Jeder gebildete Mensch kennt wohl das griechische Pantheon mit seinen Göttern und der unermesslichen Vielzahl von Heroen, Halbgöttern, Titanen und anderen über oder neben dem Menschen stehenden Sagengestalten und zumindest die wichtigsten Mythen und Legenden. Dieser Kanon ist eines der gemeinsamen Banden, die uns Griechen egal welcher Polis gemein ist und von den Barbaren abgrenzt.
Doch nun sind wir Griechen nie ein Volk gewesen, das sich über eine gemeinsame Herrschaft definierte und wir werden es auch niemals sein. Nichts ist uns wichtiger, als die Unabhängigkeit unserer Stadt, an die wir uns in erster Linie gebunden fühlen. Und jede einzelne dieser Städte drückt ihre Eigenständigkeit auch in den Heroen und Göttern aus, die nur sie auf ihre eigene Art und Weise verehrt. Der offizielle Stadtkult ist weniger für das Seelenheil der einzelnen Menschen wichtig, sondern eher für das Heil der Polis an sich.
Das selbe gilt natürlich auch für Alexandria: Die wichtigste Göttin Alexandrias ist Isis. Isis ist die Herrin über Leben und Tod in Ägypten, die Göttin des Mondes und der Gestirne, des Nils, des Meeres, der Magie, der Geburt und der Fruchtbarkeit, die Bezwingerin des Totenreiches und Herrin und Retterin des Menschengeschlechtes. Auch die Mutter des Horus und die Gattin des Osiris ist sie. Eng mit dem Kult der Isis verbunden sind die alexandrinischen Kulte der Demeter, der Persephone, der Aphrodite und der Io, welche den Alexandrinern alle als verschiedene Aspekte der Isis gelten.
An Isis Seite steht Sarapis in all seinen verschiedenen Aspekten. Als Zeus ist er Herrscher, Retter, Träger des Weltgefüges, als Dyonisos Gott der Lust, des Rausches, der Natur und Fruchtbarkeit, der Rettung und Bezwinger Indiens, als Asklepios Gott der körperlichen und seelischen Heilung und der Medizin, als Hades und Osiris Herr über den Tod und das Totenreich und Gatte der Persephone und der Isis und als Horusknabe, welcher auf ihrem Schoß liegt und an ihrer Brust saugt, der wiedergeborene Sohn der Isis.
Die Hüteriin der Stadt ist Tyche, das Schicksal, welche im Tychaion verehrt wird. Sie wird mit Alexander dem Großen identifiziert und wacht über die Stadt. Sie trägt die Mauerkrone, das Steuerruder und als Isis auch das doppelte Füllhorn. Auch die Schlange, Symbol von Klugheit und Weisheit, ist ein häufiges Symbol von ihr.
Poseidon hat einen wichtigen Tempel, um die See und den Hafen zu beruhigen, und Herakles steht ebenfalls in hohen Ehren. Und im Museion werden die Musen verehrt.
All diese Götter sind nicht scharf voneinander abgetrennt und können in diesem Aspekt dem einen, in jenem dem anderen Gott näher kommen, aber die Alexandriner selbst sehen das so, dass es ein männliches und ein weibliches Prinzip des Göttlichen gibt, das gibt und nimmt, belohnt und straft und welches der Mensch in der Beschränktheit seines Verstandes nicht erfassen kann. Deswegen betet man diese Prinzipien in Form verschiedener Gottheiten an.
Im Übrigen bemerkte ich noch etwas anderes, als ich mir die Liste der Götter durch den Kopf gehen ließ: Die Götter waren entweder Götter der Freude, des Wohlstandes und des Vergnügens oder dunkle Gottheiten des Todes, der Nacht, des Nichts und der Magie. Oft auch Gottheiten, die beides gemeinsam repräsentierten. Fast so, als würde sich der innere Zwiespalt der Stadt in ihren Gottheiten manifestieren.