Nachdem ich am Vorabend meine Notizen gemacht hatte, wollte ich mich weiter kundig machen, welche Möglichkeiten es für meinen Mandanten Aurelius Romanus gab.
Der Bibliothekssklave erkannte mich sofort wieder. "Möchtest du weitere Gesetze lesen, Domine?"
"Ja. Alle Kommentare zur Tabula XI des Zwölftafelgesetzes und zur Lex Canuleia. Außerdem noch alle Literatur, die du zum Ordo Senatorius findest."
Der Sklave zog seine Augenbrauen hoch. "Sicher, Domine?"
"Ja, absolut sicher." Ich befürchtete, dass es mehr Literatur geben könnte, als ich vermutet hatte. "Warten wir mit der Literatur zum Ordo Senatorius erst einmal ab."
"Eine gute Entscheidung, Domine." Der Sklave war froh, dass er keine Lesepulte zusammenschieben musste.
Nach und nach kamen auch jetzt schon etliche Schriftrollen auf mein Pult. Viele Kommentare betrachteten Tabula XI, Articulus I, Lex Duodecim Tabularum gemeinsam mit der Lex Canuleia. Das erleichterte zwar meine Arbeit, aber nachdenken musste ich dennoch selbst. Klar war, dass XI, I, L XII T die Ehe von Patriziern und Plebejern verbot. Auch klar war, dass die Lex Canuleia das Verbot wieder aufhob. Es war zwar fraglich, ob es sich dabei um ein Plebiszit mit Billigung der Comitia Centuriata oder mit Bestätigung durch eine Lex der Comitia Centuriata handelte, aber das war für die Wirksamkeit der Lex irrelevant. Das Problem lag darin, dass es weder Freigelassene, noch Peregrini erwähnt wurden.
Also wieder eine Übung in Logik.
Ausgangspunkt sei XI, I, L XII T. Dann wären Ehen der Patrizier ausschließlich innerhalb ihres Standes erlaubt. Alle anderen Stände waren ausgeschlossen. Das war eindeutig.
Die Lex Canuleia erlaubte die Ehe zwischen Patriziern und Plebejern. Fraglich war nach einigen Kommentaren, ob es sich dabei um eine exakte Benennung handelte, oder ob es damals, als die Lex Canuleia entstand, einfach nur Patrizier und Plebejer in Rom gab.
Konnten Patrizier Patrizier heiraten? - Ja, ohne Zweifel.
Konnten Patrizier Plebejer heiraten? - Ja ebenfalls ohne Zweifel.
Konnten Patrizier Freigelassene heiraten? - Wenn ursprünglich schon ein Plebejer unwürdig war, der ja über das volle Bürgerrecht verfügte, wie könnte man dann jenen erlauben, mit einem Patrizier verheiratet zu sein, die geringere Privilegien als Plebejer besaßen? Das wäre absurd.
Für wen waren die Gesetze zum Zeitpunkt ihres Beschlusses geschrieben? - Nur für römische Bürger.
Wäre es heute sinnvoll, auch andere mit den Plebejern im Sinne der Lex Canuleia gleichzustellen? - Nein, denn Patrizier repräsentierten die reinste Form des Römerseins. Sie waren die ersten, die das volle Bürgerrecht innehatten. Deshalb wäre eine Ehe mit Personen, die weniger als das volle Bürgerrecht ohne Einschränkungen besaßen, nicht im Sinne der Gesetze.
Fazit: Weder eine Freigelassene, noch eine Peregrina, kamen für eine rechtswirksame Ehe mit einem Patrizier in Frage. Beiden fehlte es am uneingeschränkten römischen Bürgerrecht mit allen Privilegien.
Prima, ich hatte aus einem zu lösenden Problem zwei zu lösende Probleme gemacht. Warum hatte ich als erstes Mandat in Rom ausgerechnet einen so komplexen Fall annehmen müssen?
Ich machte einen Schritt vor die Bibliothek und stand in der Mittagssonne. Ich hatte schon den ganzen Vormittag mit der Recherche verbracht.
"Du kannst die Rollen wegräumen. Ich werde etwas essen und dann wiederkommen," informierte ich den Sklaven und verließ die Bibliothek.