[Stoa] Kurs: Die Lehre des Epikur

  • Aristobulos von Tyrus

    http://www.imperiumromanum.net…isc/ava_galerie/Sulla.jpg Der Rhomäer entschied sich falsch.
    "Du bist ein Idiot."
    bemerkte Aristobulos. Sein Blick löste sich von dem Petronier und übersah nun in die gesamte Studentenschar.
    "Epikur ist ein großer Philosoph! Er hat es mehr als verdient, dass ihr geistigen Zwerge in seinem Schatten ihm zumindest den Respekt erweist, seine wichtigsten Lehrsätze zu beherrschen! Niemand von euch wird diesen Kurs verlassen, bevor er nicht jeden einzelnen Wort für Wort beherrscht."
    Er sah wieder zurück zu Crispus.
    "Und lasse gefälligst dein barbarisches Gestammle zu Hause und befleißige dich einer Sprache, die dieser altehrwürdigen Institution würdig ist! Also wer kann aushelfen?"
    Er sah wieder in die Runde. Einen Moment schwiegen alle ganz betreten - dann aber meldete sich ein Grieche.
    "23. Wenn du gegen alle Wahrnehmungen kämpfst, wirst du keinen Maßstab haben, auf den du dich beziehen kannst, um jene Wahrnehmungen zu beurteilen, von denen du behauptest, dass sie falsch seien."
    Zustimmend nickte der Philosoph, blickte dann aber wieder zu dem Römer.
    "Kannst du uns zumindest erklären, was der Satz bedeutet?"




  • Der junge Petronier hatte gar nicht gemerkt, wie rot er angelaufen war, als er zuerst sein Versagen eingestanden hatte und dann auch noch von diesem Griechen abgekanzelt worden war. Er, ein römischer Eques von irgend so einem dahergelaufenen Philosophen, der seinen Lebensunterhalt mit Dampfgeplauder verdiente! Was glaubte er eigentlich, wer das hier alles ermöglichte?
    Wieder einmal stieg Zorn in ihm auf - aber er war auch stolz genug, dass er sich jetzt nicht die Blöße geben wollte, diese läppische Frage nicht beantworten zu können. Zum Glück hatte er zumindest zugehört und konnte zumindest - selbst wenn der Satz natürlich wieder geschraubt und unnötig kompliziert war, wie es die Griechen scheinbar liebten - seinen logischen Gehalt analysieren:
    "Der Satz ist ganz logisch: Wenn wir unseren Wahrnehmungen nicht trauen, können sie kein Maßstab für irgendeine Beurteilung sein - auch nicht für sich selbst. Im Umkehrschluss bräuchte man eine andere sichere Quelle zur Beurteilung der Wahrheit, an der wir unsere Wahrnehmungen messen können. Gibt es aber nicht. Weil woher sollten wir ihn sonst bekommen?"
    Tatsächlich fand Lucius diese Sichtweise ziemlich rational - zumindest viel rationaler als die Hirngespinste, dass es eine innere Stimme gab, die einem sagte, was gut und richtig war. Oder irgendeine fixe Idee - wieso sollten ausgerechnet sie die Wahrheit sein? Am Ende war der Mensch doch ein Wesen, das von irgendwoher eingetrichtert bekam, was richtig oder falsch war - sei es Erziehung, sei es Erfahrung - Wahrnehmungen also!

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  • Aristobulos von Tyrus

    http://www.imperiumromanum.net…isc/ava_galerie/Sulla.jpg Diesmal schien der Philosoph mit der Antwort des Rhomäers zufrieden zu sein. Er nickte zwar nicht gerade begeistert und sparte sich auch einen Kommentar, aber es gab immerhin auch keine Kritik. Stattdessen fuhr er einfach fort:
    "Im Grunde will uns der Meister also etwas recht einfaches sagen: Traue deinen Sinnen, denn sie sind der einzige Zugriff, den wir auf die Wirklichkeit besitzen. Durch die aisthesis, die Sinneswahrnehmung, nehmen die winzigen Bildchen, die eidola auf, die alle Objekte beständig aussenden. Diese Aufnahme ist rein mechanisch und damit unfehlbar und irrtumsfrei.
    Nun mag mancher sich fragen: Irre ich mich offensichtlich auch, wenn der Hütchenspieler auf der Agora meinen Sinnen einen Streich spielt?
    Die Antwort findet sich in Lehrsatz 24: Wenn du irgendeine Wahrnehmung einfach verwirfst und nicht unterscheidest zwischen der Vermutung, die noch auf Bestätigung wartet, und dem, was bereits als Wahrnehmung und Empfindung und als ein umfassender, von einer Vorstellung geprägter Zugriff des Verstandes gegenwärtig ist, dann wirst du durch deine unbegründete Meinung auch die übrigen Wahrnehmungen durcheinander bringen und so jeden Beurteilungsmaßstab verlieren. Wenn du aber aufgrund von Mutmaßungen sogar das, was noch auf Bestätigung wartet, und was nicht, insgesamt für gewiss erklärst, wirst du dich unweigerlich einer Täuschung aussetzen; denn du wirst jeden Zweifel bei jedem Urteil über richtig und nicht richtig zwangsläufig gelten lassen."

    Erwartungsvoll blickte Aristobulos in die Runde.
    "Zur Deutung der aisthesis benötigen wir also eine weitere Kategorie, einen kanon, den Epikur prolepseis, Vorbegriffe, nennt. Sie bilden sich aus den Wahrnehmungen, die sich über Erfahrung verfestigen und dann zum Maßstab weiterer Wahrnehmungen werden. Dank unserer Vernunft lassen sie sich jedoch auch weiterentwickeln, indem wir etwa mit Hilfe der Sprache neue Allgemeinbegriffe bilden aus solchen, die wir kennen. Und hier nur kann ein Irrtum entstehen, indem ich die Wahrnehmungen in meinen Vorbegriffen falsch einordnen.
    Welche prolepsis wäre also etwa notwendig, um diese Situation hier zu deuten und wo könnten Irrtümer auftreten?"

    Wieder hob er seinen Gehstock und ging langsam über die Schar der Studenten, bis er endlich auf dem jungen Flavier hängen blieb.




  • Aristobulos von Tyrus

    http://www.imperiumromanum.net…isc/ava_galerie/Sulla.jpg Der Stock war offenbar nicht so genau gezielt, denn der Nachbar des dicklichen Rhomäers fühlte sich stattdessen angesprochen.
    "Nun. Ich vermute. Also ich vermute, wir bräuchten Begriffe wie Lehrer, Schüler, Museion, Philosophie... natürlich Wahrheit..."
    Der junge Grieche runzelte die glatte Stirn, aber Aristobulos nickte bereits zufrieden.
    "Sehr richtig, die meisten Vorbegriffe sind tatsächlich als sprachliche Begriffe benennbar. Jedoch besteht ein Wort eben nicht nur aus Buchstaben, sondern auch aus Vorstellungen, die wir wie ein Muster auf neue Sinneswahrnehmungen legen können. Passen sie, dann können wir eine Wahrnehmung einordnen - passen sie nicht, können wir entweder unsere Vorbegriffe verändern oder neue Begriffe bilden, wie es Philosophen ja nicht selten tun.


    Gerade für Epikur ist es in der Wahrnehmung allerdings nicht allein entscheidend, etwas einzuordnen, sondern vor allem auch, was eine Wahrnehmung in uns hervorruft. Ein dritter kanon sind schließlich pathe, die Empfindungen. Nun mag sich mancher fragen, ob gerade Gefühle nicht voller Irrtümer und überaus subjektiv sind. Doch der Meister betrachtet sie eben nur als Kriterium, ob eine Wahrnehmung Lust oder Unlust hervorruft. Dieses Kriterium ist somit durch nichts zu widerlegen und damit als wahr zu betrachten.


    Mit diesen drei Maßstäben der Erkenntnis grenzt Epikur sich deutlich von anderen Schulen ab, insbesondere von den Skeptikern. Dass er diesen überlegen ist, scheint recht klar: Denn wenn ich meinen Sinnen nicht trauen darf, wem sollte ich sonst trauen und wie Entscheidungen treffen? Wie aber soll ich leben, ohne mich zu entscheiden?"
    Kurz blickte Aristobulos in die Runde, als erwarte er tatsächlich eine Antwort. Dann jedoch machte er eine wegwerfende Handbewegung.
    "Doch da kein Skeptiker hier ist, mit dem zu diskutieren sich lohnen würde, wollen wir diese Debatte nicht vertiefen. Stattdessen wollen wir uns damit hiinsichtlich der Kanonik bescheiden und morgen zur ersten großen Arznei in der Seelentherapie des Epikur voranschreiten: Der Physik.
    Gibt es also noch Fragen zur Kanonik?"




  • Aristobulos von Tyrus

    http://www.imperiumromanum.net…isc/ava_galerie/Sulla.jpg Diesmal kam Aristobulos ein wenig zu spät, sodass bereits alle versammelt waren, als er mit erstaunlicher Geschwindigkeit, gestützt auf seinen Gehstock, durch die Stoa eilte. Auf dem Weg zu seiner Säule begann er bereits zu reden:
    "Chairete, meine Lieben! Ich hoffe, ihr habt die Kanonik des Epikur fleißig wiederholt, damit wir heute das erste zentrale Kapitel aufschlagen können:"
    Endlich erreichte er seinen Platz und reckte bedeutungsvoll den Zeigefinger nach oben.
    "Die Physik!"
    Er machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort:
    "Damit kommen wir endlich zu einem Aspekt des vierfachen Heilmittels, nämlich dem zweiten Lehrsatz - wie lautete er doch gleich?"
    Er deutete auf einen ziemlich jungen, stark geschminkten Ägypter.
    "Irgendetwas mit dem Tod... der Tod hat keine Bedeutung für uns, weil... weil..."
    Er blickte hilfesuchend in die Runde der Studenten.
    "Ah, genau! Weil was sich aufgelöst hat, empfindet nichts. Aber was nichts empfindet, ist bedeutungslos!"
    Triumphierend sah er seinen Lehrer an, der reglos stehen blieb. Ein wenig verunsichert nahm er schließlich wieder Platz.
    "Das war der Inhalt des zweiten Lehrsatzes, fürwahr. Aber ich denke doch, dass ihr die Lehrsätze des großen Epikur im Wortlaut beherrschen solltet! Das ist schließlich kein albernes Geschwätz irgendeines Marktweibes, sondern die höchste aller Philosophie!"
    Er machte eine wegwerfende Handbewegung.
    "Aber kommen wir zur Analyse dieses Lehrsatzes, oder vielmehr zur Frage: Warum ist der Tod Auflösung? Wir werden am Ende dieser Sitzung auf diese Frage zurückkommen.


    Beginnen wir lieber mit dem 12. Lehrsatz, der uns erklärt, warum wir Physik betreiben müssen, obwohl wir doch keine Naturphilosophen sind. Und zwar sagt der Weise: Es wäre nicht möglich, die Angst in Zusammenhang mit den wichtigsten Dingen aufzulösen, wenn man nicht begriffen hätte, was die Natur des Ganzen ist, sondern in Angst vor allem lebte, was die Mythen erzählen; daher wäre es nicht möglich, ohne Naturphilosophie ungetrübte Freude zu genießen.


    Wir benötigen also die Physik, um die Angst zu besiegen. Und damit wären wir beim Kern der Philosophie des großen Epikur, der in einer sehr schlichten und einleuchtenden Maxime besteht: Du gelangst zur eudaimonia, dem Zustand echten Glücks, indem du die Lust suchst und den Schmerz meidest. Ganz einfach.
    Furcht jedoch ist einer der größten Produzenten von Schmerz, sodass du letztlich auch die Angst besiegen musst. Die Angst vor dem anderen, vor der Zukunft, vor den Göttern und schließlich - und da sind wir beim 2. Lehrsatz - sogar die Angst vor dem Tod.


    Doch welche Therapie der Seele kann uns Epikur bieten, um diese Angst zu besiegen?"
    Fragend sah er in die Runde.
    "Es ist die Einsicht, woraus die Welt besteht - die Physik! Dabei bezieht er sich auf den großen Demokrit. Er stammte aus Abdera in Thrakien und war ein weitgereister, weiser Philosoph. Seine Lehren beeinflussten nicht nur Epikur, sondern auch die großen Alten, darunter Platon und auch Aristoteles! Neben seiner Physik befasste er sich auch mit der Ethik, die - anders als bei Epikur - nicht die Lust, sondern die euthymia, die heitere Gelassenheit, ins Zentrum stellte.


    Aber diesbezüglich gibt es wiederum eigene Spezialisten an dieser Lehrstätte, die diese Lehre weitaus differenzierter und umfassender darstellen können. Also beschränken wir uns auf den Kern seiner Physik: Die Einsicht, dass alles auf dieser Welt aus winzigen Teilchen besteht. Dieser Stein-"
    Er legte die Hand auf die Säule neben sich, hob dann seinen Stock.
    -dieser Gehstock, dieses Fleisch,-
    Er zog die faltige Haut an seinem freiliegenden Unterarm ein wenig nach unten.
    "-einfach alles. Alles besteht aus Teilchen, die so klein sind, dass kein Auge sie sehen kann, ja sogar so klein, dass sie nicht mehr kleiner gedacht werden können - a-tomos, unteilbar sind. Diese winzig kleinen Atome also, die im übrigen nicht nur unteilbar, sondern wegen dieser Unteilbarkeit auch unveränderlich und unvergänglich sind, besitzen also gewisse Eigenschaften, die in wesentliche - symbebekóta - und beiläufige - symptomata unterschieden werden. Was mögen diese wohl sein?
    Fragend sah er in die Runde.




  • Aristobulos von Tyrus

    http://www.imperiumromanum.net…isc/ava_galerie/Sulla.jpg Keiner meldete sich. Natürlich war Aristobulos enttäuscht und schnaubte verächtlich, bevor er seine Frage selbst beantwortete:
    "Die symbebekóta sind Gestalt, Gewicht und Größe als Eigenschaften, die messbar sind. Die symptmata sind überaus vielfältig, etwa Freiheit, Armut oder dergleichen. Diese Atome aber bewegen sich auch und benötigen dafür Raum, der nicht von Atomen besetzt ist - sonst wären sie ja wie die Steine einer Mauer fest zusammengefügt und daher unbeweglich. Damit ergibt sich für Demokrit und auch für Epikur der Schluss: Es gibt nichts außer eine unendliche Zahl von Atomen und den unendlichen Raum, in dem sie sich bewegen.


    Nun ergibt sich daraus natürlich die Frage, wie aus diesen winzigen Teilen dann Materie, wie ein Tisch oder ein Mensch oder ein Berg daraus werden. Epikur setzt hier - anders als Demokrit - eine Analogie zwischen den winzigen, unbeobachtbaren Atomen und beobachtbaren Objekten: Sie fallen alle mit gleicher Geschwindigkeit nach unten. Dass dies der Fall ist, lässt sich ebenfalls aus dem sinnlich Wahrnehmbaren ableiten: Werft einen Stein von einem zehn pous hohen Turm und dann in zehn pous tiefes Wasser. Ihr werdet sehen, dass er in letzterem langsamer ist, da das Wasser ihn bremst. Woher aber sollte der Widerstand des Wassers kommen, wenn nicht von den Atomen, aus denen es besteht? Besteht aber auch die Luft aus Atomen, dann wird auch sie Widerstand leisten, nur eben geringeren, da die Atome kleiner oder leichter sind. Führen wir diesen Gedanken weiter, können wir schließlich davon ausgehen, dass in der Leere kein Widerstand herrscht und somit alle Atome gleich schnell fallen.


    Ihr Streben nach unten wird jedoch gestört durch spontane Abweichungen, die parenklisis, zusammen und bilden Verbindungen, an denen weitere Atome anstoßen und immer so fort, bis sich daraus verschiedene Objekte ergeben - ein Stein, ein Körper oder ein Berg! Je nach den Eigenschaften der Atome haben dann auch diese Objekte unterschiedliche Eigenschaften und sind weich oder fest, rot oder grün, leicht oder schwer! Doch da die Atome nicht stillstehen, auch in Verbindung, da alles sich bewegt, so unmerklich es auch sein mag, zerfallen letztlich auch wieder alle Verbindungen. Und damit verschwinden auch die Objekte wieder, die sie bilden: Der Stein wird zu Sand und zu Staub, der Körper verrottet, der Berg zerfällt zu Steinen und so weiter und so fort.


    Alles besteht also aus zufälligen Verbindungen der Atome, wird zufällig gebildet und zerfällt wieder. Dies gilt für jedes Ding - auch im menschlichen Körper: Die Organe bestehen aus Atomen, aber genauso die Seele, die uns das Denken und Wahrnehmen ermöglicht, und der Geist, der uns Macht über unseren Körper gibt. Auch unser Bewusstsein beruht somit auf nichts anderem als- Atomen!"
    Er machte eine kurze Pause, um Luft zu holen.
    "Gibt es irgendwelche Fragen?"




  • Aristobulos von Tyrus

    http://www.imperiumromanum.net…isc/ava_galerie/Sulla.jpg Keine Fragen - das Publikum war heute wieder einmal recht passiv. Aber der Philosoph fuhr unbeirrt fort:
    Nun mag man sich fragen: Aber wie können diese Verbindungen so trefflich zusammenpassen, dass sie diese nützliche und gute Welt ergeben? Darauf antworten Demokrit und Epikur jedoch gleichermaßen: Der Zufall! Alles ist so gekommen, weil im unbegrenzten All auch unbegrenzte Möglichkeiten von Verbindungen realisiert werden, es also gar nicht so unwahrscheinlich ist, dass neben beinahe unendlich vielen Welten, die schlechtere Bedingungen liefern, sich auch eine mit den unseren ergibt.


    "Gut, dann könnt ihr jetzt hoffentlich auch erkennen, warum wir mit dieser Erklärung der Welt auch den Tod nicht mehr zu fürchten haben. Denken wir zurück an den 2. Lehrsatz!"
    Er blickte erwartungsvoll in die Runde.




  • Diese Kanonik war nicht so 100% Lucius' Fall gewesen - zwar war das System prinzipiell schon irgendwie logisch, die Ausgangslage schien aber wieder auf irgendwelchen fragwürdigen Axiomen aufzubauen... Aber immerhin - der Grundansatz, von dem Wahrnehmbaren auszugehen, klang ziemlich rational!


    Umsomehr freute er sich heute, dass die Physik an der Reihe war - das musste ja etwas mit der Physis zu tun haben und die war nichts zum Herumdiskutieren, sondern - gemäß der Ausgangslage vom letzten Kapitel - mit den Sinnen greifbar. Wobei der Einstieg den jungen Petronier wieder etwas enttäuschte - Atome? Das waren nun wieder genau solche Teilchen, die man nicht wahrnehmen konnte!


    Aber gut, wenn man sich fragte, woraus die Wurst bestand, die er heute früh gegessen hatte, dann war es ja auch irgendwie irrational, beim kleingekauten Fleischbissen aufzuhören. Und wenn man die Überlegung mit dem Teilen immer weiter führte, war es irgendwie logisch, dass es ein kleinstes Teil geben musste. Nur die Frage, was für Eigenschaften das hatte, war natürlich wieder ein bisschen spekulativ... Vor allem wenn man sich überlegte, dass der Zufall die doch recht gut funktionierende Welt geschaffen hatte, sodass es wohl unendlich viele Paralleluniversen gab...


    Als Aristobulos dann nach dem 2. Lehrsatz fragte, war es - oh Wunder! - sogar Lucius, der sich meldete. Er hatte nämlich endlich eine Abschrift der Sätze des Epikur bekommen und - dank der letzten Bloßsstellung - zumindest das vierfache Heilmittel studiert:
    "Der Tod hat keine Bedeutung für uns; denn was sich aufgelöst hat, empfindet nichts; was aber nichts empfindet, hat keine Bedeutung für uns."
    Das war jetzt wieder wirklich etwas, was absolut logisch aus den bisherigen Darstellungen abzuleiten war!

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  • Aristobulos von Tyrus

    http://www.imperiumromanum.net…isc/ava_galerie/Sulla.jpg "Na geht doch!"
    kommentierte Aristobulos zufrieden und fuhr direkt fort:
    "Haben wir somit den Tod besiegt, kommen wir auf eine weitere Furcht, die wir seit Kindesbeinen kennen und die uns immer wieder erfüllt, wenn wir den Himmel mit seinen beängstigenden Erscheinungen sehen: die Götter."
    Die Stimme des Philosophen wurde nun besonders bedeutungsschwanger:
    "Was sind die Götter? Nun, wir halten sie für übermächtige Wesen, die in den Gefilden der Seligkeit leben und unsterblich sind. Epikur erkennt all dies an - was immer seine Hasser ihm vorwerfen mögen!


    Doch er ist überzeugt: Auch sie sind Wesen aus Atomen und müssen daher irgendwo zwischen diesen unzähligen Welten leben, die es in der Unendlichkeit des Alls gibt. Leben sie dort in Seligkeit und Unsterblichkeit, stellt sich aber die Frage, warum sie in unsere Welt eingreifen sollten. Welchen Nutzen oder Lustgewinn sollten sie davon haben, uns zu quälen oder zu belohnen?"
    Aristobulos' Blick wurde wieder fragend, doch scheinbar wollte er diesmal keine Antwort hören, sondern fuhr rasch wieder fort:
    "Die Götter sind allwissend und daher so weise, dass sie wissen sollten, dass die Einmischung in fremde Angelegenheiten niemandem Glück bringen kann, wie auch wir noch lernen werden - wir können an den ersten Lehrsatz denken! Also gibt es keinen Grund, ihre Einmischung zu fürchten und somit auch in den Himmelserscheinungen oder Wechselfällen des Lebens etwas anderes am Werk zu sehen als den schnöden Zufall, der die Atome formt, wie er will.


    Damit also schließt sich der Kreis und wir können zurückdenken an den 11. oder den 12. Lehrsatz, die da hießen?"
    Der Gehstock kreiste wieder wie ein Geier über der Studentenschar und blieb schließlich an dem dicklichen Flavier hängen.




  • Niemals hatte der junge Flavius jene Grundlagen der Materie reflektiert, welche ihm doch stets evident waren erschienen, zumal seine Edukation nicht sonderliches Interesse an derartigen vergeistigten Fragestellungen hegte, da doch pragmatische Problematiken wie die Schreibkunst, die Beredsamkeit oder gemeine Bildungskanones wie das Wissen um die Götter, die Geschichte wie die basalen Direktionen der Moralphilosophie sämtliche Zeit für sich hatten beansprucht. Jene Infamiliarität, verbunden mit einem leichten Stechen in der Schläfenregion, zweifelsohne evoziert durch das vorabendliche Trinkgelage im Hause des Dionysios, hatte zur Folge, dass die Spekulationen des Aristobulos über Symbebekóta und Symptomata, über natürliches Streben winzigster Teilchen und die materielle Essenz der Seele in schwindelnder Weise ihn quirligen Vöglein gleich umschwirrten, was bei den vergeblichen Bemühungen, eine von ihnen zu greifen und zu intrinsieren, ihm gar blümerante Regungen seiner Vitalia bereitete.


    Zuletzt hingegen vermochte er sich doch wieder zu kalmieren, als der fremde Rhomäer unweit von ihm den zweiten Lehrsatz des Epikur rezitierte, welchen sie in der Tat bereits auf geringerem theoretischen Niveau im Hause des Dionysios hatten disputiert.


    Immerhin erwies sich jene Variation der Stimme als suffizient, seine Appetenz für die folgenden Ausführungen hinsichtlich der Unsterblichen zu erwecken, welche in der Tat einen dubitablen Aspekt der Epikureischen Lehre repräsentierten, da sie doch ob der Sozialisation Manius Minors eine similäre Evidenz besaßen wie die humane Existenz selbst. Kalmierte ihn erstlich die Einsicht, dass sein geschätzter Epikur die Götter nicht leugnete, so nötigte das Folgende ihm doch ein Runzeln der Stirne ab, da erstlich mit der Akzeptanz jener Thesen der Sinn jedwedes Cultus Deorum ad absurdum geführt wurde, folgend jedoch auch die Imagination einer Existenz frei von jedweder Beschäftigung fern der Erde ihm durchaus nicht als Vollendung der Lust mochte erscheinen, sondern eher als ein ennuyantes Vegetieren, was doch gerade zu dem entlastenden Versprechen des Existenzverlustes nach Auflösung der Atome konträr zu stehen schien.
    Hingegen glaubte er sich dieses Tages nicht imstande, eine Disputation mit dem weisen Aristobulos gewachsen zu sein, weshalb er sich kritischer Kommentare enthielt und artig, kaum ward er aufgerufen, die prätendierten Sätze rezitierte:
    " Erstlich: Wenn uns nicht die Vermutungen über die Himmelserscheinungen und die angstvollen Gedanken über den Tod, als ob er uns irgendetwas anginge, ferner die mangelnde Kenntnis der Grenzen von Schmerzen und Begierden belastete, brauchten wir keine Naturphilosophie.
    Sodann: Es wäre nicht möglich, die Angst in Zusammenhang mit den wichtigsten Dingen aufzulösen, wenn man nicht begriffen hätte, was die Natur des Ganzen ist, sondern in Angst vor allem lebte, was die Mythen erzählen; daher wäre es nicht möglich, ohne Naturphilosophie ungetrübte Freude zu genießen."

  • Aristobulos von Tyrus

    http://www.imperiumromanum.net…isc/ava_galerie/Sulla.jpg Aristobulos nickte zufrieden.
    "Es nützte nichts, die Sicherheit unter den Menschen herzustellen, während man noch Angst empfände vor den Vorgängen am Himmel und unter der Erde und überhaupt im unbegrenzten Universum. Mit dieser Einsicht aus dem 13. Lehrsatz also möchte ich euch für heute entlassen, damit ihr Zeit habt, die Naturphilosophie noch einmal zu meditieren und euch vorzubereiten auf den Kern der Therapie des Epikur: die Ethik!"
    Mit diesen Worten schloss Aristobulos für den heutigen Tag die Vorlesung und atmete tief durch.




  • Aristobulos von Tyrus

    http://www.imperiumromanum.net…isc/ava_galerie/Sulla.jpg Als Aristobulos heute den Unterricht begann, leuchteten seine Augen richtiggehend - man konnte allzu deutlich sehen, dass dieser Bereich ihm am meisten Spaß machte:
    "Meine Akroatoi und Gasthörer!
    Wir beginnen heute mit dem letzten und wichtigsten Kapitel in der Philosophie des großen Epikur, gewissermaßen der wichtigsten Zutat in seiner Seelen-Arznei: der Ethik.
    Wissen mag uns manche Ängste nehmen und damit den Schmerz bekämpfen, sodass auch die Physik ihre Bedeutung hat. Doch die Abwesenheit dieses Schmerzes allein ist nicht das, was wir ein glückliches Leben nennen mögen. Vielmehr müssen wir uns fragen, wie wir denn leben sollen, wenn Tugenden, Weisheit, Götter oder Ideen nicht der Maßstab sein können, dem wir folgen müssen. Was bleibt? Es ist die Lust, die das Gegenteil des Schmerzes ist. Um Lust oder Schmerz zu beurteilen, müssen wir auf unsere pathe hören, die wir schon beim kleinsten Säugling am Werke sehen: Denn was ist es, worauf ein Säugling, noch völlig unbestimmt durch die Einflüsse unserer Welt, sein Streben richtet? Auf Herrschaft? Nein. Auf ein höchstes Gut oder Wissenschaft? Nein! Er scheint einzig und allein dafür zu leben, seine Begierden zu befriedigen: Seine Nahrung zu erhalten, die Aufmerksamkeit seiner Amme oder eine saubere Windel.


    Es ist also der Umgang mit unseren Begierden, durch den wir entweder Sklaven des Schmerzes bleiben oder Lust gewinnen. Dazwischen gibt es nichts, wie uns schon der 3. Lehrsatz lehrt: Die Größe der Lust hat ihre Grenze in der Beseitigung allen Schmerzenden. So lange aber Lust empfunden wird, gibt es dort, wo sie empfunden wird, nichts, was weh tut oder traurig macht oder beides zusammen,
    Die Lust allein ist es also, der wir entgegenstreben sollen, um zu beständiger Lust oder Seelenruhe zu gelangen, die die Philosophen ataraxia nennen.



    Epikur mahnt deshalb in seinem 25. Lehrsatz:
    Wenn du nicht in jeder Situation all dein Handeln auf das Ziel beziehst, das dir die Natur vorgibt, sondern vorher abweichst, indem du Ablehnung und Zustimmung auf etwas anderes beziehst, werden bei dir die Taten nicht den Worten entsprechen.


    Anstatt also von Tugenden oder Prinzipien auszugehen, wollen wir von den Begierden des Menschen ausgehen, die wir alle aus der alltäglichen Erfahrung nur allzu gut kennen. Epikur unterteilt sie in seinem 29. Lehrsatz. Wer weiß ihn noch?"




  • Wieder war Lucius mit dabei - dieser Teil der Vorlesung war immerhin eine praktische Angelegenheit und was man so vom Hörensagen von Epikureern kannte, auch eine ganz rationale und angenehme zugleich. Was der 29. Lehrsatz war, hatte er allerdings nicht mehr im Kopf - es war ja schon Ewigkeiten her, seit er versucht hatte, sich das alles einzuprägen. Und er war immerhin Subpräfekt und hatte den Kopf mit anderen Dingen voll...

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  • Nun endlich waren sie bei jenem Aspekt in Epikurs Weisheiten angelangt, welcher die Intention des jungen Flavius war gewesen, als er vor geraumer Zeit sich für jene Lektion hatte inskribiert, obschon selbstredend seither zur Gänze sein Leben war davon hinweg und in neue, epikureische Fahrwasser war gerissen worden. Mit einem sublimen Lächeln blickte er hinüber zu Anaximander, mit welchem er bereits seit vielen Tagen im Hause des Dionysios einer, wenn auch simplifizierten Spielart des Epikureismus frönte, und der zweifelsohne ebenso wie er selbst erst gestrig den erforderten Lehrsatz aus dem Munde des altklugen Epimenides hatte vernommen. Dennoch war es Manius Minor, welcher endlich sich meldete und verkündete:
    Die Begierden sind teils natürlich und notwendig, teils natürlich und nicht notwendig, teils weder natürlich noch notwendig, sondern durch leere Meinung begründet.

  • Aristobulos von Tyrus

    http://www.imperiumromanum.net…isc/ava_galerie/Sulla.jpg Wieder nickte der Philosoph.
    "Hierzu mag eine Erläuterung angebracht sein: Natürliche, notwendige Begierden sind wohl das einfachste - es sind die Begierden, die auch den Säugling beschäftigen: Unter Nahrung, Gesundheit und Sicherheit lassen sich die meisten subsummieren. Ihnen ist zu eigen, dass sie stets begrenzt sind - wenn ich satt bin, hat die Begierde nach Nahrung ihre Grenze erreicht."
    Er sah spöttisch zu dem dicklichen Römer, der sich unter die Studenten gemischt hatte.
    "Dann gibt es natürliche, nicht notwendige Begierden. Dies sind teils Verfeinerungen der notwendigen Begierden, etwa das Streben nach meinem Lieblingsessen, nach schöner Kleidung. Teilweise aber auch Begierden, die vergehen, auch wenn ich sie nicht befriedige. Man denke etwa an Sexualität. Bleiben noch unnatürliche und unnötige Begierden - all die Dinge, die wir glauben zu brauchen oder eingeredet bekommen, begonnen bei Macht über Luxus bis hin zum Ansehen oder auch zur Weisheit. Beide Arten zu begrenzen fällt schon schwerer - ich kann immer noch eine schönere Frau oder einen hübscheren Knaben finden, kann der angesehenste, reichste oder mächtigste Mann in meiner Straße, meiner Stadt oder in der ganzen koine ja auch darüber hinaus werden wollen und doch immer mehr Ansehen, größeren Reichtum oder absolutere Macht erstreben!"
    Jetzt sah der Philosoph eindringlich in die Augen jedes einzelnen Studenten, als wolle er in ihre Seelen blicken, wo sich all diese überflüssigen Begierden tummelten.
    "Wenn die Befriedigung von Begierden mir Lust bereitet, die mangelnde Befriedigung aber Schmerz, folgt daraus ein einfacher Imperativ: Befriedige deine Begierden! Und wenn das nicht möglich ist, dann töte sie ab!"
    Wieder wanderte Aristobulos' Zeigefinger in die Höhe.
    "Nun stellt sich die Frage, wie ich entscheide, welche Begierde zu befriedigen ist und welche nicht? Die Antwort ist wieder recht einsichtig: Es gibt Begierden, die befriedigt werden müssen, sonst endet meine Existenz - die natürlichen, notwendigen Begierden. Sie haben außerdem den Vorzug, dass sie stets begrenzt sind.
    Komplizierter ist es bei potentiell unbegrenzten Begierden. Sind sie nicht natürlich, dann gibt es keinen Grund, ihnen hinterherzueilen - sie werden immer mehr Schmerz als Lust bieten.
    Bleiben die natürlichen, nicht notwendigen Begierden. Hier gilt es für jeden einzeln abzuwägen und realistisch einzuschätzen: Was kann ich befriedigen? Wovon muss ich mich frei machen durch Übung, Askese und Selbsterziehung? Kann ich mir etwa die Austern leisten, die ich so gerne esse? Dann soll ich sie genießen, denn ihr Genuss bereitet mir immer mehr Lust. Doch bin ich ein armer Schlucker, dann sollte ich mir klar machen, wie überflüssig Austern doch sind, muss mich vielleicht an ihre unangenehme Salzigkeit oder meinen Nachbarn erinnern, der sich an schlechten Austern vergiftete, bis ich die Begierde nicht mehr verspühre."

    Auf seinen Stock gestützt ging er zu seiner Säule, drehte sich dann aber rasch um.
    "Ganz einfach? Vielleicht nicht ganz. Deshalb gibt uns der große Epikur zahlreiche Hilfsmittel auf den Weg, unsere Begierden zu beurteilen und mit ihnen umzugehen. Man denke an den 26. oder den 30. Lehrsatz."
    Er deutete stumm auf den dünnen Rhomäer in seinem Kurs, der immer so finster dreinblickte.




  • Die Kategorisierung der Begierden schien einerseits einleuchtend und klar, bei näherem Hinsehen aber auch wieder ein bisschen willkürlich. Warum war Gesundheit notwendig? Es gab ja auch genügend Leute, die ihr ganzes Leben kränkelten. Oder im Krieg lebten - das war nicht sehr schön, aber eben auch nicht automatisch tödlich. Andererseits war die Sache aber vielleicht auch gar nicht so relevant, wenn er bedachte, dass das ganze eine Richtschnur für die Frage sein sollte, welche Begierden zu befriedigen und welche abzutöten waren. Am Ende schien es ja nur darum zu gehen: Kann ich die Begierde befriedigen oder nicht?


    So dachte der junge Petronier noch nach, als Aristobulos ihn plötzlich unerwartet aufrief. Etwas erschrocken riss Lucius die Augen auf und kramte hektisch in seinem Gedächtnis. Es war eine Ewigkeit her, dass er versucht hatte, die Sätze auswendig zu lernen - wie sollte er sich daran erinnern?
    "Ich - äh - ich - weiß nicht..."
    Er hatte wirklich nicht den Hauch einer Ahnung - wozu sollte man sich diese Lehrsätze auch Nummer für Nummer merken?


    Schließlich meldete sich neben ihm ein ägyptisch aussehender Jugendlicher, der mit ein bisschen Arroganz in der Stimme erklärte:
    "Alle Begierden, die nicht zu einer Schmerzempfindung führen, wenn sie nicht befriedigt werden, sind nicht notwendig, sondern erzeugen ein Verlangen, das leicht zu vertreiben ist, wenn es sich erweist, dass sie auf schwer Beschaffbares oder gar Schädliches zielen.


    Außerdem: Die natürlichen Begierden, die keine Schmerzen verursachen, wenn sie nicht befriedigt werden, obwohl das angespannte Bemühen um Befriedigung erhalten bleibt, entstehen aus einer leeren Meinung; und wenn sie nicht beseitigt werden können, dann liegt es nicht an ihrer eigenen Natur, sondern an der Neigung des Menschen zu leeren Meinungen."
    Lucius war entlastet und neidisch zugleich - er fühlte sich bloßgestellt und das von diesem Peregrinus, der wahrscheinlich nicht einmal das römische Bürgerrecht hatte!

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  • Aristobulos von Tyrus

    http://www.imperiumromanum.net…isc/ava_galerie/Sulla.jpg Der Philosoph nickte.
    "Ebenso gilt es im Auge zu behalten, dass Lust und Schmerz zwar die einzigen Alternativen, in ihrer Qualität aber durchaus unterschiedlich sind, wie uns die Erfahrung lehrt: Mancher Schmerz ist nicht physisch, sondern geistig und bezieht sich nicht auf die Gegenwart, sondern auf Vergangenheit - etwa die Reue - oder die Zukunft - wie die Furcht, die zu eliminieren wir ja schon in der Physik erstrebt haben.


    Doch ebenso muss die Ethik uns abwägen lehren, um Reue für die Zukunft zu vermeiden und langfristig Lust zu gewinnen. Denn schon der 9. Lehrsatz sagt uns: Wenn alle Lust in Hinsicht auf Umfang und Dauer zusammengefasst werden könnte und dies im ganzen Organismus oder wenigstens in den wichtigsten Teilen des menschlichen Körpers möglich wäre, dann unterschieden sich die Lustempfindungen niemals von einander.
    Doch leider ist dies nicht so. Verprassen wir heute unser gesamtes Geld, um mir die teuerste Hetäre von ganz Alexandria zu leisten, dann werden wir womöglich diesen Abend größte Lust empfinden, der Morgen wird aber ein fades Erwachen bringen. Stehle ich meinem Nachbarn dann sein Geld, werde ich mir ebenfalls dauerhaften Schmerz zufügen, da ich ständig fürchten muss, ertappt und bestraft zu werden.


    Daher spricht auch Epikur in seinem 5. Lehrsatz wie?"
    Er deutete auf einen ägyptisch aussehenden jungen Mann, der mit gelangweilter Stimme herunterleierte:
    "Es ist nicht möglich, lustvoll zu leben, ohne vernünftig, anständig und gerecht zu leben, und auch nicht vernünftig, anständig und gerecht, ohne lustvoll zu leben. Wem dies aber nicht möglich ist, der kann auch nicht lustvoll leben."
    Aristobulos nickte und fuhr fort:
    "Damit scheinen wir wieder bei dem zu sein, was auch die anderen Philosophen uns lehren. Aber wir müssen beachten: Anstand, Gerechtigkeit, Vernunft oder Weisheit sind nur Strategien der Schmerzvermeidung und der langfristigen Befriedigung unserer Begierden. Nur wenn wir einen langfristigen Lustgewinn erkennen können, sollten wir also Schmerz auf uns nehmen, niemals aber um seiner selbst willen!"
    Wieder gab es keine kurze Pause, um bei den Studenten das Gesagte setzen zu lassen. Erst danach ging es weiter:
    "Nehmen wir dies ernst, dann ergeben sich daraus einige Folgerungen, die einem Platoniker, einem Aristoteliker oder einem Stoiker nicht schmecken werden:
    Eine davon nennt er etwa im 14. Lehrsatz: Wenn auch die Sicherheit vor den Menschen bis zu einem gewissen Grad auf der Grundlage einer festgefügten Macht und auf der Grundlage guter wirtschaftlicher Verhältnisse gewährleistet ist, so erwächst doch die deutlichste Sicherheit aus der Ruhe und dem Rückzug vor den Leuten.
    Denn die Politik und der Staat haben in unserer Weltsicht nur einen Zweck: Damit man sicher sein konnte vor den Menschen, gab es das natürliche Gut der Herrschaft und des Königtums, mit dessen Hilfe man sich gegebenenfalls diese Sicherheit verschaffen konnte., Lehrsatz 6. Ist dies durch ein halbwegs funktionierenden Staatswesen aber gewährleistet, gibt es keinen Grund, sich an diesem schmerzbeladenen Moloch zu beteiligen. Denn welche Lust sollte ich daraus gewinnen, Unmengen an Geld und Nerven in aufreibende Wahlkämpfe zu stecken, mir endlose Stunden an Aktenstudium oder langweiligen Gastmählern mit sogenannten politischen Freunden um die Ohren schlagen?
    Viel klüger ist es also, sich zurückzuziehen, nicht leerem Ansehen und vermeintlicher Macht hinterherzurennen, sondern besser darüber nachzudenken, was mir in meinem privaten Leben, das ich weitaus besser kontrollieren kann als das öffentliche, Lust bereiten mag."

    In den Reihen der Studenten erhob sich leichtes Gemurmel. Die Mahnung zur Abstinenz von aller Politik und öffentlichem Wirken war doch ein starkes Stück - egal ob man Römer oder Grieche war. Aristobulos blickte ihnen aber nur trotzig entgegen.
    "Ja, so ist es! Und noch etwas sage ich euch: Niemals gab es absolute Gerechtigkeit, sondern nur einen Vertrag, der jeweils im gegenseitigen Austausch an beliebigen Orten darüber abgeschlossen wurde, niemanden zu schädigen oder sich schädigen zu lassen., 33. Lehrsatz!
    All die Diskussionen über die Gerechtigkeit sind also ebenfalls müßig. Denn im Grunde hat Epikur alles wichtige schon in seinem 37. Lehrsatz gesagt. Wie lautete dieser noch gleich?"

    Fragend sah er in die Runde.




  • Immerhin ersparte dieser Aristobulos ihm weitere Belehrungen über das Griechische und seine Aussprache oder so. Stattdessen wurde es jetzt tatsächlich konkreter und der Ausgangspunkt Epikurs klang ziemlich rational: Ich muss Schmerz vermeiden und sonst meine Lust befriedigen. Da war es logisch, auch in die Zukunft zu planen und die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Logisch war dann auch, seine Ressourcen einzuteilen und - wenn man es konsequent dachte - dass Gerechtigkeit eigentlich nur dann empfehlenswert war, wenn sie den eigenen Interessen nutzte. Oder ihnen nicht schadete - ein Verbrechen, von dem man etwas hatte, das aber so perfekt war, dass es niemals aufgedeckt werden würde, war akzeptabel. Das klang in Lucius' Ohren ziemlich vernünftig.


    Die zweite Sache war dem jungen Petronier dagegen schon wieder ein bisschen weniger einleuchtend - er wusste sehr gut, dass es zwar manchmal anstrengend war, Macht zu gewinnen, dafür aber auch unglaublich erregend, sie auszuüben. Von Rangeleien, bei denen er die Oberhand gewonnen hatte, über die Lupanare in Rom, wo er es genoss, absolute Kontrolle über die Lupae auszuüben, bis zum Gefühl, als Magister Vici und jetzt als Subpraefectus Untergebene herumzukommandieren und gefürchtet zu werden. Wahrscheinlich war Epikur eher ein Schwächling, der sich gerne herumschubsen ließ - diesen Ratschlag verstand der Subpräfekt jedenfalls nicht.

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    Klient - Herius Claudius Menecrates

    DECURIO - MOGONTIACUM

    MUNICEPS - MOGONTIACUM

  • Die Worte Aristobulos' hinsichtlich menschlicher Begierden verschafften dem jungen Flavius eine Klarität, welcher er lange Jahre hätte bedurft, um jene Gefühle der Insekurität, ja Überforderung zu annihilieren, die Zeit seines Lebens ihn angesichts der insatisfakablen familiaren Erwartungen hinsichtlich formvollendeten Betragens in den höchsten Kreisen der Urbs, insuperabler Meisterschaft in jedweder Disziplin zur Wahrung des Nimbus flavischer Superiorität und insonderheit des allzeitigen Ringens um Konservierung, so nicht Mehrung politischer Influenz der Gens Flavia. Im Spiegel epikureischer Weisheit verpuffte all dies zu widernatürlichen Ansinnen fern jedweder Necessität und basierend auf leeren Meinungen. Denn in der Tat hatte er allzu oft sich die Frage gestellt, ob jenes eitle Beharren auf Titulaturen und Positionen, jenes servile Koalieren zur Wahrung des Status quo wie jene masochistische Aurotortur bei der kompromisslosen Verfolgung patrizisch-traditionalistischer Normen von Gravitas und Dignitas, welche letztlich dessen Verfolger zu Spott und Nachteil gereichten.
    Obschon auch die Maximen, welchen der Kreis der Myrmidonen nachjagte, ebenso zweifelsohne zu den nicht notwendigen Begierden war zu zählen, so ließ sich doch konstatieren, dass selbige zu verfolgen in ihrer privilegierten Position, wo monetäre Sorgen so ferne lagen wie der Tiber hier am Nil, durchaus vertretbar mussten erscheinen, zumal trotz der faktischen Oberflächlichkeit der Konversation jene Gemeinschaft dem Ideal intimer Freundschaft weitaus näher kam als sämtliche Familienbande, welche doch aus nichts anderem bestanden als der Begierde, sich dem anderen durch das Erfüllen von dessen niederen Begierden gefällig zu machen. All dies war abzuwerfen wie der Gram über das paternale Versagen, welches doch nur eine historisch projizierte Begierde blieb, deren Befriedigung weder als possibel, noch dauerhaft Lust generierend war zu ästimieren.
    Attraktiv erschien überhaupt die Weisung, das nicht zu ändernde nicht zu bekämpfen, sondern sich mit diesem anzufreunden, respektive zumindest zu akzeptieren. Was wollte er unternehmen im Antlitz gräulicher Vermutungen hinsichtlich seiner Schwester? Wozu sollte er sich mühen, seine korporalen Defizite zu cachieren, wo dies ohnehin lediglich in insuffizienter Weise war zu bewerkstelligen?


    In diesen Tenor fügte sich der Rat zu politischer Abstinenz somit recht adäquat, denn es leuchtete dem jungen Flavius sogleich ein, dass mit dem Cursus Honorum mehr Mühen denn Freuden waren konnektiert. Wenn er allein seines Vaters gedachte, der sich durch derartige Aktivitäten beinahe um sein und seiner Familie Leben gebracht hätte, um sodann seine eigenen Prinzipien Lügen zu strafen, lag die Einsicht nicht ferne, dass das gesamte System einen singulären Produzenten nicht endender Unlust repräsentierte, in welchen die übrigen Leiden an den familiaren Erwartungen integriert und verwoben waren.


    Bedenklicher war indessen die Entsagung jedweder Werte, namentlich der Gerechtigkeit, die doch im 5. Lehrsatz soeben noch war zitiert worden. Während er darüber noch sinnierte, replizierte sein Freund Anaximander bereits die Frage des Dozenten:
    "37. Alles, was als gerecht gilt, darf nur dann den Rang des Gerechten beanspruchen, wenn es nachweislich den Anforderungen des geregelten Umgangs miteinander entspricht, ob es nun für alle Menschen gleich oder nicht gleich ist. Wenn aber jemand ein Gesetz erlässt und es nicht der Regelung des Umgangs miteinander dienlich ist, dann hat es nicht mehr die natürliche Legitimation des Rechts. Und wenn sich der Nutzen, der vom Recht ausgeht, verändert, aber noch eine Zeit lang der ursprünglichen Vorstellung entspricht, dann war es nichtsdestoweniger zu jener Zeit gerecht für alle, die sich nicht durch leere Wort selbst verwirren, sondern einfach die Tatsachen im Auge behalten."
    Als jene Worte an das Ohr Manius Minors drangen, glaubte er schlussendlich doch eine akzeptable Position gewonnen zu haben:
    "Gerechtigkeit ist somit eine Norm, deren Utilität ihre Akzeptanz zu generieren hat? Verhält es sich dergestalt mit sämtlichen Tugenden und Gesetzen?"
    Tugenden waren es gewesen, die seine gesamte Edukation hatten bestimmt. Stets waren sie als ewige Prinzipien ihm präsentiert worden, ja den Göttern gleichgestellt, was sich in der kultischen Verehrung der Virtus, der Iustitia und vieler mehr im römischen Cultus Deorum widerspiegelte. Niemals hatte er jene infrage gestellt, niemals selbst die Possibilität erwogen, sie seien relativierbar oder gar simple, dem Fluss der Historie unterworfene Konventionen.

  • Aristobulos von Tyrus

    http://www.imperiumromanum.net…isc/ava_galerie/Sulla.jpg Der Philosoph nickte zufrieden, als der junge Grieche die Sätze fehlerfrei rezitierte. Als dann der dickliche Rhomäer nachfragte, legte er dagegen kurz die Stirn in Falten.
    "Richtig. Tugenden sind Konventionen, die keineswegs erhaben sind über die Fragen der Nützlichkeit und der Läufe der Geschichte. Was gestern als Tugend galt, kann heute unnütz und damit unklug sein. Was morgen notwendig ist, mag heute keine Rolle spielen. Für uns Epikureer ist es deshalb wichtig, jene Norm und jede Tugend daraufhin zu prüfen, ob ihre Einhaltung uns langfristig Lust oder Schmerz bringen wird. Dabei ist natürlich auch zu bedenken, dass andere uns mit demselben Maß messen werden, mit dem wir messen - auch das ist zu berücksichtigen. Insofern ergibt sich trotz der Relativität aller Normen die Einsicht, die Epikur im 5. Lehrsatz formuliert. Zur Erinnerung noch einmal:
    Es ist nicht möglich, lustvoll zu leben, ohne vernünftig, anständig und gerecht zu leben, und auch nicht vernünftig, anständig und gerecht, ohne lustvoll zu leben. Wem dies aber nicht möglich ist, der kann auch nicht lustvoll leben.
    Der Unterschied zu denen, die sich unreflektiert irgendwelchen Konventionen unterwerfen, soll der Weise aber aus Einsicht in den Lustgewinn, den er aus vernünftigem, anständigem und gerechtem Lebensstil zieht, so handeln. Und stets abwägen, was es in der konkreten Lage heißt, vernünftig, anständig und gerecht zu handeln."

    Wieder gab Aristobulos durch eine kleine Pause Gelegenheit, das Gehörte noch einmal zu durchdenken. Dann setzte er erneut an:
    "Doch wollen wir uns zum Abschluss dieser Lektion nicht nur auf das konzentrieren, was Epikur zerschlägt und als philosophisches Geschwätz enthüllt, obwohl er selbst schon sagt: Der Reichtum unserer Natur ist begrenzt und leicht zu erwerben; aber der Reichtum an wertlosen Meinungen weitet sich aus ins Unendliche."
    Wissend lächelte der Alte.
    "Denn statt sich in Gespinste von Göttern, der Politik oder dem Philosophieren über Gerechtigkeit und Tugenden zu verlieren, empfielt Epikur uns etwas ganz anderes: Vor allem, was die Weisheit für die Glückseligkeit des ganzen Lebens bereitstellt, ist der Gewinn der Freundschaft das bei weitem Wichtigste., 27. Lehrsatz. Die Freundschaft ist es, die uns größte Sicherheit gibt und damit ein steter Quell neuer Lust ist. Sagen wir es mit den Worten Epikurs aus seinem 28. Lehrsatz: Dieselbe Erkenntnis brachte uns die Gewissheit, dass nichts Furchtbares ewig oder lange Zeit dauert, und ließ uns erkennen, dass die Sicherheit gerade unter schwierigen Bedingungen vor allem durch Freundschaft gewährleistet ist.
    Als letzter Rat, den ich euch in dieser Vorlesung mit auf den Weg geben möchte, soll also dies stehen: Denkt über die physikalischen, kanonistischen, theologischen und ethischen Ratschläge Epikurs nach und wägt ab, ob ihr euer Leben an ihnen ausrichten wollt. Doch unabhängig vom Ergebnis dieser Überlegungen kann es niemals ein Fehler sein, sich gute Freunde zu suchen, denn sie sind Quell beständiger Lust - selbst wenn ihr es vorzieht, euch in anderen Bereichen mit unnötigem Schmerz zu quälen!"

    Aristobulos holte tief Luft.
    "Gibt es noch Fragen zur Ethik des Epikur?"




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