Mit ihrem Aufbegehren erhielt die Medica nun endlich eine durchaus ansprechende Begründung für die Negierung der Götter durch die Epikureer. Sie konnte durchaus einige Argumente nachvollziehen und für sich annehmen, aber längst nicht alle. Für Chrysogona war der menschliche Körper und sein wundersames Funktionieren ein eindeutig göttliches Zeichen. Nur die Götter konnten in der Lage sein, so etwas zu erschaffen. Und das traf nicht nur auf den Menschen zu, sondern auch auf Tiere, Pflanzen und ebenso die unbelebte Natur - somit alles was man als "die Welt" bezeichnete. Wer, wenn nicht die Götter, konnten so einen Schöpfungsakt vollbringen. Chrysogona begann ihre Sichtweise zum Besten zu geben.
"Neben der Schöpfung der Welt und der Lebewesen, die in meinen Augen ein göttliches Werks sind - sein müssen (!) - ist das Wirken der Götter nicht nur im Schöpfungsakt ersichtlich, sondern eben auch im täglichen Leben. Ich muss die Götter nicht fürchten sondern nur akzeptieren, dass es eine Macht gibt, die jenseits dessen liegt, was wir Menschen mit der Vernunft erfassen können. Wie sonst sind Krankheit und unerwartete Heilung zu erklären? Es gibt eben Dinge zwischen Himmel und Erde, zwischen Olymp und Tartaros, die sich nicht durch menschliches Wirken oder die Kräfte der Physik erklären lassen. Dass die Götter nicht alles bestrafen oder neben jede Lust den Schmerz stellen, ist selbstverständlich. Man opfert ja auch nicht für alles und jedes, was man sich wünscht oder was man fürchtet im Tempel. Nicht selten jedoch erlebte ich auf Kos wundersame Heilungen nach den Opfern im Tempel und den inbrünstigen Gebeten der Kranken. Genauso wie Heilungen nach eine Nacht im Inkubationsschlaf, wo Asklepios den Heilungssuchenden im Traum erschien. Wie erklärst du dir das? Ist darin nicht mehr als deutlich das Wirken der Götter zu erkennen?"
Sie legte wieder ihren Kopf ein wenig schief und sah den Lehrer mit durchdringendem Blick aus dunklen Augen an. Doch Chrysogona war noch nicht fertig.
"Was das Schicksal angeht, sehe ich auch den Wunsch und das Wirken der Götter. Ich bin fest überzeugt, dass es mein Schicksal ist, zu heilen. Und wer sagt dir, dass du deine Profession aus eigenem Willen und Wunsch gewählt zu haben? Was ist denn das - der freie Wille? Wie frei kann der Wille sein? Sind wir nicht alle determiniert durch Eltern, Abstammung, Herkunft und Ausbildung? Wie frei war deine Entscheidung Philosoph zu werden? Haben nicht die Götter dich zum Kind deiner Eltern gemacht, die eben einen Sohn zum Studium schicken konnten, anstatt als Färber mit den Füßen im Urinbottich zu treten? Wärst du Philosoph geworden, wenn deine Eltern Sklaven gewesen wären? Wie frei ist der Mensch? Sind es nicht doch eher die göttliche Vorsehung die unser Schicksal bestimmt?"