechern mangeln. Selbiges gilt für seinen Sohn, weshalb die ersten Fragen ohne jeden Zweifel positiv zu beantworten sind. In Anbetracht der altehrwürdigen Tradition der Flavier darf man auch davon ausgehen, dass für eine Bezeugung traditioneller Werte wie Gravitas und Dignitas gesorgt wurde. Ansonsten werden wir Gelegenheiten suchen und Situationen schaffen, in denen sie gezielt vertieft werden.


    Ich gehe summa summarum also davon aus, dass die gesellschaftlichen und politischen Grundvoraussetzungen für die Kandidatur in deinem Falle stimmen und wir uns auf den inhaltlichen und strategischen Aspekt deines Wahlkampfs fokussieren können. Was den Inhalt betrifft, so bitte ich dich zunächst um eine Erläuterung deiner Intentionen und alsdann werde ich dir einen passenden Vorschlag zur Umsetzung offerieren."

    Ravillas Lachen fügte sich harmonisch in die Geräuschkulisse, als er Saturninus die Hand auf die Schulter legte.


    "Die Schweinsblase. Diesen Spitznamen wirst du nicht mehr los."


    Was nicht schlecht sein musste, denn mit derlei Tricks blieb auch eine dem Empfinden des Ravilla nach vollkommen unscheinbare Gestalt wie der Furius im Gedächtnis der Gesellschaft haften. Nach der Ankündigung seiner Redezeit erhob Ravilla sich langsam und huldvoll. In klassischem Weiß präsentierte er zum heutigen Tag seine Gestalt, gewandet in eine Toga, ein Bewusstsein für Tradition und Stand zur Schau tragend. Einen wohldosierten Moment lang wartete er, ehe er das Wort ergriff.


    "Uns allen ist freilich bewusst, dass die Literatur ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Kultur ist", griff er sodann den Faden auf, welchen ihr erster Opponent, der Quintilier, geschickt ausgelegt hatte. Ravillas angenehme Stimme schwebte deutlich vernehmbar durch den Raum. An Selbstsicherheit hatte bei ihm noch nie Mangel vorgelegen. "Nur ein Banause würde den Wert von Ovids Worten kleinreden. Aber wir wissen auch, dass die Werke unserer verehrten Dichter nicht wörtlich zu begreifen sind. Man denke an die köstliche Apocolocyntosis1, in welcher Seneca nichts Geringeres als die Verkürbissung des Kaisers abhandelt. Niemand käme bei allem Unterhaltungswert auf den Gedanken, diese Geschichte für bare Münze zu nehmen. Dichter bedienen sich der Kunst der Metaphorik, ihre Werke sind oftmals Gleichnisse. Wir können den intendierten Sinn ihrer Meisterwerke nur erfassen, wenn wir uns dessen bewusst sind.


    Vollkommen anders verhält es sich mit den Zahlen, welche mein geschätzter Mitstreiter Furius uns präsentierte, mit den harten Fakten, die sich naturgemäß weniger klangvoll darlegen lassen als ein Ovid oder Seneca, denen nichtsdestoweniger jeder Anwesende mit einem Funken mathematischem Sachverstand zustimmen muss. Insbesondere, wenn die Berechnungen aus so vertrauenswürdiger Quelle stammen. Wer wenn nicht ein Mitarbeiter der kaiserlichen Kanzlei könnte diesen Sachverhalt realistisch einschätzen?"


    Gönnerhaft öffnete Ravilla seine gepflegten Hände. Im Licht der Feuerschalen glitzerte eine Akkumulation von Ringen, die auf Anhieb nicht zu zählen war - sein Ausgleich zum schlichten Weiß der Toga, den er sich nicht hatte verkneifen können.


    "Doch selbst wenn wir annehmen, dass der verehrte Furius Saturninus sich verrechnet hätte und eine fortdauernde Expansion finanziell möglich wäre, so stellte sich fürderhin die Frage: Wofür? Wofür, meine Herren?"


    Ravilla blickte in die Runde. Ein Grüppchen offiziell aussehender Männer schlich indessen durch das Blickfeld in Richtung Küche und verdarb die Kunstpause.


    "Wofür sollte das Imperium weiterhin expandieren, wofür unsere Soldaten und unsere Steuerzahler bluten, was erwartet uns außerhalb der Grenzen?", rief Ravilla, um die Aufmerksamkeit wieder auf seine Person zu lenken, und riss den Zeigefinger nach rechts in Richtung der Wand. "Das Einzige, was man sich in den ärmlichen und vermoderten Ländereien im Norden holen kann, ist ein Schnupfen! Man frage die tapferen Soldaten, welche ihren Dienst in Germania versehen, wie meinen ehrwürdigen Vater. Sümpfe, Wälder und primitivste Barbarei. Menschenopfer! Es gibt im Norden nichts, was einen zivilisierten Geist reizen würde, weder wirtschaftlicher noch kultureller Natur. Gleichsam verhält es sich im Osten", sein Finger fuhr in die entsprechende Richtung, "wo öde Steppen brachliegen, deren Leere in den Geist der Menschen dringt und jede Lebensfreude verdorren lässt. Was es in Dakien an Ressourcen gab, hat Rom sich längst zu eigen gemacht. Und im Süden der afrikanischen Provinzen herrscht endlose Wüstenei unter einer erbarmungslosen Sonne, die Mensch und Getier verbrennt. Auch dort gibt es kaum mehr als nichts.


    Als einzige lohnenswerte Richtung für eine weitere Expansion könnte man den Südosten annehmen. Doch sind die Silberminen der Parther bereits seit etwa einem Jahrhundert erschöpft.2 Was also sollen wir in Parthien? Wofür unsere Truppen verschleißen und den Steuerzahler auspressen, wenn wir doch alles haben, was wir benötigen? Der dekadente Luxus der wolllüstigen Parther ist auch ohne unser Zutun längst im Niedergang begriffen. Das deutlichste Zeichen dafür sendet der parthische Großkönig Vologases uns selbst, welcher als erster Schahanschah der Geschichte beginnt, vor Rom in Demut das Haupt zu neigen. Während Rom im Inneren weiter erstarkt, sich ein Herz aus Gold und ein Rückgrat aus Eisen zulegt, versinken seine einstigen Rivalen einer nach dem anderen in den Sanden von Wüste und Zeit. Rom benötigt keine Expansion. Rom benötigt nichts als Geduld."


    Mit einem verschmitzten Schmunzeln trat Ravilla an seinen Platz neben Saturninus zurück.



    Sim-Off:

    2 Ellerbrock und Winkelmann. (2012). Das Parthische Reich - eine erste Annäherung. In Die Parther (1. Aufl., S. 34). Verlag Philipp von Zabern.

    Der entzückende Flavius Gracchus Minor hatte Ravilla offeriert, zu den Gesprächen anstelle der Toga in einer Tunika zu erscheinen, doch heute traf Ravilla dessen Vater. Da wollte Ravilla sich optisch besonders hervortun und erschien in einer Toga, die mit einem Hauch von Himmelblau dem Teint schmeichelte, olfaktorisch unterstützt durch den lieblichen Duft frischer Veilchen. In Anbetracht der zarten Farben hatte Anaxis seinen Herrn etwas stärker geschminkt als üblich, damit dieser nicht bleich und farblos wirkte, was dieser gar nicht schätzte, doch hatte er heute nicht gewagt, allzu charakterstarke Farben anzulegen. Für seine Verhältnisse bescheiden herausgeputzt erschien Ravilla in aller Früher zur Salutatio des Pontifex, ein wenig nervös freilich, was er mit besonders weltmännischem Lächeln zu kaschieren suchte.


    "Salve, edler Pontifex!", tönte Ravillas Stimme durch die noch weitestgehend leeren Räumlichkeiten der Villa Flavia Felix, als er des Gracchus Maior ansichtig wurde. "Ich hoffe, du hast wohl geruht und empfängst mich zu so früher Stund."

    "Spätestens in den wärmeren Tagen eine Wohltat, für die ich dir danken muss", sprach Ravilla, der indes an das Tragen der Toga so gewöhnt war, dass er sie nicht als störend empfand. Im Gegenteil trug sie aufgrund ihres respektablen Charakters dazu bei, dass ihr Träger sich in seiner Haut besonders wohlfühlte.


    "Die exakten Mechanismen der Wahl für die höheren Ämter sind mir noch fremd, jedoch hatte ich mir freilich einen Plan für meinen eigenen Wahlkampf zum Vigintivir zurechtgelegt. Versuchen wir doch, einiges davon auf den deinen umzumünzen. Zunächst wollen wir die grobe Richtung erörtern. Grundsätzlich stehen zwei Strategien des Wahlkampfes zur Auswahl. Erstens."


    Ravilla hob den Zeigefinger. "Überzeugungskraft durch Inhalt. Die Wähler respektive die Senatoren werden durch jene Argumente überzeugt, welche sie hören wollen. Inwieweit sie mit den tatsächlichen Plänen nach erfolgreicher Wahl deckungsgleich sind, ist dabei reine Ermessensfrage. Entscheidend sind ihre Stimmen, denn die edelsten Ambitionen nützen nichts, wenn sie nicht verwirklicht werden können. Zweitens."


    Er nahm den Mittelfinger dazu. "Überzeugungskraft durch Emotionen. Die Wähler werden an ihren Herzen gepackt, an ihrer Hoffnung, ihrem Gewissen, ihrem Glauben und ihren Ängsten. Cicero vernichtete Catilina nicht, indem er dessen Verfehlungen sachlich gegen mögliche Vorzüge abwog, sondern indem er die niedersten Instinkte der Zuhörer reizte: Zorn, Angst, Ekel und Verachtung. Bis Catilina am Ende als der einsamste Mensch der Welt seinem Freitod entgegenging.


    Der perfekte Wahlkampf, den wir als Ideal annehmen wollen, spricht Kopf und Herz in gleichem Maße an und sorgt dafür, dass der Wähler gar nicht anders kann als dir, mein lieber Flavius, freudig zuzustimmen. Und sollten beide Strategien aus diesen und jenen Gründen nicht fruchten, so sollte der praktisch denkende Mann stets noch ein paar materielle Argumente parat haben in Form von Geld, schönen Mädchen oder Knaben, teuren Geschenken und nicht zuletzt in Form von wirksamen Drohungen."

    "Oh es bedarf weitaus mehr als nur eines kräftigen Bisses, um nach oben zu gelangen! Charme und gutes Aussehen sind wahre Türöffner, rhetorisches Talent lenkt die Mitmenschen in gefällige Richtungen und ein gutes Maß an Bildung stärkt die Überzeugungskraft beim vergeistigten Part der Gesellschaft. Die wichtigste Währung des Erfolgs jedoch bleibt neben namhaften Familienbanden und einflussreichen Freunden das liebe Geld."


    Von letzteren Dingen besaß Ravilla leider noch wenig, doch rechnete er sich selbst ein überdurchschnittliches Maß an Attraktivität und Redegewandtheit an, mit welchen er entsprechend besonders zu punkten gedachte, bis er die übrigen Mängel behoben hätte. Er erhob sich und lächelte strahlend beim Gedanken an die eigene Großartigkeit. Es war nur konsequent, dass sein Herz für die eigene, ihm sehr ähnliche Schwester schlagen musste.


    "Ich werde mich nun zurückziehen, werter Petronius. Die Nacht wird zu Sonnenaufgang kurz gewesen sein und arbeitsreiche Zeiten liegen vor meinen Füßen. Dir wünsche ich gleichwohl viel Erfolg auf deinem gewünschten Karriereweg. Gehab dich wohl, Mann, der die Sterne blickt. Den hellsten findest du nicht am Firmament, er wandelt auf Erden vor dir."


    Ravilla zwinkerte dem Manne zu, wartete auf dessen Abschiedsworte und ließ sich hernach von Anaxis auf sein Zimmer geleiten, wo ihm ein dramatischer Stimmungsumschwung beim Gedanken an Fusciana das Einschlafen verleidete und das Kissen in einen nassen Tränensumpf verwandelte.

    "Viele mögen es gemäß quantitativer Betrachtung noch nicht sein, doch auch Romulus begann sein Dasein nach Plutarch in einem Weidenkorb auf dem Tiber, bevor er das Leben aller veränderte und das Schicksal der Welt in eine neue Richtung lenkte."


    Er sprach die Worte langsam und bedeutungsschwer mit erhobenem Finger, wobei ein leichtes Lallen vernehmbar wurde. Dem Tribun mochten mehr Namen bekannt sein als ihm selbst und er würde sich aufgrund seiner fortgeschritteneren Erfahrung sicherer in den Gewässern bewegen, in welche Ravilla gerade erst einen Zeh gestreckt hatte, so dass Aufschneiderei an dieser Stelle in einer Blamage hätte münden können.


    "Gibt es einen Verwaltungsposten, welchen du bereits ins Auge gefasst hast, lieber Petronius?"

    Anaxis verteilte die bunten Kissen und Decken seines Herrn über dem Mobiliar. Sie hatten Ravilla aus Cappadocia nach Roma begleitet, um sein Heimweh zu lindern, dienten jedoch auch dazu, das Fenster teilweise oder ganz vom Sonnenlicht abzuschirmen, welches bisweilen eine schmerzhafte Macht über Ravillas Empfindungen hatte. Ravilla opferte Sol invictus täglich, damit dieser ihn verschonte. Gegenwärtig wirkte der Sonnengott gnädig und Ravilla ließ am heutigen Tage die Vorhänge offen zum Zeichen des Friedens.


    Es lief alles besser, als er zu hoffen gewagt hatte. Selbst Anaxis hatte eine kleine Vorkammer zur Verfügung gestellt bekommen, worüber dieser sich freute. Auf dem Boden schlief kein Sklave gern, was Ravilla wenig bekümmerte, denn Anaxis besaß ein Kissen und eine Decke.


    Nach Vollendung des ersten Tagewerks in den ehrwürdigen Hallen der Villa Flavia Felix fiel Ravilla in einen zufriedenen Schlaf. Sein letzter Gedanke betraf seine Freunde in der Casa Leonis, von welchen er sich in Dankbarkeit verabschieden würde, wenn er seine letzten Habseligkeiten holte.

    "Es wäre mir eine Ehre", sprach Ravilla erleichtert, der schon gefürchtet hatte, seine Zukunftspläne ruiniert zu haben mit seinem wohl ungeschickt geratenen Gesprächszug. "Ich bin sicher, wir werden uns gegenseitig von Nutzen sein."


    Denn wenngleich Ravilla auf dem politischen Parkett noch einem unbeschriebenen Blatte glich, so war er doch vom Ehrgeiz getrieben, diesen Umstand zu ändern und bereit, hart dafür zu arbeiten und seine zweifellos vorhandenen Talente in die Waagschale des Manius Flavius Gracchus Minor zu werfen.


    Er blickte in Richtung des benannten Sklaven Patroklos, ob dieser Anstalten machen wollte, ihn hinauszugeleiten.

    "Guten Morgen, teurer Flavius! Ich residiere vorzüglich im mir zur Verfügung gestellten Cubiculum."


    Der Aufforderung folgend machte Ravilla es sich auf der Kline bequem. Da es sich um einen privateren Rahmen handelte, war er weniger auffällig zurechtgemacht als beim Gang in die Öffentlichkeit oder zum Anlass eines Treffens unter mehr als vier Augen, wobei jene der Sklaven selbstverständlich nicht mitgerechnet wurden. So trug Ravilla heute seine blütenweiße Toga, nur dezent nach Jasmin duftend. Nachdem Anaxis die Falten der Gewandung mit geschickten Fingern vorteilhaft um den Leib seines Herrn arrangiert hatte, nahm er am Fußende der Kline Aufstellung, wo er schweigend seiner weiteren Verwendung harrte.