Beiträge von Narrator Aegypti

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    Nachdem ich dem tummelnden Ameisenhaufen des Fremdenmarktes entkommen war, machte ich mich über eine Schleife wieder auf dem Weg zum Zentrum. Denn ein Gebäude dort hatte ich aus Zeitgründen noch nicht besucht. Dabei war es eigentlich das Gebäude, das mich in meiner Eigenheit als Philosoph natürlich am meisten interessierte: Das Museion!


    Warum dieses Gebäude nicht zu den Weltwundern zählte, war mir schon immer ein Rätsel, anderseits wusste ich, dass nicht jeder die Wissenschaften schätzte. Irgendein Römer, ich glaube, es war Seneca, hat sogar einmal lobend den Brand der Bibliothek erwähnt. Er war der Meinung, dass Wissenschaft und Forschung unnütz sei und den Menschen nur vom Wesentlichen abhalten würde. Zum Glück hatte er aber unrecht mit dem Brand und das Museion steht uns heute noch so zur Verfügung, wie es vor 400 Jahren gegründet wurde.


    Und kaum hatte ich mich ein bisschen über die Einfalt des römischen Schreibers geärgert, stand ich schon vor dem Gebäude: Das heißt, eigentlich war es nicht nur ein Gebäude, sondern ein weitläufiger Park mit vielen verschiedenen Gebäuden. Neben dem Tempel der Musen standen hier verschiedene Institute, an denen gelehrt und geforscht wurde. All das war durch ein weitläufiges Stoensystem miteinander verbunden. Aus der Mitte ragte der mächtige Zentralbau heraus, in dem Studenten aus aller Welt wohnten und gemeinsam speisten. Auch das eigentliche Museion und die Kernsammlung der Bibliothek waren dort untergebracht.


    Ich wandelte über den ausgedehnten Park, zusammen mit zahlreichen Studenten und Lehrern. Die Atmosphäre war ganz anders als die, die ich ansonsten von dieser Stadt gewöhnt war: Es war ruhig, geradezu idyllisch und man konnte Vögel in den Bäumen zwitschern hören. Die Menschen, die hier lustwandelten, führten angeregte Gespräche im klassischen Attisch, nicht im in aller Welt gebräuchlichem Koine. Wahrlich, hier lebte ein anderer, edlerer Menschenschlag!


    Ich fragte einen, der gerade meinen Weg kreuzte, ob er mir denn sagen könne, ob Lysimachos von Samothrake derzeit in der Stadt sei. Lysimachos war ein Lehrer, mit den ich mich damals in Athen angefreundet hatte, wo er einen Vortrag hielt und ich konnte mir keinen besseren als Führer durch diese edlen Hallen vorstellen.


    "Ja, der ist da." meinte der Student, ein junger Mann, der seinem Akzent nach wohl von irgendeiner reichen Familie aus dem Westen, vielleicht Gallien oder Britannien stammte: "Ihr findet ihn im zweiten Gebäude links des Weges. Dort hält er gerade eine Vorlesung."


    Also dankte ich dem Eleven und ging in Richtung des mir beschriebenen Bauwerkes um Lysimachos zu überraschen...

    Nachdem ich lange Zeit durch den Friedhof gewandert war und mir die Gräber und Gruften uralter Nobler der Provinz angesehen hatte, erreichte ich die Villa des Gaius Vibius Maximus, des derzeitigen Präfekten der Provinz. Naja, „Villa“ mag vielleicht ein wenig untertrieben sein: Die Regia des Praefectus Alexandriae et Aegypti machte den umherstehenden Ptolemäerpalästen alle Ehre. Und der Trakt der Regia, in dem der Praefectus seine Feierlichkeiten abzuhalten gedachte, war sogar ein ptolemäischer Palast.


    Ich schritt dem Weg zum Anwesen entlang und zeigte den Bediensteten meine Einladung, worauf sie mich in das Innere begleiteten. Und jetzt muss ich genau beschreiben, für all diejenigen, die sich immer noch der Illusion des Pflichtbewusstseins und des Diensteifers des römischen Ritterstandes hingeben. Denn ich fühlte mich den ganzen Abend über ganz unwillkürlich an das Satyricon des Petronius erinnert.


    Eine neue Welt eröffnete sich mir: Weittragende Säulengänge, bemalte Kuppeln, Atrien und Höfe mit allerlei künstlichen Teichen, mechanischen Spielereien und Jahrhunderte alten griechischen Statuen. Alles war in den hellsten Farben angemalt, verziert von Gold und Marmor verschiedenster Farben, um Bögen und Säulen rankten sich Kletterpflanzen in schwungvollen Spiralen und Mustern, sphärische Musik und Vogelgezwitscher erklang und alles duftete nach Rosen und Jasmin.


    Ich durchwanderte einen Lustgarten nach dem anderen, als ich endlich zum Gastmahl geführt wurde. Das Fest war schon voll im Gange: Auf Klinen lagen einige Dutzend Personen, die Höchsten der Provinz, bedient mit allem denkbaren Luxus und kühl gehalten durch fächerwedelnde ägyptische Sklaven, die angekleidet waren wie in einen Märchen. Lustige Musik ertönte und Tänzerinnen und Kurtisanen erfreuten die Blicke der Liegenden, Saufenden und Fressenden, deren Seide und Purpur über und über bekleckert war von Wein und Bratensoße. Exotisches und berauschendes Räucherwerk aus Arabien und Indien schwängerte die Luft.


    Ich erblickte meinen sehr betrunkenen Freund Hegesias, der unter einer Kline ungeniert und munter mit einer indischen Kurtisane kopolierte. Daneben dozierte der Bibliothekar des Museions lallend nebst zwei römischen Pärchen, die sich lautstark über die Ausführungen des Mannes amüsierten und ihn wohl für eine Art putziges Tierchen hielten. Neben einer großen Platte mit Straußeneiern, die von einem ausgestopften und mit Glitter übergossenen Vogel Strauß gekrönt wurde, fand ich dann auch Gaius Vibius Maximus, seines Zeichens Praefectus Alexandriae et Aegypti, uneingeschränkter Herr über die Provinz und dritthöchster Mann im Reich nach dem Kaiser und dem Präfekten der Prätorianer.

    Wie dem auch sei, das Reich Alexanders zerfiel, aber an seiner Stelle regierten von Alexander aus über fast 300 Jahre Könige, die sich als dessen legitime Erben betrachteten und ein großes Reich schufen. Es ist hiermit an der Zeit, jenes Geschlecht zu würdigen, das so lange Zeit die Geschicke dieses Landes bestimmte: Die Ptolemäer. Das Haus der Ptolemäer entstammte uralten makedonischem Adel. Nach ihrem Vorfahren wurden sie auch des öfteren Lagiden genannt, obwohl jeder König sich Ptolemaios nannte. Die Stammnamen der Königinnen dagegen waren Arsinoe, Berenike und Kleopatra. Für griechische Verhältnisse ungewöhnlich war dabei, dass König und Königin gleichberechtigt herrschten. Meistens waren König und Königin übrigens auch miteinander verheiratete Geschwister, was auf der Tradition der ägyptischen Pharaonen beruht.


    Diese Ptolemäer waren es, denen Alexandria seinen Ruf zu verdanken hat, viel mehr als dem toten Welteroberer. Denn vor allem die ersten drei von ihnen waren große und fähige Herrscher, die sich stetig um den Ausbau ihres Reiches bemühten, welches unter ihnen neben Ägypten auch Iudaea, Teile Syriens und Kleinasiens, die Kyrenaica und alle Küsten des östlichen Mittelmeeres beherrschte. Doch ihr Herrschaftsanspruch war weit höher: Nicht weniger als das gesamte Reich Alexanders des Großen wollten sie beherrschen, eine Selbstdarstellung, die in anderen Teilen der Welt nicht unbedingt auf Gegenliebe stieß.


    Um ihren Herrschaftsanspruch zu untermauern, ließen sie Alexandria zum Zentrum der damaligen Welt ausbauen. Die Stadt wurde nach dem Muster der propagierten Weltherrschaft aufgebaut, in Form von kosmologischen Prinzipien, die die Ideologie der Könige wiederspiegelten. Nichts wurde dem Zufall überlassen, man ließ die besten Künstler, Architekten und Ingenieure der Welt kommen und erschuf die Stadt als ein einziges Gesamtkunstwerk. Spuren dieser Zeit sind bis heute das Straßensystem, der Leuchtturm und die Bibliothek.


    Leider hielt diese ruhmreiche Epoche nicht allzu lang an. Den ersten vier Ptolemäern folgte eine Reihe mehr oder minder dekadenter und unfähiger Despoten. Andauernd kam es zu Bürgerkriegen und Aufständen. Eine Revolution oder Palastrevolte folgte der nächsten. Brüder rebellierten gegen Brüder, um selbst König zu werden, Ägypter riefen eigene Dynastien aus und die Bevölkerung der Städte wehrte sich gegen die ungerechte Behandlung durch die ptolemäischen Tyrannen. Dazu kam noch der ständige Krieg mit einer anderen Nachfolgedynastie Alexanders, den Seleukiden, die über Persien und den Nahen Osten herrschte und ebenso die Herrschaft über das ganze Alexanderreich für sich beanspruchten. Und letztendlich darf man nicht die Ägypter vergessen, die versuchten, die verhasste Fremdherrschaft abzuschütteln. In dieser Zeit bekamen die Alexandriner auch ihren Ruf, unberechenbar, streitsüchtig und aufrührerisch zu sein.


    Das Reich zerfiel so langsam in Chaos. Alexandria wurde mehrmals von wütenden Mobs und plündernden Soldaten heimgesucht, ganze Landteile machten sich unabhängig oder wurden von anderen Mächten erobert. Und die hilflosen Könige wandten sich bald um Hilfe an Rom, wodurch die einstige Weltmacht zum römischen Klientelstaat verkam.


    Trotzdem kann man auch in der Endphase des Reiches erkennen, auf welch soliden Grundpfeilern die Ptolemäer ihr Reich bis zum Schluss hielten. Noch zu Zeiten Caesars besaß Ägypten die bei weitem mächtigste Flotte des Mittelmeeres und Kleopatra VII. schaffte es immerhin, zwei der mächtigsten Feldherren Roms zu umgarnen. Und die kulturellen und wissenschaftlichen Errungenschaften, die die Ptolemäer förderten, kann man gar nicht hoch genug schätzen. Nicht zuletzt leben diese Früchte heute in den Villen der Reichsten und Mächtigsten Roms weiter: Viele Gemälde, Statuen und Mosaiken, die die ihre Häuser und Städte zieren, gehen auf Vorlagen zurück, die die alexandrinischen Meister einst vor langer Zeit entwarfen.

    Und da stand ich nun in der hohen Halle vor dem gläsernen Sarkophag (den ursprünglichen Goldenen lies ein Ptolemäerkönig in Geldnöten einschmelzen) und erstarrte vor Ehrfurcht. Hier, direkt vor mir, sichtbar mit meinen eigenen Augen und kaum eine Handbreit fern von mir schienen sie durch, die sterblichen Überreste jenes Mannes, der die Welt veränderte wie kein Zweiter vor ihm: Alexander, Sohn des Phillipos: König der Makedonen, Beherrscher der Oikomene, Gott.


    Und dennoch: Was da vor mir lag, war ein einfacher, einbalsamierter toter Körper. Es überwältigte mich, fiel mir schwer, zu realisieren, welche Magie von diesem speziellen Toten noch so lange nach seinem Tod ausging. Der leibhaftige Bezwinger der Welt, der wohl berühmteste Sterbliche, ein Mann, der in den Geschichten der Menschen ewig weiter lebt. So viele haben versucht, ihm nachzueifern, Niemand hat es jemals auch nur ansatzweise geschafft. Ganze Dynastien lebten seinen Traum aber was sie in ihrer menschlichen Beschränktheit als Traum deuteten, war für ihn das Alltäglichste auf der Welt. Ptolemäer, Seleukiden, Antigoniden, die Arsakiden Parthiens, ja selbst die römischen Caesaren folgten ihm und stets konnten sie nichts erreichen als nur ein kleines Stück des Glanzes seiner Persönlichkeit. Immer stand er über ihnen wie die Sonne über den Myriaden von Wassertropfen des Ozeans und nie gelang es ihnen, auch nur einen Strahl von ihnen einzufangen.


    Hier, an dieser Stelle, wo ich stand, stand Iulius Caesar, stand Marcus Antonius, stand Augustus und alle blickten sie zu ihm herauf. Und Caesar beispielsweise soll Zeit seines Lebens immer wieder geklagt haben: In meinem Alter besaß Alexander schon die ganze Welt! Lustiger dagegen ist die Geschichte des Augustus vor dem Alexandergrab: Er ließ den Sarkophag öffnen, beugte sich über die Mumie und brach dem Weltenbezwinger aus Versehen die Nase ab.


    Dabei darf man nicht vergessen, dass die Tatsache des Aufenthaltes des Leichnams in Alexandria eng verbunden ist mit einem großen Verbrechen, das nebenbei zur endgültigen Trennung des Alexanderreiches führte: Ptolemaios, ein Freund und General des großen Makedonen, dazu Statthalter von Ägypten, ließ nämlich damals die Leiche rauben und hierher transportieren um seinen Anspruch auf den Alexanderthron zu untermauern. Natürlich ließen das die anderen Generäle nicht auf sich sitzen. Ein Krieg entflammte und das Reich zerbrach. Nicht nur Alexander liegt hier begraben, mit ihm ruht hier auch seine Idee.

    Ich war gar nicht weit in das Viertel eingedrungen, als ich schon vor einer Pforte stand, die in einen mit Zypressen bewachsenen Park hinein führte. Natürlich zögerte ich keine Minute, den Park zu betreten. Jedermann auf dieser Welt wusste, welches Grabmahl im Zentrum dieses Friedhofs stand.


    Und selbst derjenige, der es nicht wusste, konnte immerhin ahnen, dass es nicht normal war, auf einen Friedhof innerhalb einer Stadt zu treffen. Gewöhnlich pflegen griechische Friedhöfe, auf den Feldern außerhalb der Stadt zu liegen. Auch Alexandria macht da keine Ausnahme. Die Stadt ist von einem regelrechten Netzwerk von Nekropolen umgeben, deren Gruften sich bis tief unter die Erde erstrecken und deren Gänge den Untergrund der Stadt durchziehen. Immerhin ist Alexandria auch eine große Stadt, wo viele Leute sterben und mit der Zeit übertrifft die Einwohnerzahl der Toten die der Lebenden bei weitem. Und zumindest im Tode sind hier Griechen, Juden und Ägypter friedlich miteinander vereint.


    Hier aber war ein ganz besonderer Friedhof. Ich ging über die Wege und bestaunte die schmuckvollen Gräber, die mit Statuen und Reliefs der allerfeinsten Art verziert waren und von Reichtum und Ansehen des Begrabenen zeugten. Die meisten Gräber gebührten Angehörigen des alten Königshauses sowie wichtigen ägyptischen Generälen, Bibliothekaren und sonstigen, die die Ehre, hier zu ruhen, verdienten.


    Auch die Könige selbst waren hier begraben. Wie riesige Stifte ragten deren Grabmähler empor, die aus zwei Marmorquadern bestanden, gekrönt von einer pyramidenartigen Spitze. Ich aber folgte einer Gruppe begüterter Touristen, die sich wohl das selbe Grab anschauen wollten, wegen welchem ich auch hier war.


    Und da war es: Ein riesiger künstlicher Grabhügel in der Art, wie die Makedonen seit jeher ihre Könige zu bestatten pflegten. Ein hohes Marmortor in der Form eines Tempelfrieses wies den Eingang, vor dem sich eine lange Schlange geblidet hatte. Die Alexandriner ließen sich nämlich keine Gelegenheit zum Geldverdienen entgehen und vor dem Tor stand ein Tisch, an dem ein Mann, eine Art voreiliger Charon, der munter Drachme um Drachme für den Eintritt kassierte.


    So zahlte auch ich eine nicht unbeträchtliche Summe Geld und betrat das Mausoleum Alexanders des Großen...

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    Während ich die letzten Tage und Wochen damit verbrachte, die endlosen Straßen der Stadt entlang zu schlendern, mich mit Einwohnern und Touristen zu unterhalten und die Stadt kennenzulernen, kam ich irgendwann zu einer hohen Mauer, die einen Teil des Brucheionviertels vom Rest abtrennte. Wieder einmal offenbarte mir die Stadt ihre bizarre Ordnung, in der die Unterschiede zwischen den Ständen und Völkern so krass hervortraten: Nicht jedem war es gestattet, alle Teile der Stadt zu betreten und vor dem Tor kontrollierten und durchsuchten bullige römische Torwachen jeden, der keine Genehmigung hatte, dieses Viertel zu betreten. Hier ging es zur Halbinsel Lochias, der inoffiziellen Akropolis der Stadt, wo die reichsten und wichtigsten Menschen dieser Provinz wohnten.


    Ich musste aber nichts befürchten, denn ich hatte eine Einladung des römischen Präfekten bei mir. Ich zeigte den Wisch und die Wachen winkten mich einfach neben der langen Reihe der Anstehenden, die das Viertel betreten wollten, durch. Ja, der Soldat war sogar sehr freundlich, beschrieb mir genau, wie ich zu gehen hatte und bot mir eine Eskorte an, die ich aber ablehnte, denn ich wollte mich lieber frei bewegen und mich noch ein wenig umsehen.


    So spazierte ich dann die ruhigen, schön angelegten, von gepflegten Bäumen, hübschen Statuen und Springbrunnen gezierten Wege entlang und betrachtete die hier stehenden Paläste. Jeder einzelne war ein wahres Monstrum, an Größe und Ausstattung dem Palast des Kaisers in Rom gleich. Und nichts war mehr zu spüren von der Unordnung und dem Chaos der Stadt. Vögel zwitscherten und in Seidenbrokate gekleidete Männer und Frauen flanierten durch die Parkanlagen, nur ab und an hetzten Dienstboten an mir vorbei. Alles strahlte eine frühlingshafte, bukolische Ruhe und Gemütlichkeit aus, ganz, als wäre man in eines der kitschigen Gemälde pergamesischer Künstler geraten. Mir schauderte ein wenig aufgrund dieser offensichtlichen Ignoranz und Volksferne. Welcher geistig gesunde Mensch war in der Lage, eine solche Stadt zu entwerfen? Eigentlich musste man sich vor Alexandria gruseln. Wenn sie nur nicht so schön wäre...

    Nachdem ich mich wieder in das Gewirr der Straßen begeben hatte, fing ich langsam an, mir Gedanken über dieses Bauwerk zu machen. Alexandria ist nämlich eine Stadt, die in all ihrer Architektur und Ausdrucksweise das Weltgefüge symbolisiert. Nichts ist zufällig gebaut und alles Ausdruck einer höheren Ordnung. Ich grübelte also fieberhaft, was das Paneion darstellen sollte.


    Dann kam mir die Erleuchtung: Der Turm hat die Form eines Pinienzapfen, eines Symbols des Dyonisos. Und Pan, dessen Heiligtum den Zapfen krönt, findet sich ebenfalls in der Gesellschaft dieses Gottes. Der riesige Zapfen, der über der Stadt thront, ist also Symbol der Herrschaft Dyonisos’ auf Erden.


    Diese Symbolik hatte in der Ptolemäerzeit eine lange Tradition: Es heißt nämlich, dass vor Äonen der Gott Osiris nach Indien gezogen sei, das Land kultiviert und Elefanten gejagt habe. Danach sei Osiris nach Makedonien gezogen und habe einen König gekrönt, den Vorfahren Alexanders.


    Viele Tausend Jahre später brach dann seinerseits Dyonisos, welcher der griechische Name des Gottes Osiris ist, nach Indien auf. Und nachdem abermals Jahrtausende verstrichen, tat Alexander es den beiden Göttern gleich. Osiris, Dyonisos und der Makedone waren also Eins: Eroberer Indiens und Herrscher über die gesamte Welt. Und die Ptolemäerkönige führten als Nachfahren Alexanders diesen Mythos weiter.


    Doch Mythen vergehen eben mit der Zeit, denn das Gedächtnis der Menschen ist kurz und dem Neuen aufgeschlossener als dem Alten. Deswegen ist das Paneion, das Szepter des Dyonisos-Alexander, welches über den Völkern thront, heute nurmehr eine Attraktion für Touristen, ein Ort der Freizeitgestaltung und der Wissenschaften. Manche mögen den Verfall der Sitten überaus bedauern, aber man muss fragen, womit ist dem Menschen mehr gedient?

    Jetzt ging die eigentliche Volksversammlung los. Der Eponminatograph las die von den Prytanen vorgestellte Tagesordnung vor. Zur Debatte standen ein Gesetz, dass die Öffnungszeiten der Tavernen am Hafen neu regeln sollte, die Frage nach der Bezahlung des nächsten Opfers zu Ehren der Göttin Isis, sowie die Neubesetzung eines Kosmetenamtes, da der vorherige Amtsinhaber verschieden war. Und jetzt konnte ich erleben, wie die alexandrinische Demokratie tatsächlich ablief:


    Schon der erste Punkt war äußerst brisant: Die Bevölkerung war tief gespalten in Befürworter und Leute, die dem Gesetz ablehnend gegenüberstanden. Letztere waren wohl vor allem die Schankwirte, Bierbrauer und Winzer, ein nicht einflussarmes Grüppchen.


    Die Auszählung der Stimmen ergab eine eindeutige Mehrheit für die Ablehnung und die Kneipen blieben die ganze Nacht über geöffnet. Diese Diskrepanz in Stimmung und Abstimmungsverhalten lässt sich dadurch erklären, dass die Griechen ein System, ähnlich dem des römischen Klientelwesens kannten: Die reichen Männer der Stadt nämlich kauften sich die Stimmen der Armen im Austausch für materielle Leistungen. Man schenkte also einen anderen seine politische Stimme, dafür hatte man eine Unterkunft und genug zu essen. Diese Reichen wurden Demagogen (Volksführer) genannt. Und da sehr viele Demagogen gegen das Gesetz waren, musste es ihr Klientel auch sein.


    Was für Auswüchse dieses Klientelsystem annahm, zeigte sich bereits bei der nächsten Abstimmung. Ein betuchter Herr Namens Ptolemaios schlug seinen dreijährigen Sohn als neuen Kosmeten vor! Jeden vernünftigen Menschen war klar, dass dieser Minderjährige noch nicht in der Lage war, selbst Entscheidungen zu treffen und ein anderer Demagoge hielt in einer flammenden Rede gegen diesen Vorschlag die Ermahnung, das bereits fünf weitere Verwandte des Ptolemaios in wichtigen Ämtern saßen und warnte das Volk vor einer drohenden Tyrannis des Ptolemaios über die Stadt, falls sein Vorschlag angenommen werde.


    Allerdings konnte der Gegenredner, ein uralter politischer Feind des Ptolemaios keinen geeigneten Gegenkandidaten finden, da es Sitte war, dass die Amtsinhaber ihre Kosten selbst zahlen mussten und nur Ptolemaios über das nötige Geld verfügte, noch einen Amtsträger aus seiner Kasse zu unterhalten. Deswegen nahm die Ekklesia den Vorschlag des Ptolemaios an.


    Man mag empört sein über die Art und Weise, wie die Alexandriner ihr demokratisches System so an wenige Reiche verkauften. Dass das System allerdings zwei Seiten hatte, die auch für die Demagogen nicht immer angenehm waren, zeigte sich in der nächsten Abstimmung: Auch das Fest der Isis musste bezahlt werden und es fand sich niemand, der bereit war, dafür Geld auszugeben. Dann schlug einer meinen Gastgeber Hegesias vor.


    Dieser stand, von der Idee ganz und gar nicht begeistert, von seinem Sitz auf und meinte, dass er leider derzeit nicht in der Lage sei, das Fest abzuhalten. Er wäre jederzeit bereit, der Stadt Ruhm und Ehre zu machen, aber derzeit nicht liquide, da er schon beim Fest des Poseidon, für eine Gesandtschaft nach Syrakus und für die alexandrinischen Athleten bei den olympischen Spielen die Spesen gezahlt hatte.


    Daraufhin erhob sich wieder der, den den Vorschlag gebracht hatte und empfahl, dem armen Hegesias gegen seinen Willen diese Bürde aufzutragen. Und die Ekklesia stimmte dafür. Hegesias musste sich also geschlagen geben und sprach in einer anrührernden Rede, dass er bereit sei, das Fest zu bezahlen. Einmal vom Volk überstimmt, hatte man keine andere Wahl, um sich zu fügen, so sagten es die Gesetze. Man sieht also, die Demagogen haben nicht nur Vorrechte, sondern auch Pflichten gegenüber den Bürgern. Und genau das ist es, weswegen man sagen kann, dass die Demokratie in Alexandria gewahrt geblieben ist.


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    Ganz anders hingegen fiel die Reaktion der Bürger aus, als der jüdische Ethniarch erwähnt wurde. Neben einen eher gemäßigtem Klatschen waren, vor allem aus den Reihen der unteren Phylen Schmährufe zu hören, die die Juden aller möglicher Verbrechen bezichtigten, vom Brunnenvergiften über die Tempelentweihung bis hin zum rituellen Schlachten griechischer Kinder.


    Es ist nämlich durchaus nicht so, dass der Bürgerschaft alle Einwohner Alexandrias angehören. Die Menschen mit Bürgerrecht machen in der Stadt ungefähr nur ein gutes Drittel aus. Ein anderes gutes Drittel besteht hauptsächlich aus Ägyptern und der letzte Teil aus Juden. Daneben gibt es noch zahlreiche andere Volksgruppen. Die wichtigsten jedoch sind Griechen, Juden und Ägypter.


    Bürger der Stadt, also diejenigen, die alle Privilegien genießen, sind nur die Griechen. Die Juden dagegen haben ihre eigene Selbstverwaltung, welche Politeuma genannt wird. Sie haben weniger Rechte, müssen an den Kaiser Tribute zahlen und sind den Beschlüssen der Stadt und der Provinzverwaltung verpflichtet, obwohl sie kein Recht auf politische Teilhabe besitzen.


    Allerdings geht es auch den Juden vergleichsweise gut: Viele Juden sind bedeutende Gelehrte am Museion oder verdienen enorme Reichtümer im Handel, Handwerk und Geldverleih. Vor allem der Handel ist ihr Metier, denn dank der enormen Streuung des hebräischen Volkes in der Welt, sowohl im Reich als auch in Arabien und Parthien, haben sie verwandschaftliche Beziehungen nach überall von der Küste Britanniens bis hin zum Indus. Zu ihrer ökonomischen Macht kommt noch die Tatsache, dass sowohl die Könige als auch die Kaiser stets bereit waren, den Juden gewisse Privilegien zuzusichern. Das geschah vor allem deswegen, um die oft rebellischen Alexandriner in Zaum zu halten. Deswegen rivalisieren Juden und Griechen stets um den obersten Platz in der ägyptischen Hierarchie und sind voll von Hass gegeneinander. Derzeit haben die Griechen die Nase vorn, aber vor allem unter den Ptolemäern sah das ganz anders aus.


    Die dritte große Volksgruppe sind die Ägypter, die sich selbst Kopten nennen. Diese sind Nachkommen von Menschen aus der Provinz, deren Vorfahren sich von der Möglichkeit, in der Stadt ein besseres Leben zu finden, leiten ließen. Aber nur wenige von ihnen erlangten einst das Bürgerrecht. Der Großteil lebt in ärmlichen Verhältnissen in Vierteln, in denen Armut und Kriminalität regieren und nur wenige von ihnen haben feste Arbeitsplätze. Und wenn sie Arbeit haben, dann nur die Niedrigste bei schlechter Bezahlung. Während die Ägypter zu den Griechen aufschließen wollen, hassen sie die Juden, die sie als Eindringlinge und Parasiten sehen. Umgekehrt schauen sowohl Griechen als auch Juden mit Verachtung auf sie herab.


    Und zuletzt müssen noch einmal die Römer erwähnt werden. Für die Griechen stehen diese in einer ambivalenten Rolle. Einmal garantieren sie ihnen ihre Privilegien, auf der anderen Seite setzen sie oft unpopuläre Maßnamen durch. Vor allem die Gefahr einer Aufwertung der anderen Bevölkerungsgruppen durch die Römer ist immer gegeben. Deswegen gelten die Alexandriner schon immer als potentielle Rebellen und Unruhestifter. Das führt dazu, dass die ganze Stadt voll ist mit römischen Legionären, die ein wachsames Auge auf den Burgfrieden haben.

    Dann hob der Eponminatograph erneut die Hand und sprach:


    "Liebe Politen! Die Volksversammlung hat heute drei ehrenwerte und verdiente Gäste in unseren Reihen: Plutarchos von Chaironiea, Herodes, der Ethniarch des hebräischen Politeuma und Gaius Vibius Maximus, den weisen und gerechten Statthalter unseres göttlichen Basileus (Kaiser) Lucius Ulpius Iulianus, den Neuen Dyonisos, Sohn des Herakles, des Dyonisos und Horusfalke auf Erden, Soter (Retter), Euergetes (Wohltäter) und Sebastos (Erlöser)!"


    Daraufhin war die Menge nicht mehr zu bremsen: Klatschen, Jubeln, Pfeifen, Stampfen und Schreien erklang. "Hoch unser Kaiser!" und "Lang lebe Iulianus!" schrieen die Leute. Tausende von Göttern wurden gerufen, mit denen der Kaiser in Verbindung gebracht wurde, griechische, ägyptische und persische. Und mit tausenden von Ehrentiteln wurde der römische Princeps benannt, in höchsten Tönen wurde er gepriesen.


    Für einen Außenstehenden mag das vielleicht komisch klingen: Einerseits waren die Alexandriner so stolz auf ihre Freiheit und Demokratie, anderseits lobten sie den Kaiser als höchsten aller Götter und schworen ihn ewige Treue. Lasst mich das erklären:


    Die Bürger Alexandrias unterwarfen sich nämlich dem Kaiser freiwillig, da er und seine Vorfahren die Rechte der Stadt mithilfe der Legionen garantierten. Deswegen wurde der Kaiser von ihnen Retter und Gott genannt. Der Kaiser steht damit auf einer Ebene mit Zeus, Apollon oder Dyonisos. Und der Wille der Götter steht über den des Menschen. Eine Stadt kann noch so frei und demokratisch bestimmen, gegen den Willen der Götter handeln, das vermag aber kein Sterblicher. Denn die Götter sind den Griechen eine Naturgewalt. Ist ein Gott milde gestimmt, beschenkt er die Stadt, lässt die Ernten reifen und bringt die Schiffe sicher über das Meer. Ist er zornig, so entfacht er ein Feuer, lässt das Getreide verdörren oder versenkt das Boot in den Tiefen des Okeanos. Und ebenso verhält es sich mit dem Kaiser: Huldigt ihn die Stadt, so erlässt er die Steuern, errichtet Gebäude und veranstaltet Feste. Lehnt man sich gegen ihn auf, kommen die Legionen und schlachten, verwüsten und plündern.


    Aber natürlich muss man auch erwähnen, dass die Griechen nicht blöd sind. Sie wissen sehr wohl, dass der Kaiser ein Mensch aus Fleisch und Blut ist, den gleichen natürlichen Gesetzen unterworfen wie jeder andere auch. Für die Alexandriner bringt diese Kaisertreue und Verehrung vielmehr auch Vorteile: Im Gegenzug leistet der Kaiser nämlich viele Wohltaten für die Stadt: Er veranstaltet Zeremonien und Feste zu seinen Ehren, spendet Geld für alle möglichen Bauwerke vom Tempel bis hin zum Privathaus und sorgt dafür, dass die Armen der Stadt auch ab und zu eine ordentliche Mahlzeit bekommen. Außerdem befreit er die Stadt von Tributen und garantiert ihre Vorherrschaft über das Land. Dies alles ist sehr wichtig, denn ohne die kaiserliche Hilfe sind die Kassen der Stadt oft leer und die Reichen können auch nicht alles zahlen, obwohl sie der Stadt gegenüber ähnliche Pflichten haben wie der Kaiser.


    Zeigt sich ein Kaiser aber als Tyrann und Menschenschinder, zögern die Alexandriner auch nicht, gegen ihn zu paktieren und einen Aufstand zu machen. In der Geschichte ist dergleichen schon öfters vorgekommen, denn die Bürger Alexandrias gelten seit Urzeiten als rebellisch und wankelmütig. Deswegen bemüht sich der Kaiser um Alexandria besonders.


    Verträge zwischen Rom und Alexandria wurden über gewählte Botschafter beschlossen, die die Politik der Alexandriner mit der des Kaisers übereinstimmen ließen. Einige dieser Verträge garantierten dem Präfekten Rechte in der Volksversammlung, so durfte er dort sprechen und Vorschläge einbringen. Diese wurden in der Praxis angenommen, da man den Zorn des Kaisers fürchtete. Auch war es den Legionen erlaubt, in Alexandria für Ordnung zu sorgen.

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    Zusammen mit Hegesias ging ich über die Agora hin zum Theater, das dem Gymnasion direkt gegenüberstand.


    Das Theater war ein gewaltiger Bau, um nicht zu sagen: Klotz! Irgendwie musste ich mich innerlich schütteln, als ich das Ding von der Nähe sah! Ein so hässliches Theater hatte ich während meiner Reisen wirklich noch nie gesehen!


    Es bestand aus einem riesigen, steinernen und von außen kaum geschmückten Halbrund, der einfach vollkommen freistehend inmitten in die Stadt hinein geklotzt worden war. Ich konnte es kaum fassen, dass diese schöne Stadt durch solch ein Bauwerk verschandelt wurde! Kein Wunder, dass es damals Cäsar als Festung diente, diesen Zweck schien es mehr zu erfüllen, als den eines Ortes der Politik und schönen Künste. Aber gut, es soll auch Menschen geben, die sowas mögen...


    Und tausende von Alexandrinern strömten jetzt in das Gebäude hinein. Hegesias und ich waren mitten unter ihnen. Drinnen wies mir Hegesias einen Platz zu, der direkt an der kreisrunden Bühne lag, so dass ich nach vorne die nächste Sicht zu den Plätzen der Prytanen hatte, die die Versammlung leiteten. Mir war sofort klar, dass ich auf einen Ehrenplatz für eingeladene Beisitzer saß, denn neben mir setzten sich auch ein paar andere wichtige Personen hin, unter anderem der Exarch der Hebräer der Stadt mit dem langen, gelocktem Bart eines jüdischen Priesters und Patriarchen, sowie der Präfekt der Provinz, der zwar in römischer Offiziersuniform dasaß, sich aber wie ein ganz normaler Bürger verhielt. Nur seine Leibwächter hinter ihn, etwas ungeschickt als normale Bürger getarnt, verrieten seinen Stand.


    Ich blickte nach vorne auf die riesenhafte Skené, das reich geschmückte Bühnenhaus und das runde Orchester vor mir. Dann drehte ich um und sah die endlosen Reihen des Theatrons, der Zuschauertribünen, wo sich die Bürger in Phylen und Demen geordnet niederließen. Da musste ich meinen ersten Eindruck relativieren: Von innen war das Ding wunderschön!


    Nach einiger Zeit hatte sich das Theater endlich gefüllt: Es war bis auf den letzten Sitzplatz besetzt und das war erstaunlich, denn in Alexandria lebten viel mehr Menschen als in den meisten Poleis. Und das Drittel, welches das alexandrinische Bürgerrecht besaß, zählte immer noch fast 200.000 Köpfe und alle waren sie erschienen! 200.000 Köpfe, die all ihre Arbeit stehen und liegen gelassen hatten, um die Politik ihrer Stadt zu bestimmen! Unfassbar, wie wichtig den Griechen ihre Rechte als freie Bürger waren. Gespannt wartete ich auf das unvermeidliche Chaos, das nun folgen müsste...


    Aber nichts dergleichen geschah. Der Eponminatograph, der oberste Beamte der Stadt, stand nun von seinem Sitz auf und hob theatralisch die Hand. Sofort kehrte Ruhe ein.


    Dann sprach er:

    "Das Volk der Alexandriner hat sich hier und heute im Theatrum eingefunden, um frei geboren und unter freien Himmel aus freien Stücken seine Geschicke selbst und unabhängig zu bestimmen!"


    Nachdem der Eponminatograph gesprochen hatte, fingen die Bürger an zu klatschen. Jetzt verstand ich auch, dass der Theaterbau unter anderem wohl deshalb so hässlich war, weil die Erbauer wohl darauf geachtet hatten, dass die Stimme eines jeden Einzelnen deutlich und klar im gesamten Gebäude gehört werden konnte. Die Geräuschkulisse des Klatschens war zumindest atemberaubend.

    Eine Sache war mir bei den Erzählungen des Hegesias allerdings aufgefallen. Ich bemerkte, dass er in seiner Aufzählung das Bouletherion, den Sitz des Stadtrates, vergessen hatte. Eigentlich war es nämlich in jeder funktionierenden Demokratie so, dass der Volksversammlung ein Stadtrat gegenüber saß, den die angesehendsten und verdientesten Bürger angehörten, um das Chaos einer reinen Demokratie zu vermeiden. Also fragte ich ihn danach.


    "Das, mein lieber Plutarchos, ist eine sehr traurige Angelegenheit." antwortete er mir seufzend:


    "Früher, in den glorreichen Zeiten des Ptolemäerreiches besaß unsere Stadt einen solchen Rat. Die Bürger, die sich am meisten um das Wohl dieser Stadt gekümmert hatten, saßen dort drinnen und sorgten sich gut um die Geschicke unserer Polis. Doch die Dynastie verkam immer mehr und die dekadenten und despotischen Könige begannen, sich in die Geschicke unserer Stadt einzumischen. Die Bürger ließen sich das aber nicht ohne weiteres Gefallen und konnten sich oft gegen den Willen der Könige durchsetzen.


    Das alles änderte sich, als Ptolemaios VIII. Eugeretes (Wohltäter), ein grausamer Tyrann, an die Macht kam. Hier in Alexandria und im ganzen Land wird er nur spöttisch "Physikon", also "Der Fette" genannt. Dieser dickleibige, dumme und prunksüchtige Despot setzte alles daran, den Alexandrinern zu schaden, wo es nur ging: Er setzte sich über die Beschlüsse der Bürger hinweg und erdrückte uns mit immer höheren Steuern. Aber die Alexandriner wehrten sich und es geschah ein Verbrechen, von dem sich die Stadt niemals wieder erholen konnte: Er ließ alle reichen, klugen und einflussreichen Leute aus der Stadt vertreiben! Und die Boule, hinter der er eine immerwährende Verschwörung gegen sich vermutete, wurde geschlossen.


    Die Folge war, dass viele Griechen aus der Stadt verschwanden und der Mob regierte: Es kam zu Kämpfen zwischen Griechen, Juden und Ägyptern und die Stadt fiel ins Chaos. Erst die römischen Kaiser schafften es, die Ordnung wieder herzustellen. Die Boule aber blieb uns bis heute verwehrt. Aber wir haben nicht aufgegeben und eines schönen Tages wird uns ein guter und gerechter Kaiser unseren Rat zurück geben."


    Dieses Kapitel der alexandrinischen Geschichte schien Hegesias sehr zu belasten. Er wechselte lieber zu einen angenehmeren Thema über:


    "Aber sag einmal, Plutarchos, ich habe mich hier mit dir verabredet, damit du wirklich einmal sehen kannst, wie das Volk von Alexandria seine Geschicke selbst leitet. Heute findet nämlich eine Volksversammlung statt. Hast du Lust, ihr als Ehrengast beizuwohnen?"


    Diese Chance ließ ich mir natürlich nicht entgehen und so folgte ich Hegesias zum großen Theater.


    Hier gehts weiter...

    Alexandria war auf der einen Seite eine typische griechische Polis. Aber da die Stadt so groß war, nahmen die Römer im Gegensatz zu den meisten anderen Poleis weiterhin Rücksicht auf die Selbstverwaltung der Alexandriner. Die Archonten und Prytanen wurden weiterhin nach altem Muster von der Volksversammlung, der Ekklesia, für ein Jahr aus den Reihen der Bürger gewählt. Die alten Werte der Stadt blieben erhalten, sie waren im Einzelnen:


    Erstens konnte sich die Stadt unabhängig selbst versorgen. Das Umland der Polis, die Chora, war Teil der Stadt und alle möglichen Erzeugnisse wurden hier für die Bürger hergestellt. Die Stadt legte das Marktrecht und die Preise selbst fest und niemand konnte etwas anderes veranlassen. Auch waren Bürger und Stadt von Tributen und Steuerlast befreit. Dieses Prinzip nannten die Alexandriner Autarkie.


    Zweitens war die Stadt war für ihre Belange selbstverantwortlich und niemandem Untertan. Dies nannten die Alexandriner Autonomie. Die Bürger ordneten ihr Gemeinwesen selbst und beschlossen die Verfassung, das Recht und die öffentliche Ordnung. Auch der Praefectus und der Kaiser konnten der Stadt nicht einfach ihren Willen aufzwingen, sondern mussten diplomatische Vertreter vor die Ekklesia schicken, eine Aufgabe die in Alexandria der Praefectus oft selbst übernahm. Natürlich hatte dieser Punkt einen kleinen Haken, auf den ich später noch kommen werde, aber ich hütete mich, diesen Gedanken Hegesias gegenüber zu formulieren.


    Das dritte Prinzip war die Demokratie. Niemand, kein Einzelner und keine mächtige Gruppe konnte den Bürgern vorschreiben, wie sie ihre Politik zu betreiben hatten. Alle Gesetze wurden von der Ekklesia, der Volksversammlung, diskutiert und beschlossen, ebenso wie die Ämter dort gewählt wurden. Das Wort des Volkes galt dabei als oberstes Gesetz. Was die Volksversammlung beschloss, musste getan werden und keiner hatte das Recht, dem Volk seinen Willen aufzuzwingen. Der Volksversammlung gehörte jeder Bürger an, außer den Frauen und Kindern, die sich aber zu Amtsträgern wählen lassen konnten. Ebenso galt für jeden Alexandriner das selbe Recht und keiner durfte benachteiligt werden.

    Endlich fand die weite Stoa an einem großen, monumentalen Gebäude ihr Ende. Der Bau war fast schon kitschig zu nennen mit seinen zahllosen Verzierungen an der Fassade, den mit ionischen Säulen getragenen Erkern und den unterbrochenen Giebeln, auf denen in formenreicher Pracht Darstellungen irgendwelcher Weiheszenen gemalt waren. Es handelte sich um das Tychaion, einen Tempel für die Tyche, die Göttin des Glücks, welche die Römer Fortuna nennen. Tyche ist die Schutzpatronin Alexandrias und wird oft mit Alexander Zeus-Amun identifiziert. Da hier auch das ewige Feuer des Hestia brennt, ein Symbol für das Leben einer Polis, haben die höchsten Archonten der Stadt, die Prytanen hier ihre Amtsstuben. Auch Hegesias, der Agoranom, der dem römischen Ädil entspricht, arbeitete hier, wenn er nicht gerade die Märkte kontrollierte.


    Ich drehte mich um und sah den Philosophen von vorher hinter einer Säule auf sein nächstes Opfer warten. Er drehte sich zu mir, fixierte mich und ging schnurstracks auf mich zu. Da mir gerade nicht so nach Philosophie war, beeilte ich mich, ins Innere des Tempels zu kommen.


    Im Inneren wartete schon Hegesias im Kreise dem ihm zugeteilten Epheben auf mich. Stürmisch und in blumiger Sprache begrüßte er mich so, als hätten wir uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich tat es ihm gleich und er erzählte mir von der Art, wie in Alexandria regiert wurde:


    Die Volksversammlung wählte die Gesetze und die Ämter. Sie war das oberste Gremium der Stadt. Die Ämtsträger waren geteilt in gewöhnliche Archonten, die sich um die Verwaltung kümmerten und in die Prytanen, die die Gesetze auslegten und die Vorlagen für die Volksversammlung erarbeiteten. Dazu waren sie auch Priester der Tempel der Stadt.


    Bei den Prytanen gab es verschiedene Ränge. Ganz oben standen der Eponminatograph, der oberste Priester des Caesar, und der Gymnasiarch, welcher vor allem die Heiligtümer und Schreine des Hermes und des Herakles beaufsichtigte. Darunter kamen der Exeget, der die politischen Entscheidungen traf, der Kosmet, ein Ausbilder am Gymnasion, der Stratege, der sich um die öffentliche Ordnung kümmerte und der Agoranom, der das Marktrecht überwachte. Begleitet wurden die Prytanen je nach Rang von entweder sechs, vier oder zwei Epheben.


    Die Prytanen setzten sich zum Koinon, der obersten Stadtversammlung zusammen, die Recht sprach und Vorgaben für die Stadtpolitik bereitete. Auch berief das Koinon die Ekklesia ein und kümmterte sich dort um die Ordnung. Der Ekklesia saß ein Archiprytane vor, welcher meistens der Gymnasiarch war. Die Prytanen mussten sich die Vorlagen eines jeden Bürgers anhören und beachten. Jeder konnte zu ihnen durch und man durfte keinen abweisen

    Ich setzte meinen Weg fort und sinnierte weiter über das Verhältnis zwischen Ruhm und Zeit nach, wobei ich mir direkt wie ein Stoiker vorkam, ein Vertreter jener philosophischen Schule, die ich in Athen eigentlich in erhitzten Disputen oft bekämpft hatte. Und wie es der Zufall wollte, sah ich da neben mir an einer Säule, wie sich folgende Szene abspielte:


    Zwei vornehme Herren in Amtskleidung hasteten fluchtartig durch die Säulenhalle in ein hitziges, gezwungen wirkendes Gespräch vertieft, gefolgt von einen anderen, verwahllost wirkenden Mann mit wildem Bart und wirrem Haar. Zuerst dachte ich an einen aufdringlichen Bettler, doch dann hörte ich kurz hin und mir wurde klar, was der Mann von den anderen beiden wollte. Er redete nämlich in einem fort auf die Fliehenden ein, ohne auch nur im Geringsten auf deren Reaktion zu achten:


    "...aber ist es denn nicht so, dass ihr nur denkt, zu glauben, dass ihr wisst? Was bringt euch euer Ruhm und Reichtum? Seht ihr nicht, dass das alles nur eitler Trug und Schein ist, der eure Geister knechtet? Denn nichts ist ewig, nicht einmal die Götter! So tretet denn aus aus den Käfig, der euch umgibt und erkennt die Fehler eures Handelns..."


    So zogen sie an mir vorbei, der wirres Zeug Redende und die anderen beiden, von denen einer mit hastigen Handbewegungen versuchte, den aufdringlichen Kerl zu verscheuchen. Und ich schaute ihnen nachdenklich hinterher.


    Die armen Kerle! Sie waren an einen typischen Vertreter der Philosophenzunft geraten! Die meisten Menschen kennen nur die Schriften und Erzählungen dieser weisen Männer und schätzen und ehren sie. Aber es ist eine Sache, ihre Werke zu studieren und eine ganz andere Sache, ihnen im tatsächlichen Leben zu begegnen. Es verhält sich nämlich durchaus so, dass nicht jeder mit ihrer Art umgehen kann: Sie ziehen rastlos durch die Lande und es gibt keine Stoa auf der Welt, in welcher nicht zumindest einer von ihnen auf unfreiwillige Opfer lauert, die er mit seiner Erkenntnis beglücken will. Die Leute sind meistens zuerst peinlich berührt, am Ende flüchten sie alle.


    Denn das Gespräch mit einen Philosophen ist meistens sehr unangenehm, da sie die Menschen auf ihre Fehler aufmerksam machen und dabei oft beleidigend werden. Erschwerend kommt dabei noch hinzu, dass sie keinen Widerspruch dulden und sich in endlosen Monologen ergehen. Ein Verhalten, das nicht gerade geeignet ist, die Liebe zur Philosophie in den Menschen zu wecken. Erschwerend kommt noch dazu, dass es zwar einige große Meister unter ihnen gab, die meisten von ihnen auch wirklich nur wirren Unsinn von sich gaben. Kein Wunder, dass es viele Leute gab, die nichts von Philosophie hielten und lieber ihren Alltagsgeschäften nachgingen.


    Das, was mich an dieser Szene aber am meisten störte, war, dass ich mich selbst in diesen Philosophen wieder erkannte. Peinlich berührt ging ich deshalb weiter. Es war bald Mittag und ich hatte mich mit Hegesias an seiner Amtsstube verabredet.

    Nachdem ich erneut fünf Bildnisse eines wichtigen Diplomaten abgeschritten hatte, stand ich vor einem kleinen Tor, das zu einem kleinen Heiligtum in einem Innenhof führte. Da fiel mir unwillkürlich eine Geschichte zum Thema Heldenverehrung ein, die sich einst in dieser Stadt zugetragen hatte:


    Zur Anfangszeit der Ptolemäer herrschte in Ägypten die Königin Arsinoé II. als Gattin und Schwester des Ptolemaios II. Philadelphos. In Ägypten ist es nämlich seit Alters her Brauch, dass Bruder und Schwester als göttliches Paar über das Land herrschen.


    Um seine Frau als Göttin Isis verehren zu lassen, ließ Ptolemaios II. genau hier an der Agora einen Tempel bauen: Das Arsinoeion. Es sah genauso aus, wie jener Tempel, vor dem ich gerade stand: Ein kleiner Monopteros (Rundtempel), nur eben mit dem vergoldeten Abbild der Königin als Göttin darin. Aber dieser Tempel sollte eine Besonderheit haben, die dieses kleine Heiligtum über alle anderen Tempel, und seien sie noch so groß und wichtig, stellen würde: Die Statue der Gottkönigin sollte frei in der Luft schweben!


    Nur: Wie sollte das funktionieren? Diese Frage beschäftigte wohl auch Ptolemaios. Doch war eben jener Ptolemaios nicht nur für seinen exzentrischen Tempelbau bekannt, sondern galt vor allem als Förderer der Künste der Philosophie und Wissenschaft. An seinen Hof hatte er weise und kluge Männer aus aller Welt geladen, mit denen er des Abends debattierte und er war es, der den Grundstein zur berühmten Bibliothek legte. Also konsultierte er die Meister. Und die hatten auch eine Antwort parat:


    Die Statue musste aus Eisen gefertigt werden, die Decke des Tempels und der Tempelboden hingegen aus Magnetstein. Mathematiker berechneten den Versuch und man baute ein Modell und siehe da: Es funktionierte!
    Also ließ der König den Tempel bauen und auch die Statue wurde errichtet. Jetzt schien dem Wunder nichts mehr im Wege zu stehen.


    Doch leider gab es doch ein Hindernis: Der König starb. Und sein Nachfolger lies den Tempel zwar fertig bauen, aber ohne den Magneten. Das Wunder wurde somit als gewöhnliches Heiligtum vollendet, es war sogar wegen der ursprünglichen Konzeption klein und unscheinbar. Und Arsinoe und ihr Tempel wurden vergessen. Letztendlich zerstörte sie der wütende Mob während eines Bürgerkrieges und niemand fand sich mehr, der bereit gewesen wäre, das Heiligtum zu retten. So vergeht der Welten Ruhm!

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    Endlich kam ich an der Agora, dem Herz der Stadt an. In alten Zeiten diente die Agora einer Polis in erster Linie als Platz des öffentlichen Marktes, doch in den Städten unserer Zeit hatte sich ihre Funktion gewandelt: Das weitläufige, von breiten und pompösen Stoen (Säulenhallen) umgebene Areal wurde im Gegensatz zum Rest der Stadt, wie ich sie bisher gesehen hatte, sauber und gepflegt gehalten. Der Stein der Gebäude glänzte, die prachtvoll verzierten Reliefs und Friese leuchteten in bunten Farben und nur die teuersten und edelsten Läden der Stadt hatten hier ihre Filialen. Ein riesiges bronzenes Reiterstandbild des Vespasian hielt in der Mitte des Platzes Wache.


    Auch vom Trubel auf dem Boulevards war hier nur noch wenig zu spüren. Zwar waren auch zahlreiche Menschen unterwegs, doch erkannte man in ihnen sofort Mitglieder der reichen und zivilisierten städtischen Oberschicht mit sauber gelockten Haaren, edlen Diademen und gut angelegter Kleidung in den feinsten Stoffen. Sie flanierten mehr über den Platz, da ihnen ihre Würde die planlose Hektik der Straßen verbot. Viele von ihnen waren offenkundig hohe Amtsträger oder nahmen andere wichtige Positionen im Stadtleben ein. Ruhig unterhielten sie sich mit persönlichen oder politischen Freunden oder diktierten ihren Schreibern Schreiben und Gesetzestexte. Auch mehrere römische Offiziere in ziviler Toga oder ihrer Paradeunifom konnte ich ausmachen.


    Über eine hohe Treppe betrat ich eine der Stoen. Unter dem von hohen Säulen korinthischer Ordnung getragenem Vordach entlang gehend betrachtete ich die Statuenreihen an der Wandseite: Es handelte sich vor allem um Standbilder honoriger Personen, die sich um die Stadt verdient gemacht hatten. Die Statuen wurden augenscheinlich gut gepflegt, denn einige Amtsträger waren über 200 Jahre alt. Dann bemerkte ich ein Detail, bei dem ich mir das Lachen kaum verkneifen konnte: Oft war eine ganze Reihe von Statuen nur einer einzigen Person gewidmet. Ein gewisser Themistokles, Sohn des Lysander brachte es vor gut fünfzig Jahren sogar auf sage und schreibe 24 Statuen, die alle in einer Reihe standen, deren Inschriften seine Taten mit den blumigsten Worten ehrten.

    Natürlich kamen wir sofort ins Gespräch und der Sarmather erklärte mir, was er hier trieb: Er war Zwischenhändler eines reichen Alexandriners, der über ein gewaltiges Handelsimperium verfügte. Seine Aufgabe war es, die Waren, die im Kontor in Panticapaeum im Bosporanischen Reich gelagert wurden, an den Markt von Alexandria zu führen.


    Der Nordhandel war nämliich ein äußerst lukratives Geschäft. In Panticapaeum liefen nämlich vor allem die Güter der Flüsse Tanais (Don) und Borysthenes (Dnjepr) zusammen, also Felle, Weizen, Honig, Sklaven und Bernstein. Dazu kamen noch die Güter aus Colchis und Armenien, also Marmor, aber auch Seide und Gewürze. Diese Güter wurden nach Alexandria transportiert und gegen die lokalen Erzeugnisse Wein, Glas, Papier und Öl sowie gegen die Güter des Fremdenmarktes getauscht.


    Aber, so fuhr mein Gesprächspartner fort, sei dies nicht das einzige Handelsnetz, das sein Auftaggeber besäße. Er besäße auch noch weitere Filialen im Reich: In Petra, Tyrus, Antiochia, Rhodos, Milet, Ephesus, Korinth, Aquileia, Ostia, Carthago, Massila, Burdigala und Londinium.


    Des weiteren gab es noch andere große Handelsnetze. Die wichtigsten waren die Bernsteinstraße durch Großgermanien, der vom Volke der Garamanten kontrollierte Transsaharahandel, der Ebenholz, Elfenbein, Edelsteine und wilde Tiere von den reichen Königreichen unterhalb der Wüste ins Imperium brachte, die Weihrauchstraße nach Arabia Felix, die Gewürzstraße durch das riesige Gebiet des Indischen Ozeans und letztendlich die von den Parthern kontrollierte Seidenstraße ins Riesenreich Serea.


    Aber damit nicht genug: Immer mehr Städte, Orte und Reiche wurden mir genannt, von denen ich nie gehört hatte und deren Geschichten mir wie Märchen und Legenden klangen. Ich war skeptisch und sagte das den Sarmather. Der aber lächelte nur: Nicht einmal der Kaiser selbst wüsste von den meisten dieser Orte Bescheid!


    Denn es war eine uralte Geschäftsstrategie der an den Handelsgewinnen Beteiligten, die genaue Herkunft und Lage der von ihnen gehandelten Güter niemandem zu erzählen, Fehlinformationen zu verbreiten und sie mit allerlei Schaudergeschichten auszuschmücken, um schon von vornherein alle Konkurrenz auszuschalten. Die Kaiser, Großkönige und Fürsten dieser Welt mögen zwar über große Reiche herrschen, meinte er dann, aber die wahren Herren der Welt fand man hier in Alexandria, wo sie von ihren Schreibtischen in ihren Palästen Räume kontrollierten, gegen die das römische Reich nur ein kleiner und unbedeutender Fleck Erde war.


    Diese Geschichte widerum hielt ich dann doch ein bisschen für zu übertrieben. Außerdem wollte ich langsam weiter, um noch mehr von den Wundern des Marktes zu sehen. Also bedankte ich mich bei meinem Gesprächspartner und wir tauschten unsere Adressen, damit wir uns vielleicht eines Abends auf einen Wein treffen konnten. Ich verabschiedete mich und zog weiter durch das bunte Treiben.

    Und genauso zahlreich und vielfältig wie die hier angebotenen Waren waren auch die Menschen, die hier kauften und verkauften. Hier gab es nicht nurmehr Griechen und Ägypter: Hier gab sich die große weite Welt im Kleinen die Hand. Nicht nur alle Völker und Rassen des Imperiums waren hier vertreten, sondern ebenso alle weit über dessen Grenzen hinaus.


    Hier feilschte ein blondhaariger Gallier mit einem Händler mit Parthermütze, dort stand eine Gruppe von Beduinen aus der Wüste mit ihren Kamelen. Ein in dichte Tücher gehüllter Händler aus dem Reich der Garamanten schloss ein Geschäft mit zwei Äthiopiern ab und verdrängte einen römischen Ritter, der sich darüber sehr ärgerte. Zwei Perser saßen mit einen Numiden und einen Syrer da, rauchten eine qualmende Wasserpfeife und würfelten um ihre Erträge. Ein reicher Araber spuckte seinen augekauten Betelkern aus und hinterließ einen roten Fleck am Straßenbelag, während ein Nubier sich eine Kolanuss zu Munde führte.


    Und am nächsten Stand begutachtete eine Gruppe Inder einen fein gewebten Stoff. Mit ihnen dabei stand ein Sklave von den fernen Gewürzinseln, klein und braun im Gesicht und mit geschlitzten Augen. Und dort, an einen Seidenstand sah ich sogar einen Mann aus dem fernen und sagenhaften Imperium Serea mit geschlitzten Augen und Kleidung, wie ich sie noch nie sah. Aber er stand dort, als wäre es das normalste auf der Welt und mir fiel auf, dass ich wohl der einzige war, der hier etwas Ungewöhnliches darin sah.


    Schnell bewegte ich mich weiter, da kam ich zu einen Stand, der alle möglichen Sachen aus dem hohen Norden Skythias verkaufte. Der Händler grinste mich freundlich an. Er kam mir bekannt vor. Es war der Sarmather vom Schiff!

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    Bei meinen Erkundungsgängen durch die Stadt schlenderte ich einmal wieder den Hafen entlang, wobei ich in den Westteil des Brucheions kam, von dem ich mir ganz Besonderes versprach: Hier lag die Gegend, die von den Alexandrinern einfach "Der Fremdenmarkt" genannt wurde.


    Allerdings handelte es sich beim Fremdenmarkt nicht um einen Markt im herkömmlichen Sinne: Es gab keine freie Fläche, wo die Händler ihre Stände aufgebaut hatten, keine Agora, kein festes Zentrum. Nichts dergleichen: Vielmehr sah es hier aus, wie überall im Brucheion: 7 Meter breite Straßen, die sich im Schachbrettmuster kreuzten, Wohngebäude und, wegen der Nähe zum Hafen, Lagerhäuser.


    Trotzdem war die Gegend ganz anders: Herrschte schon auf den anderen zentralen Magistralen, dem Meson Pedion und dem Argeus- Boulevard ein dichtes Gedrängel an Menschen - genau genommen kam mir eigentlich die ganze Stadt wie ein einziges Gedrängel vor - so steigerte sich dieser Eindruck hier zur Superlative:


    Es gab praktisch keinen freien Raum! eine einzige Menschenschlange zog sich zäh durch die Straßen, die trotz ihrer Breite sehr eng waren aufgrund der zahllosen Verkaufsstände. Hier konnte man Tage lang durchstreifen, ohne jemals das Ende zu finden und auf den Warentischen, in Fässern, Schalen, Säcken und Amphoren wurden alle Güter der bekannten Welt und weit darüber hinaus gehandelt: Ich sah Säcke, voll mit wohlriechenden und bunten Gewürzen aus Indien und den fernen Inseln, riesige Stoff- und Seidenballen mit den kunstvollsten Web- und Stickmustern, Stapel von Elephantenzähnen und bereits bearbeitetem Elfenbein, wertvolle Edelhölzer von südlich der Sahara, Räucherwerk und Weihrauchklumpen aus Arabia Felix, Griechische Bildhauerkunst und Darstellungen unbekannter Gottheiten. Ich sah Schriftrollen, Edelsteine, Drogen, Schmuck, Apparate, Sklaven und wilde Tiere.
    Und wo ich nur hinschaute, überall Gedränge, Geschrei und die unmöglichsten Gerüche.