Beiträge von Phaeneas

    Hungrig erwiderte Phaeneas den Kuss. Cimons unsicherer Blick und was er ihm ins Ohr flüsterte, das fiel ihm zunächst schwer einzusortieren. Dann erinnerte er sich, sein aktueller Liebster war noch relativ unerfahren. Anders als die Männer, mit denen der Bithynier vor ihm geschlafen hatte. Da er selber früher behutsam eingeführt worden war, hatte er vor, auch Cimon einen entspannten langsamen Einstieg zu ermöglichen. Auch wenn die Zeit mit Arion inzwischen schier Ewigkeiten zurücklag und Phaeneas immer noch nicht näherungsweise satt von Cimon wurde, so ungeduldig war er dann auch wieder nicht. Und im Gegensatz zu anderen Menschen wollte er seinen Geliebten nicht durch seinen sozialen Status zu Dingen drängen, bei denen der sich nicht wohlfühlte, wenn sie miteinander intim waren. Außerdem gab es mehr als genug, wofür die meisten keine Vorerfahrungen brauchten, was sich der Bithynier gerne bei Cimon holte. Diesen Körper immer wieder neu zu erkunden war in jeder Hinsicht traumhaft.
    Und in der Leidenschaft mit seinem Liebsten erlebte er etwas, was in seinem Leben selten genug vorgekommen war. Seinen Körper erlebte er plötzlich als eine Quelle von Genuss, statt von Schmerzen und Demütigung oder einfach nur dumpfer Leere und Gleichgültigkeit. Es war eine dringend benötigte Auszeit von Phaeneas‘ Normalität.
    Einer von sehr vielen Gründen, warum der Bithynier bisher in keiner seiner Liebesbeziehungen der Zweisamkeit mit seinem Geliebten je auch nur näherungsweise überdrüssig geworden war. Ganz im Gegenteil.


    Und mit Cimon war das möglich wie noch nie zuvor, schließlich lebte er mit ihm im gleichen Haushalt. Mahir hatte er zum Beispiel nur an den Abenden und anschließenden Nächten gesehen, wenn dessen Herr den Eigentümer des Bithyniers besucht hatte. Jetzt im gleichen Haushalt war es gar kein Problem, seinen Liebsten jeden Morgen und jeden Abend zu verführen. Oder es zumindest zu versuchen. Und schließlich war die Zeit mit Arion viel zu lange her, sodass Phaeneas erst mal eine Menge nachholen wollte, jetzt da der Nubier und er nicht mehr voneinander getrennt waren. Aber eigentlich war er am Anfang jeder seiner Beziehungen der Meinung gewesen, sich für die Zeit davor, ohne Liebesbeziehung, entschädigen zu müssen. Und solange er einen Partner in seinem Leben hatte, wollte er die Möglichkeit zur Intimität so viel wie möglich nutzen. Schließlich war das erfahrungsgemäß nie lang der Fall und er würde wieder früh genug allein aushalten müssen.


    Für Phaeneas war es immer noch ungewohnt, schriftliche Erinnerungen an Cimons Liebe und Zuwendungen zu besitzen. Und wenn das so weiterging, konnte er die kleinen Nachrichten, die sein Liebster ihm im Alltag hinterließ, nicht mehr alle aufbewahren. An andere Menschen, die in seinem Leben wichtig gewesen waren, hatte er nur die Erinnerungen, die sein Geist abrufen konnte. Von materiellen Erinnerungsstücken hielt er nichts. Umso weniger war für ihn begreiflich, wenn andere einen Aufstand veranstalteten, sobald sie die Kette ihrer Mutter verloren hatten. Das, was Phaeneas‘ Mutter ihm gegeben hatte, konnte er nicht verlieren. Seine ganze Art zu leben hatte er von ihr gelernt. Trotzdem waren die Botschaften in Schrift irgendwie anders. Und so löschte er die Worte vorerst noch nicht und bewahrte sie weiter auf.
    In der Öffentlichkeit legte er wert darauf, dass die zärtlichen Gesten unauffällig blieben. Schließlich sollten bloß keine Zweifel an ihrer beider Arbeitsmoral aufkommen. Und dem Bithynier war es wichtig, mit Cimon so aufzutreten wie ein anständiges römisches Ehepaar, nicht wie ein Prostituierter, der auf der Straße einen Kunden anwarb.


    Zeit mit Cimon war jedes Mal wieder wundervoll. Dementsprechend waren die Worte aus dessen Mund genau das, was er hören wollte. Sein Herz hüpfte vor Glück und er strahlte seinen Liebsten von der Seite her an, bevor er seinen Kopf an dessen Schulter schmiegte. „Ich werde dich auch niemals verlassen, Cimon.“ Nach einem kurzen Moment ergänzte er: „Leider hat mir das Schicksal immer und immer wieder die Menschen genommen, die mir wichtig waren. Ich wünsche mir nichts mehr, als dass ich endlich mit dir zusammen bleiben kann. Aber wahrscheinlich wird das nicht so kommen …“, fügte er mit leiser trauriger Stimme hinzu.

    Während Phaeneas den Nubier meistens wie Luft behandelte und nur auf das Nötigste reduziert mit ihm interagierte, begann er relativ schnell, die Katzen des Hauses kennenzulernen und zu streicheln, sobald er ihnen in einer kurzen Pause begegnete. Katzen hatten sich ihm gegenüber noch nie undankbar oder treulos verhalten. Und er hatte sich nie von einer Hauskatze bedroht gefühlt.


    Davon, wie Cimon seine Nächte verbrachte, bekam Phaeneas absolut nichts mit. Sobald er die Augen schloss, schlief er tief und fest. Für gewöhnlich konnte er sich kaum an Träume erinnern. Zum Aufstehen wachte er immer pünktlich um die exakt gleiche Uhrzeit aus diesem scheinbar traumlosen Schlaf auf und arbeitete seine Gewohnheiten ab.


    Der Bithynier warf erst einen Blick Richtung Cimons Lager, als der schon auf der Bettkante saß. Er konnte trotz allem nicht anders als davon angetan zu sein, wie begehrenswert der nubische Mitsklve aussah. Und in diesem Moment erreichte er sowieso schon hörbar die angestrebte körperliche Befriedigung. Sobald dieser Teil seiner täglichen Routinen erledigt war, machte er mit den wie üblich danach folgenden weiter: Er wusch sich an der Waschschüssel und tauschte danach die Schlaftunica gegen Tageskleidung aus. Ohne Cimon weiter zu beachten, zog er sich aus und wieder an, so selbstverständlich und beiläufig wie eben jeden Morgen. Danach brach er zum Frühstücken in der Küche auf. Mit der gewohnten körperlichen Entspannung, die sich aus seiner Routine ergab.


    Ein paar Tage später hielt sich Phaeneas immer öfter eine Zeit lang in Cimons Nähe auf. Zum Beispiel war ein wichtiges Element seines Tages vor einem Fenster oder im Peristyl zu sitzen und in die Dunkelheit zu starren. So lange, wie er das eben nach seinem Arbeitspensum als Sklave in seinem knapp kalkulierten Tagesablauf unterbringen konnte. Das hatte er sich angewöhnt, nachdem seine Mutter von ihm getrennt worden war, als er ungefähr zehn Jahre alt gewesen war. Davor hatte er jeden Abend an ihre Brust gedrückt, mit der Nase in ihren Haaren vergraben verbracht. Die Ruhe, die sie ihm dadurch gegeben hatte, hatte er danach vermisst. Während er bewegungslos nachdenklich in die Ferne schaute, hielt er sich in seiner Phantasie an einem ganz anderen Ort auf. Er wusste nicht, ob dieser Ort überhaupt existierte. Wahrscheinlich nicht. Jedenfalls war der Bithynier noch nie dort gewesen. Am meisten ähnelte diese Landschaft einer Mischung aus italischer Landschaft und germanischen Wäldern. Weit und frei war es dort und Menschen und Tiere nahm er nur aus der Ferne war. Es war ihnen unmöglich, sich ihm weiter zu nähern. Der Himmel war meistens weder besonders blau, noch besonders bewölkt. Phaeneas lief einfach nur darin herum und genoss es, nicht von anderen belästigt zu werden. Als Unfreier in einem Sklavenhaushalt war er schließlich kaum Privatsphäre gewohnt. Allein zu sein war eine Seltenheit und meistens nur von kurzer Dauer. Umso mehr war das Zweier-Zimmer mit Cimon eine Umstellung für ihn. Und sich genau so zu verhalten wie die Menschen in seiner Traumwelt, erwartete er momentan auch von jemandem, in dessen Gegenwart er sich dort hinträumte: Abstand einzuhalten.


    Nach weiteren zwei Tagen begann er seinem Mitbewohner kurze, nicht arbeitsrelevante Fragen zu stellen, wenn sie sich tagsüber begegneten. Danach ging er dazu über, sich abends geringfügig länger mit dem nubischen Mitsklaven über sehr oberflächliche Themen des Alltags zu unterhalten.
    Schließlich schritt er eines Morgens in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer auf ihn zu und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Um direkt im Anschluss den Raum zu verlassen und alleine zum Frühstücken zu gehen. Am selben Abend schlang er seine Arme um Cimons Hals, so leidenschaftlich wie der Nubier ihn kennengelernt hatte, um ihn ein weiteres Mal zu küssen. Dabei hefteten sich Phaeneas‘ Augen so an ihn, als ob er der begehrenswerteste Mann wäre, den der Bithynier je getroffen hatte. Einer der begehrenswertesten Männer war er definitiv für ihn.


    Diese Strategie erlaubte ihm, nachdem der Tod ihn auf herbe Weise von Lucianus getrennt hatte, Stück für Stück neu auszukundschaften, wie riskant die Nähe zu Cimon war. Schließlich war er in einer Umgebung aufgewachsen, in der durch Sexualität Macht über andere ausgeübt wurde. Jedes Mal, wenn man sich darauf einließ, mit jemandem zu schafen, ging man das Risiko ein, von demjenigen ausgenutzt zu werden, weit über pure Körperlichkeit hinaus. Wenn ein Mann die passive Rolle einnahm, bestand die Gefahr, dass das Gegenüber das zum Anlass nahm, einen sozial völlig von sich abhängig zu machen. Ein soziales Wagnis, das Phaeneas nicht für jeden beliebigen Mann auf sich zu nehmen bereit war.


    Seine Mutter hatte ihn von klein auf gewarnt: 'Sei vorsichtig, wem du vertraust, Phaeneas. Sei allen gegenüber misstrauisch, die meisten wollen dich ausnutzen. Sei zum Beispiel misstrauisch gegenüber Männern, die nur deinen Körper besitzen wollen. Deswegen prüfe sorgfältig, bevor du dich auf jemanden einlässt.' Auch in diesem Punkt hatte seine Mutter wie immer recht gehabt. Wenn er jemandem absolut Glauben hatte schenken können, dann ihr. Deshalb befolgte er ihren Rat auch noch Jahrzehnte nach ihrem Tod. Das meiste, was er von der Welt wusste, wusste er von ihr.


    Wegen ihrer Warnung, dass die meisten Leute andere nur benutzen wollten, hatte er auch erst nach der Trennung von ihr zum ersten Mal einem anderen Menschen als seiner Mutter genug getraut, um sich überhaupt mit ihm abzugeben. Das war Mahir gewesen, der ein paar Jahre danach sein erster Geliebter geworden war. Die Zeit, in der er unabhängig von ihr hatte zurechtkommen müssen, war schwierig gewesen. Eine regelrechte Prüfung, ob er gut genug von ihr gelernt hatte, um als Sklave überleben zu können. Das ständige Alleinsein war unerträglich gewesen, deswegen war er insgeheim sehr erleichtert gewesen, als Mahir ihn wiederholt angesprochen hatte. Zum Glück hatte der ihre Beziehung nicht dazu ausgenutzt, um Macht über ihn auszuüben. Phaeneas hatte ihn also im Vorfeld gut genug eingeschätzt, um schlimmeres zu verhindern.


    Aber an all das dachte er in dem Moment nicht, als er Cimon längst mit Blicken verschlang.

    Phaeneas‘ Tage verliefen alle nach einem immer gleichen detaillierten Plan. Von morgens bis abends war alles durchorganisiert. Nie stand er nach einer Nacht auf und fragte sich, was er als nächstes tun sollte. Solche Unsicherheiten konnte es gar nicht geben, weil es bei ihm für alles Alltägliche feste Routinen gab, die er nie abänderte. Jedenfalls nicht, wenn ihn nicht äußerste Notwendigkeit von Seiten der Herrschaften dazu zwang. Sprich, im Zuge von einigen Benutzerwechseln hatte er sich schon bei einigen Abläufen umgewöhnen müssen, weil diese einen anderen Tagesrhythmus gehabt hatten als seine vorherigen Eigentümer. Auch hier in der Familia Aurelia hatte sich der Bithynier in einigen Dingen umstellen müssen.


    Aber nach einer Umgewöhnungsphase lag ihm doch daran, dass diese Routinen erst mal so bleiben würden wie momentan. Spontane Abweichungen mochte er überhaupt nicht und sie machten ihn nervös. Den ganzen restlichen Tag war er dann innerlich unruhig und konnte seinen sonstigen, eigentlich unveränderten Abläufen nicht mehr so vertrauen wie sonst. Unerwartete Planänderungen von außen hingen ihm oft noch tagelang nach und störten seine Gewohnheiten. Und gerade wegen dieser Abneigung gegenüber allem Neuen, allen Veränderungen, war in seinem Tagesablauf alles geplant, was planbar war. Auch die Regelmäßigkeit seiner körperlichen Funktionen machte jede Uhr überflüssig und ließ sie ungenau erscheinen. Für eines dieser Bedürfnisse war morgens ein exaktes Zeitfenster eingeplant. Direkt nach dem Aufwachen und vor dem Waschen.


    In der Phase kurz bevor sie zusammengekommen waren, als Cimon noch zwischen Phaeneas und dieser ominösen verbotenen Frau geschwankt hatte, hatte der Nubier ihn förmlich gezwungen, dieses Bedürfnis auch nachts vor dem Einschlafen zu befriedigen, weil der Bithynier sonst wohl noch ewig wach gelegen hätte. Schließlich hatte er gerade nach dem Hinlegen keine Möglichkeit mehr gehabt sich abzulenken, sodass das Bild von einem ganz bestimmten großen starken schwarzen Mann Aufregung in ihm hatte aufsteigen lassen, die ihn nicht hätte schlafen lassen, wenn er sie nicht durch Handanlegen gedämpft hätte. Auch die natürlicherseits folgende Entspannung hatte die Nachtruhe erleichtert.


    Aber für Phaeneas war es schrecklich gewesen, dass dadurch sein Tagesablauf so völlig durcheinandergeworfen worden war. Er hatte sich selbst verabscheut für seine Disziplinlosigkeit, für seine Unfähigkeit, seiner morgendlichen Gewohnheit nicht ausschließlich zu genau dieser einen Tageszeit nachzukommen. Wie es schließlich sein sollte. Dementsprechend war es ihm auch so unangenehm gewesen, von Cimon dabei erwischt worden zu sein. In diesem Moment war er Zeuge seiner mangelnden Selbstbeherrschung geworden, wenn auch wahrscheinlich unwissend über die genauen Umstände. Aber Phaeneas war es unendlich peinlich vor sich selbst gewesen, deshalb hatte Cimons Anwesenheit die Sache für ihn noch unangenehmer gemacht.


    Zum Glück hatte sich das alles inzwischen längst erledigt. Indem Cimon, nachdem er sich endlich ganz für Phaeneas entschieden hatte, mit ihm geschlafen hatte, hatte er ihn von seiner inneren Anspannung erlöst, die sich in dieser Phase nach ihrem ersten Kuss in ihm aufgestaut hatten. Seitdem fühlte sich Phaeneas wieder ausgeglichen wie davor und konnte seinen täglichen Routinen wie gewohnt nachgehen. Ohne Kopftheater natürlich, schließlich war es gefährlich, das eigene Begehren auf bestimmte Menschen oder Arten von Menschen zu richten. Erst recht in Phasen des Lebens, in denen gerade kein für eine Liebesbeziehung geeigneter Mann verfügbar war. Und deshalb fing sich das Phaeneas lieber gar nicht erst an. Bevor es sich nicht mehr zurückdrängen ließ und der Sklave dem hilflos ausgeliefert war.


    Dementsprechend drang auch an diesem Morgen ein kurzes leises Stöhnen von Phaeneas‘ Bett her an Cimons Ohr. Schließlich hatte er nichts zu verheimlichen. Zumindest in diesem Punkt.



    Sim-Off:

    *lat. wortwörtlich: Die Morgenröte ist die Freundin der Musen.
    Etwas freier: Der frühe Vogel fängt den Wurm.

    Zusätzlich hielt sich das Gefühl der Distanz zum eigenen Körper noch weit über eine Woche, der Anschein der Abgeschlossenheit von der Umwelt und ihren Sinneseindrücken. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Phaeneas hatte auch sonst kein gerade … inniges Verhältnis zu seinem eigenen Körper, den er im Laufe seines Lebens größtenteils als Quelle von Schmerzen und unbefriedigten Bedürfnissen erlebt hatte. Aber in solchen Momenten war es noch deutlich distanzierter. Und ganz ehrlich, gerade wenn er sehr intensive unangenehme physische und psychische Empfindungen erlebte, war ihm dieser Nebel, der wie eine Wand zwischen ihm und seinem Körper stand und diese Empfindungen stark abschwächte - oder in Extremfällen sogar ganz abstellte - , mehr als willkommen.


    Denn wie er unangenehm entdecken und zugeben musste: Cimon regelmäßig vor Augen zu haben war schon ziemlich ablenkend in seinem Alltag. Bisher hatte er noch nie mit einem Geliebten unter dem selben Dach gelebt, geschweige denn im selben Schlafraum. Und gerade neben seiner Trauer um den Verlust von Lucianus passten diese Gefühle der Anziehung überhaupt nicht. Phaeneas war schon mit dem einen Teil seiner Empfindungen überfordert, aber diese Kombination war endgültig zu viel.
    Zusätzlich war ihm aufgrund länger zurückliegender negativer Erfahrungen nachwievor unbehaglich dabei, alleine mit einem anderen Menschen in einem Raum zu leben. Was seine Wachsamkeit zusätzlich beförderte und aufrechterhielt.


    Noch dazu waren die Fragen des jungen Herrn so dumm. Wie es in Bithynia war? Umgaben die aurelischen Herrschaften ihren wertvollen Nachwuchs überwiegend mit frisch eingefangenen Sklaven, quasi mit unzivilisierten Wilden? Woher sollte der ehemalige Vinicische wissen, wie es dort war, er hatte keinen einzigen Moment seines Lebens dort verbracht. Und seine Mutter hatte seine Zukunft in Rom sichergestellt, indem sie ihn ausschließlich römisch erzogen und seine Aufmerksamkeit von allem anderen weggehalten hatte. Anders gesagt, sie hatte ihm nichts von Bithynia erzählt. Wie sehr Phaeneas sie auch darum gebeten hatte. Aber solche Details behielt er für sich. Seine Meinung zu kontraproduktiver Erziehung von Sklaven nicht. Auch wenn er die Aurelier dabei nicht thematisierte geschweige denn den Jungen direkt kritisierte:
    Warum er so still war? Nur schlecht erzogene Unfreie plapperten drauf los. Es kam für den bithynischen Sklaven wieder auf die selbe Frage zurück: Ließen die Aurelier schlecht erzogene Sklaven auf ihre Kinder los? Es musste so sein. Überhaupt erwartete der junge Herr viel zu schnell viel zu einfache Antworten. Wenn Phaeneas alles verstehen müsste, was für sein Leben relevant war, wäre er schon lang durchgedreht. Weil ihm das meiste ein Rätsel war. Und das meinte er nicht als philosophische Aussage. Das fing schon bei ganz grundlegenden Dingen an: Was war der Sinn daran, dass er existierte und dabei nur ständig scheinbar sinnlos litt? Warum wurde er immer wieder vom Schicksal und seinen Herrschaften bestraft, obwohl er doch sowieso gehorchte?
    Auch hier galt: Gegenüber dem Jungen benutzte Phaeneas nie diese persönlichen Beispiele.


    Abgesehen davon, dass Phaeneas Veränderungen unliebsam waren, war er ziemlich erleichtert, seine Zuständigkeit als oberster Sklave los zu sein. Seiner Meinung nach mangelte ihm auch die Eignung für eine solche Aufgabe. Unfreie wie die frühere vinicische Köchin Berenice oder wie Cephalus zum Beispiel, die hatten eine natürliche Begabung dafür, aber Phaeneas nicht. Er war allein schon zu sehr für sich und hatte darüber hinaus auch absolut keine Lust dazu, sich um die Probleme anderer Leute zu kümmern. Was ihn auch daran störte, Lehrer des jungen Aureliers zu sein.
    Und weil Phaeneas weder die nötigen Fähigkeiten, noch eine entsprechende Ausbildung hatte, hatte er einen großen Teil seiner Arbeit an andere abgeschoben. An die, der ihm untergebenen Mitsklaven, die dafür wesentlich geeigneter waren als der Bithynier. Die hatten sich dem ohne Widerspruch gefügt und darüber nie auch nur das Gespräch mit ihm gesucht. Andere Möglichkeiten hätten sie nicht gehabt. Auch den Herrschaften war nichts davon aufgefallen, schließlich hatte er die repräsentativen Teile seiner Aufgaben vollständig übernommen. Darüber hinaus war er nie kontrolliert worden. Lucianus hatte Phaeneas kein bisschen gefragt, ob er zu dieser Stelle passte. Was ihm der Sklave insgeheim übel nahm, ohne sich das selbst allzu gern eingestehen zu wollen. Schließlich war Lucianus ein großartiger Herr gewesen, den er als Mensch sehr geschätzt hatte, und das schloss jeden Makel aus. Der Unfreie hatte ihm auch nie von sich aus eine Rückmeldung dazu gegeben: Denn er war absolut gehorsam und die Herrschaften mussten eben wissen, was sie wollten. Sie in Frage zu stellen, wäre einem Aufbegehren gleichgekommen. Und das würde Phaeneas nie tun.
    Da er offiziell die Aufgabe als oberster Sklave ausgefüllt hatte, hatte er Lob für „seine“ gute Arbeit bekommen. Für ihn war das ein weiterer von vielen Beweisen, wie dumm und naiv die meisten Menschen waren, und wie leicht es war, sie zu täuschen. Tja, mundus vult decipi, ergo decipiator. *
    Weil er einen guten Teil seiner Arbeit an andere abgeschoben hatte, hatte er im Endergebnis viel Freizeit gehabt, die er irgendwie hatte füllen müssen. Deswegen war er viel außer Haus gewesen. Die Herrschaften hatten von seiner Art der Pflichterfüllung ja nichts mitbekommen dürfen.
    Phaeneas hoffte, dass er zukünftig nie wieder eine solche Aufgabe übertragen bekommen würde, für die er sich gar nicht eignete. Schließlich wäre er dann dazu gezwungen, wieder dasselbe zu tun wie im vinicischen Haushalt.


    Cimons Gegenwart nahm der Bithynier nur kurz zur Kenntnis. Das Nicken und Lächeln fiel ihm gar nicht auf. Auch dass der andere ihn danach weiter im Blick behielt, beachtete er nicht mehr weiter. Erst wenn sich der Mitsklave unnötig weit an das „fremde“ Bett angenähert hätte, wäre er schlagartig wieder aufmerksam geworden. Kurz bevor Phaeneas die Augen schließen wollte, durchbrachen Worte die Stille. Die ihn sofort wieder an die Szene am ersten Tag in der Villa Aurelia erinnerten. Und sofort einen guten Teil der Gefühle davon mitbrachten. Derjenige, der sein Vertrauen so missbraucht hatte, nannte ihn erneut ‚Liebster’.
    Aber letzten Endes war es nur eine von vielen Erniedrigungen im Leben des Bithyniers. Er gab nur ein nüchternes „Gute Nacht.“ zurück. Und kaum dass er doch endlich die Augen zumachte, war er schon fest eingeschlafen.


    Sim-Off:

    *lat. Die Welt will betrogen werden. Also werde sie betrogen.

    Ich finde den Sklavenaufstand auch super - und vor allem das ausdrückliche Angebot von SimOn-Interaktion hier im SimOff-Bereich :dafuer:
    Wenn früher Leute ähnliche Spielideen aufgezogen haben, hatte ich oft den Eindruck, andere Spieler waren verunsichert, ob sie mit einsteigen dürfen. Oder welche Auswirkungen ein Mitspielen für ihre ID hätte. Dementsprechend ist das hier auch ein wunderbares neues Model, um weiter für mehr Leben im IR zu sorgen :app:

    Seit seinem ersten Tag im Stadthaus der Aurelier beobachtete Phaeneas Cimon, verfolgte wachsam, wo er war, was er tat und wie er sich ihm gegenüber verhielt. Schließlich wollte er wissen, ob er damit rechnen musste, dass sich so ein unangenehmer Zwischenfall wiederholte.
    Das war überhaupt die sicherste Vorgehensweise, sich zurückhalten und schweigen, während man seine Umgebung genau im Auge behielt. Man selber war unauffällig, aber bekam alles schnell genug mit, um darauf reagieren zu können.


    Wie der bithynische Sklave bei seinen neuen Aufgaben sofort feststellen durfte, war der junge Herr tatsächlich genauso, wie Cimon ihn angekündigt hatte: sprunghaft und neugierig. Und diese zwei Eigenschaften machten ihn Phaeneas schon unsympathisch. Oder in seinen eigenen Worten: undiszipliniert und unerträglich neugierig. Der Bithynier wusste schon, warum er nicht scharf darauf war, mit Kindern zu tun zu haben. Die meisten waren so. Jedenfalls die, die nicht so aufgewachsen waren wie Phaeneas. Die wie der bithynische Sklave waren nämlich still, konzentriert und gehorsam gewesen, wenn ihnen jemand etwas beigebracht hatte. Etwas anderes hätten sie sich auch nicht leisten können. Aber gut, so erzogen zu werden war für einen freien Jungen dann vielleicht doch nicht ganz das richtige. Aber anstrengend war es halt trotzdem, wenn man ihm etwas erklären sollte. Und völlig unverständlich für den ehemaligen vinicischen Sklaven, wie man nur so sein konnte. Aber das ging ihm ja bei den meisten Menschen so.
    Trotz seiner persönlichen Einstellung dem jungen Herrn gegenüber bemühte er sich natürlich wie gewohnt, seine Arbeit tadellos durchzuführen und sich von seinen Vorbehalten nichts anmerken zu lassen. Allerdings ließ sich dabei nicht ganz verbergen, dass er nicht nur wie bei Phaeneas üblich auf distanzierte Weise höflich und korrekt war, sondern mit dem Jungen auch noch ziemlich steif umging.


    Inzwischen war es auch für die Sklaven der Aurelia Schlafenszeit. Der Bithynier nahm es ganz genau damit. Für ihn persönlich war es sehr wichtig, jeden Tag die exakt gleiche Menge an Schlaf zu bekommen und niemals ein Defizit aufzuhäufen, geschweige denn zu verschlafen. Schließlich hätte das zu Müdigkeit, verringerter Leistungsfähigkeit und Konzentrationsschwierigkeiten geführt, die ihm seinen Alltag schwer gemacht hätten. In seinem Leben war Schlaf immer eine knappe Ressource gewesen, mit der er streng hatte haushalten müssen. Schließlich war er in vornehmen Familiae erzogen worden, in denen von Sklaven erwartet worden war, dass sie mit einem Minimum an Nachtruhe auskamen und trotzdem noch effektiv arbeiteten.
    Dementsprechend lag er nun schon mit seiner Schlaftunica im Bett und war gerade dabei, sich zuzudecken.

    Zuerst einmal Entschuldigung, dass ich mich jetzt erst wieder zu diesem Thema zu Wort melde.
    Leider bin ich bisher auch nur dazu gekommen, die eine konkrete Quellenstelle wiederzufinden, an die ich gedacht habe, als ich die Historizität des decretum Christianorum in Frage gestellt habe. In der Sekundärliteratur ist mir schon öfter der Hinweis auf christliche Soldaten begegnet, aber wie gesagt hatte ich leider nicht die Zeit, da die konkreten Quellenstellen zu recherchieren.



    In der Textstelle geht es um die Verfolgung unter Kaiser Decius, die erste reichsweite und vom Kaiser angeordnete Maßnahme. Allerdings verlangte das Edikt nicht nur konkret von Christen, sondern von allen die Durchführung eines Opfers und den Nachweis des Opfers durch eine schriftliche offizielle Bestätigung. Alle Verfolgungen davor waren wie gesagt einzelne rein lokale Aktionen und oft von offiziellen Autoritäten kaum oder gar nicht legitimiert.


    Eusebius, Kirchengeschichte VI 41,22-23
    "Ein ganzer Trupp Soldaten, Ammon, Zenon, Ptolemäus, Ingenes und mit ihnen der bejahrte Theophilus, hatte sich vor dem Gerichtshause aufgestellt. Da nun jemand als Christ verhört wurde und bereits daran war, seinen Glauben zu verleugnen, knirschten diese Soldaten, welche dabei standen, mit den Zähnen, winkten ihm mit den Augen zu, erhoben die Hände und gaben Zeichen mit dem ganzen Körper. Dadurch zogen sie die Aufmerksamkeit aller auf sich. Doch ehe noch andere sie ergriffen, eilten sie, ihnen zuvorkommend, vor den Richterstuhl, sich als Christen bekennend, so daß den Statthalter und sein Kollegium Schrecken erfaßte. Und während die, welche gerichtet werden sollten, angesichts der drohenden Leiden beherzt und mutig erschienen, waren die Richter verzagt. Jene zogen so festlich vom Gerichtshofe weg und freuten sich über ihr Zeugnis, da Gott sie so wunderbar zum Siege geführt."

    Zitat

    Original von Aulus Iulius Babilus
    Grundsätzlich könnte es ja jeder praktizieren. Darfst dich halt nicht erwischen lassen. :D


    Absolut :dafuer: ;)



    Der gesetzliche Ausschluss von Christen aus dem Exercitus Romanus ist aber eigentlich unhistorisch. Juden waren ja vom Dienen im Heer befreit. Christen aber nicht, weil die sich schon früh vom Judentum distanziert haben. Dementsprechend gibt es viele Belege für römische Soldaten, die Christen waren.
    Hat dieser Ausschluss von Christen irgendeinen Hintergrund im IR?


    Und christliche Aktivitäten wurden schon oft im IR ausgespielt, z.B. hier oder hier oder hier, um nur ein paar Beispiele zu nennen.
    Leider war dabei schon oft das Thema Verfolgung beliebt, was ja mit dem im IR geltenden Decretum Christianorum nicht immer Sinn macht. Und Verfolgungen von Christen waren in der Antike ja ganz deutlich die Ausnahme und nicht die Regel. Genauso wie Verfolgungen in der für uns "aktuellen" Zeit immer nur lokale Angelegenheiten waren und nie reichsweite Aktionen.

    ‚Das sehe ich anders.’ Häh, Phaeneas würde doch wohl noch am besten wissen, wie sein Leben verlief. Wo lag da die Möglichkeit, verschiedene Meinungen darüber zu haben? Allerdings gab Cimon ihm sonst keine weiteren Anhaltspunkte mehr, um diese Behauptung zu verstehen.
    Bitte was?! Das war alles?! Erst nötigte er ihn dazu, irgendetwas zu ihm zu sagen, und dann reagierte er nicht einmal wirklich darauf? Sagte inhaltlich oder sonst wie gar nichts dazu, sondern beendete nur das kurze „Gespräch“?
    Warum bitte nicht gleich?! Warum erst noch das Bestehen auf irgendwelche Worte aus Phaeneas’ Mund?! Der bithynische Sklave verstand die meisten Menschen einfach nicht und er würde sie nie verstehen. Und hier verstand er Cimon genauso wenig.
    Na gut, so musste er sich wenigstens nicht noch einmal zu einer Antwort zwingen. Dementsprechend sollte es Phaeneas recht sein. Das war ihm sowieso am liebsten, wenn er einfach in Ruhe hier sitzen konnte und schweigen.
    Die verstörte Verunsicherung, die vorhin bei dem Übergriff ausgelöst worden war, vermischte sich trotzdem mit Frust, wegen dieser scheinbaren Willkür. Phaeneas wusste schon, warum er mit Gefühlen auf Kriegsfuß stand. Sie konnten verwirrend sein.


    Inzwischen waren seine Sinne weit genug zurückgekehrt, sodass seine jetzt wieder schwarzen Augen aufmerksam den Bewegungen des anderen Sklaven folgten. So trafen sich ihre Blicke auch, als Cimon ihn wieder ansah. ‚Wenn du soweit bist’. Heute gab er ihm nur Rätsel auf. Nein, seit sie sich nach dem Bürgerkrieg wieder getroffen hatten, redete der Nubier ständig unverständliches Zeug. Wofür sollte er bitte soweit sein? Für weitere verwirrende sinnfreie Gespräche? Und woran sollte er erkennen, dass er soweit war? Diese Handlungsanweisung würde Phaeneas nicht umsetzen können, allein schon weil sie für ihn keinen Sinn ergab.


    ‚Unseren … deinen Aufgaben’? D.h. die Aufgaben der beiden würden sich größtenteils überschneiden? Phaeneas hatte noch nie langfristig fest mit jemandem zusammenarbeiten müssen. Er war auch nicht gut darin, mit anderen zurechtzukommen. Die meisten hielt er einfach für nachlässig, dumm und undiszipliniert. Und die wenigsten konnten mit seinen Standards mithalten. Aber nach seinen bisherigen Beobachtungen sah er eigentlich keine Veranlassung, sich da bei Cimon Sorgen machen zu müssen. Der schien auch Wert darauf zu legen, als Sklave gute Arbeit zu machen. Auch wenn er gerade eben Phaeneas’ Überzeugung von Beständigkeit im Leben Unfreier widersprochen hatte. Aber das waren wohl zwei verschiedene Paar Schuhe, die sich nicht notwendigerweise gegenseitig ausschlossen.


    Jedenfalls war das Angebot, ihn weiter mit seiner neuen Lebenssituation vertraut zu machen, ein angebrachter Plan, sodass er auf Cimons Aufforderung hin auch sofort aufstand. Bei einem Seitenblick auf sein Gespäck wurde ihm bewusst, dass das da noch herumstand. Schweigend verstaute Phaeneas noch kurz seine wenigen Habseligkeiten in der Truhe, in der schon Kleidung aufbewahrt wurde. Viel war sein Besitz nicht, aber dafür um so wertvoller. Als Leibsklave von Lucianus und oberster Sklave der Familia Vinicia hatte er schließlich im Laufe der Zeit einiges an Münzen zugesteckt bekommen. Im Allgemeinen wusste er mit Geld nicht viel anzufangen, weil es ihm nichts bedeutete. Gleichzeitig hatte er das Dilemma erlebt, es nicht verschenken oder viel für andere Menschen ausgeben zu können. Wer Geld hatte, war schließlich beliebt, zog Aufmerksamkeit auf sich und lockte dadurch Bewunderer und Nutznießer, sprich falsche Freunde an. Und das hatte der Bithynier auf gar keinen Fall riskieren wollen. Deshalb hatte er das Problem gelöst, indem er sich einige wenige, dafür umso teurere Kleidungsstücke und Schuhe gekauft hatte. Die hatte er wieder gebrauchen können für repräsentative Anlässe im Auftrag seines Herrn. So erfüllten sie für Phaeneas doch noch einen nützlichen Zweck, der ihm entgegenkam.


    Sobald die Truhe zugeklappt war, machte er sich auf in Richtung Cimon, um ihm zu folgen. Das Sitzen hatte gut getan, sodass seine Schritte auch wieder aussahen wie normal. Trotzdem war er innerlich immer noch nicht ganz wieder da und noch etwas distanziert zu seinem Körper, als würde er nur teilweise zu ihm gehören. Aber er funktionierte wieder größtenteils gemäß dem, was der Bithynier ihm vorgab. Der Rest war nicht schlimm, das war oft so bei ihm. Im Alltag, während der Arbeit, merkte das niemand. Er hatte es ihm Laufe seines Lebens perfektioniert, unaufällig in diesem Zustand seinen Pflichten nachzukommen.


    Endlich etwas vernünftiges tun, nach diesem … unschönen Zwischenfall und all dem sinnlosen bis demütigenden Gerede danach. Endlich Arbeit, endlich Struktur.

    Auf das Nicken reagierte er nicht, blickte nur immer noch etwas starr in die Richtung von Cimons Gesicht. Für so eine Interaktion war er immer noch nicht ausreichend aufnahmefähig.
    Er musste erneut blinzeln, als Cimon schließlich zu reden anfing. Es war schwierig, ihm zu folgen. Und der Inhalt … sehr kurios, gelinde gesagt.
    Vollkommen verändert? Wann hatte sich Phaeneas’ Leben bitte jemals nicht nach kürzester Zeit wieder komplett verändert? Dann kam der Höhepunkt: ‚Lass mich deine Konstante sein.’ Deine Konstante. Diese Worte grenzten an Hohn. Nein, sie grenzten nicht daran, sie waren Hohn. Hohn, der Phaeneas innerlich bitter auflachen ließ. Wann war jemals irgendetwas in seinem Leben konstant gewesen?! Außer die ständige Veränderung. Ständig hatte er sich umgewöhnen müssen, ständig hatte er sich auf neues einstellen müssen. Nichts und niemand war ihm je länger vergönnt gewesen und auf nichts hatte er sich je verlassen können. Und auf niemanden. Nicht mal auf seine Mutter. Sogar sie war am Ende schwach geworden und hatte seine Lebensumstände dadurch massiv verschlechtert. Durch ihr Versagen hatte er ab dem Alter von zehn Jahren seine Mutter nicht mehr um sich gehabt. Andernfalls hätte er heute noch mit ihr zusammen sein können.
    Seine Konstante. Wie gern hätte der Bithynier einmal etwas beständiges in seinem Leben akzeptiert. Wie liebend gern, nur einmal im Leben igendetwas. Er wollte da auch nicht wählerisch sein. Wie gern hätte er einen festen Ort, eine feste Tätigkeit, einen festen Menschen im Leben.


    Er sah Cimon an, sein attraktives Gesicht. Wie reizvoll doch seine Nähe war. Und mit wie viel Spott er ihn jetzt bedachte. Dementsprechend wandte er den Blick sofort wieder ab, das tat zu sehr weh. War alles umsonst gewesen? Wie er Cimon vor Beginn ihrer Beziehung sorgsam beobachtet und geprüft hatte? Hatte er sich etwa so in ihm getäuscht? War er jetzt nur von einer tragbaren Situation in der Familia Vinicia in eine geraten, in der er dem ausgeliefert war, der vorgegeben hatte, ihn zu lieben?
    Wie er sich als sein Retter aufspielte. Und wie künstlich bescheiden er sich dann noch gab, wie widerlich. Phaeneas brauchte niemanden, der auf große Hilfe in seinem Leben tat. Er war immer gut allein zurechtgekommen, er war auf niemanden angewiesen. In seinem Leben lief alles nach Plan, er hatte alles unter Kontrolle. Und auf Mitleid war er erst recht nicht angewiesen. Auch wenn die anderen Sklaven in der Familia Vinicia das oft anders gesehen hatten, warum auch immer. Zum Glück hatten sie ihm im Laufe der Zeit immer seltener offen ihr Mitleid gezeigt. Es hatte wohl gewirkt, dass er ihnen seinerseits gezeigt hatte, wie wenig er sich darüber freute und er davon hielt. Sprich, dass er unwirsch und abschätzig darauf reagiert hatte. Danach hatten sie zwar jedes Mal den Eindruck gemacht, beleidigt und verletzt zu sein und sich zurückgewiesen zu fühlen – aber wer hatte hier schließlich mit den unpassenden Kommentaren angefangen?
    Kein Wort der Entschuldigung erfolgte. Kein einziges. Es schien Cimon wirklich egal zu sein, welchen Schock er ihm eingeflößt hatte. Wie sehr er Phaeneas in seinem Vertrauen in ihn verunsichert hatte. Stattdessen stellte er schon wieder Forderungen. Dass er mit ihm reden sollte. Über was? Er verstand den Nubier nicht.
    Ganz davon abgesehen, dass er immer noch der Meinung war, dass ihn so jemand nicht Liebster nennen sollte, der so mit ihm umging.


    Der Bithynier fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht. Immer und immer wieder geriet er in Situationen, die es nach sich zogen, dass er den Bezug zur Welt vorübergehend endgültig verlor. Dass plötzlich Stille ihn umgab, bleierne Stille. Nach der er jedes Mal völlig erschöpft und müde wieder zu sich kam, wie gerädert. Das letzte Mal war ihm das in der Heftigkeit passiert, nachdem jener Herr seine Dienste in Anspruch genommen hatte. Phaeneas erinnerte sich noch ganz genau an das Gefühl von Wasser in seinen Haaren, im Gesicht, in den Ohren ... Daran, wie erstaunlich unangenehm sich das Wasser in dem Moment für ihn angefühlt hatte ... Wo es doch sonst eine so erleichternde Wirkung auf ihn hatte ... Damals war das kein bisschen so gewesen. Er erinnerte sich an die weichen Knie, an die Kurzatmigkeit ... Danach war er in genauso tiefe Dunkelheit gefallen wie heute, vor einigen Momenten. Aber nicht in eine so tiefschwarze, in die Jener ihn davor befördert hatte, während er noch bei ihm gewesen war. Und das Aufwachen aus dieser war viel schlimmer gewesen.
    Jener war genauso ein Sklave gewesen wie Phaeneas. Aber er hatte vollkommene Macht über ihn gehabt, deswegen war er sein Herr gewesen. Schließlich waren viele Sklavenhaushalte so groß, dass es verschiedene Hierarchieebenen gab. Und viele Sklaven darin hatten mit dem obersten Herrn nie etwas zu tun, sodass andere Unfreie ihre Lebensbedingungen bestimmten.
    Gerade hatte der Bithynier noch nicht einmal das Bedürfnis, diese aufkommenden Gedanken so schnell wie möglich wieder zu verdrängen. Schließlich schien ihm die aktuelle Situation im schlimmsten Fall nicht so weit weg zu sein von dem, was er damals erlebt hatte. Und alarmiert fühlte er sich sowieso schon, auch ohne sich aufdrängende Erinnerungen. Das Gefühl von Bedrohung und damit ein Zustand der Wachsamkeit waren automatisch zusammen mit seinem Bewusstsein zurückgekehrt. Wie gut, dass der andere Sklave wenigstens seine vorübergehende Handlungsunfähigkeit nicht ausgenutzt hatte. Das gab wenigstens ein bisschen Anlass zu Hoffnung …


    Phaeneas hatte keine Ahnung, was Cimon von ihm wollte. Und noch weniger wusste er, was gerade sicher gewesen wäre zu sagen. Um Zeit zu gewinnen und in der Hoffnung, dass sich dadurch die Benommenheit in seinem Kopf schneller klärte, fuhr er sich mit den Händen durch die wilden schwarzen Locken.
    Aber auch danach fiel ihm nichts besseres ein als inhaltlich auf das einzugehen, was der Mitsklave ihm als Thema angeboten hatte. Es war leider etwas riskant, weil er dafür minimal tatsächlich etwas von seiner Einstellung preisgeben musste. Und weil er damit Cimon widersprach. Die wenigsten mochten es, wenn man ihnen widersprach. Und Phaeneas nahm den anderen gerade nur als eventuell gefährliches Gegenüber war, das unbedingt besänftigt werden musste. Nur wie er das tun sollte, war ihm noch nicht ganz klar. So gut hatte er den Nubier bisher schließlich doch noch nicht kennenlernen können … Der Bithynier hasste Risiken.
    „In meinem Leben gibt es nichts konstantes. Hat es nie gegeben, wird es nie geben. Für Sklaven ist garantierte Beständigkeit nicht vorgesehen und in meinem Schicksal erst recht nicht. Mach dir gar nicht erst die Mühe, mir etwas in Aussicht zu stellen, was du gar nicht bieten kannst. Es entspricht auch nicht meinen Erwartungen“, flüsterte er zurück. Was zumindest ohne Wackeln oder Zittern in der Stimme gelang.
    Das sagte er aber nicht wirklich, weil er es sagen wollte oder es wichtig fand, es anzusprechen. Sondern nur weil er sich nach diesem Vorfall dazu genötigt sah, Cimon irgendetwas zu antworten. Auch wenn seine Stimme jetzt kooperativ klang, verhielt er sich doch nur so, weil er in dieser Situation der Unterlegene war. Und wer am kürzeren Hebel saß, vermittelte besser dem Überlegenen einen Eindruck von Gefügigkeit.
    Soweit war es schon gekommen in ihrer Beziehung, nach so kurzer Zeit …

    Wie durch dicken Nebel bekam er noch mit, dass sich Cimon von der Tür entfernte und an ihm vorbei ging. Ein letzter hellwacher, konzentrierter Teil von Phaeneas verfolgte seine Bewegung, aber nur aus den Augenwinkeln, ohne direkt zu ihm blicken zu müssen. Dazu wäre er auch gar nicht mehr in der Lage gewesen. Trotzdem war der andere Mann im Raum, der ihn gerade noch gepackt gehalten hatte, nach wie vor eine potenzielle Bedrohung. Und da war es besser zu wissen, wo er sich gerade ungefähr aufhielt. ‚Behalte immer deine Umgebung im Blick, Phaeneas. Und verlier vor allem nie jemanden aus dem Auge, der dir gefährlich werden könnte.’ Gemäß der Warnung seiner Mutter bemühte sich zumindest sein Unterbewusstsein, wachsam zu bleiben und nahm zur Kenntnis, dass Cimon auf dem Bett gegenüber Platz nahm.
    Währenddessen fühlte Phaeneas nichts. Gar nichts mehr. Weder seinen Körper noch eventuelle Empfindungen, von denen er auch sonst schon wenig hatte. Kaum drangen Geräusche an sein Ohr, registrierten seine Augen noch Eindrücke, Gerüche waren komplett ausgeblendet.




    Über eine Stunde saß er so. Dann schüttelte er leicht den Kopf und blinzelte kurz. Als sein Blick dabei zufällig Cimon streifte und an ihm hängen blieb, war es dem Sklaven, als hätte er ihn gerade eben dort entdeckt. Dabei hatte er ihn die ganze Zeit wahrgenommen, dass er da war und ihn ansah. Nur daran erinnern konnte sich Phaeneas nicht wirklich bewusst, was seit Cimons Übergriff und seiner abwehrenden Reaktion darauf passiert war. Er wusste es nur irgendwie, dass sie beide da gesessen hatten. Das war immer schon so gewesen: Wenn ihn jemand danach gefragt hätte, was er denn gedacht oder gefühlt hatte, während er so abwesend gewirkt hatte, oder nach irgendwelchen äußeren Umständen, hätte er nur mit den Schultern zucken können.


    Jetzt sah er Cimon an, als wäre er aus einem Schlaf erwacht, aber gleichzeitig immer noch benommen und schläfrig. Trotzdem sprach er immer noch nicht. Schließlich war ihm noch sehr klar vor Augen, weswegen ihm seine Fähigkeit, seine Umgebung geordnet wahrzunehmen, so wie sonst halt, abhanden gekommen war. Und dass er um Lucianus trauerte. Nur das war gerade sehr in den Hintergrund gerückt, durch das akute Gefühl der Bedrohung, das Phaeneas überwältigt hatte. Aber seine Körperhaltung wirkte jetzt nicht mehr ganz so steif, obwohl er immer noch unverändert dasaß. Und so wie er vorher in die undefinierbare Ferne gestarrt hatte, notfalls direkt durch Cimon hindurch, so sah er ihn jetzt an. Ohne ihn erkennbar wahrzunehmen, ohne ein Zeichen des Registrierens, während er doch gleichzeitig irgendwie verwundert wirkte. Aber das schien nur so. Denn sein Kopf war immer noch sehr leer und sein Geist mit dem Wiederaufnehmen der Wahrnehmung und dem Neuordnen der Sinne beschäftigt.

    Die letzten Saturnalien hatte er dazu genutzt, in aller Ruhe in dem Raum der Villa Vinicia, in den er sich bei dieser Gelegenheit sowieso immer zurückzog, um Lucianus zu trauern. Die ganzen Feiertage lang ungestört gewesen und nur für Notwendigkeiten wie Hunger unterbrochen worden zu sein, sodass er keine Fassade aufrechterhalten hatte müssen, das hatte sich als ungeheuer praktisch herausgestellt.
    Anders als jetzt, wo er gegenüber Cimon eine ruhige, gefasste Maske tragen musste. Aber er würde schon Gelegenheiten finden, auch jetzt, nach seinem Einzug in das Stadthaus der Aurelier, einen Ausgleich zu der Haltung während der Arbeit zu bekommen. Wenn er Ausgang hatte, würden sich schon Ecken in Rom finden, in denen man sich unbeobachtet und unbehelligt gehen lassen konnte.
    Am liebsten würde der Bithynier ja jeden einzelnen Abend weinen, schreien, zittern und wie betäubt in der Ecke liegen und gegen die Wand starren. Aber das ging definitiv nicht.
    Anders gesagt, das waren eindeutig die ersten Saturnalien gewesen, die Phaeneas zupass gekommen waren. Diese verrückten Feiertage waren also doch für was nütze.


    Dass der Kater sich trollte, nahm Phaeneas nur am Rande wahr. Er wollte endlich seinen wenigen Besitz verstauen. Aber dazu kam er nicht mehr.
    Jetzt hätte er nur noch 'Ita'st, domine.*' sagen können.
    Herrschaften gegenüber hätte er ganz anders reagiert. Schließlich hatten diese das Recht, Phaeneas anzufassen, wie auch immer sie wollten. Bei ihnen ging er gleich in Duldung über, je nach Situation unterschiedlich stark. Vor ihnen wich er auch nicht zurück. Das wäre schließlich Ungehorsam nahe gekommen. Aber im römischen Reich herrschte schließlich Recht und Ordnung (meistens, wie der Bithynier inzwischen gelernt hatte). Und da gab es Menschen, die ganz klar nicht die Befugnis dazu hatten, über ihn zu bestimmen.
    Eine gute Umgebung für Sklaven zeichnete sich laut Phaeneas dadurch aus, dass möglichst klar geregelt war, wer über wem stand. Sonst herrschte das Recht der Durchsetzungsfähigeren: Das waren meistens die mit den besseren Kontakten und mit mehr Wissen über das Umfeld. Im Idealfalls wusste man schon vorher, wem man sich lieber unterordnete und gegen wen man gegebenenfalls eine Chance hatte, wenn man sich wehrte. Schließlich musste man als Unfreier jeden Tag genug aushalten, da ersparte man sich besser zusätzlich Ärger und Aufgaben, die in der Regel auf einen zukamen, sobald einem noch jemand etwas zu sagen hatte. Das hatte Phaeneas' Mutter ihm eingeschärft, um so gut wie möglich im Leben bestehen zu können.
    Manchmal hatte man Glück in so einer Auseinandersetzung mit jemandem und manchmal eben nicht. Und natürlich bestand auch die Gefahr, dass die Person, der man sich erst verweigert hatte, danach wütend auf einen war und das in der Folge an einem ausließ. Deshalb war es wichtig, erst so gut wie möglich abzuwägen, wie erfolgreich eine Gegenwehr wohl sein würde.
    Nur in diesem Fall hatte Phaeneas diese Überlegung gar nicht vorgenommen. Er hatte einfach reagiert. Schließlich hatte Cimon sich ihm aufgezwungen. Und der liebte ihn doch eigentlich. Sollte es jedenfalls. Menschen, denen man etwas bedeutete, sollten einen nicht zwingen, niemals. Zumindest nicht ohne äußere Veranlassung: Wenn die Herrschaften es befahlen, natürlich. Zumindest der Bithynier hielt sich strikt an dieses Prinzip. Natürlich wusste er, hatte es oft genug erlebt, dass sich andere Sklaven nicht für sowas interessierten. Aber das mussten sie laut Phaeneas mit sich ausmachen und selbst für sich in ihrem Leben verantworten.
    Nur Cimon, von dem erwartete er, so etwas einzuhalten. Schließlich stand er ihm nahe. Aber es bestand immer das Risiko, dass man sich in Menschen getäuscht hatte ...


    Benommen bewegte sich der Bithynier in Richtung seines Schlafplatzes. Seine Schritte fielen immer noch klein aus und wirkten schwer. Langsam setzte er sich auf das Bett und ließ sein geringes Gepäck zu Boden sinken. Dort saß er, trotz des leblosen Anscheins gerade und aufrecht, als würde er sich nur kurz von vorübergehender Erschöpfung während der Arbeit erholen. So blieb er, die Hände neben seinen Oberschenkeln auf der Liegefläche, der Blick ging starr und leer in die Ferne.
    Von Cimon bekam er nur mit, dass er gegen die Tür gelehnt war. Der große kräftige Mitsklave versperrte den einzigen Ausgang aus diesem Raum.


    Sim-Off:

    * Ita'st, domine. = Ja, Herr.

    Nicht mal, als er Cimon irritiert musterte, nach seinem Spruch von wegen 'zu Hause', hielt er den Blickkontakt lang. Schließlich galt es hier, sich eine Übersicht über seine neue Unterkunft zu verschaffen. Der Kater war hartnäckig. Dafür sammelte er die ersten Minuspunkte bei Phaeneas. Er hielt nämlich gar nichts davon, wenn jemand nicht begriff, dass man gerade anderweitig beschäftigt war und eine Störung unangebracht. Konsequentes Ignorieren hielt der Bithynier da immer noch für die beste Vorgehensweise. Erst wenn Leute noch zudringlicher wurden, reagierte auch Phaeneas aktiv: Einen unaufgefordert auf seinen Schoß gesprungenen Kater hätte er beispielsweise wieder auf den Boden zurückgesetzt.
    Wenigstens erfuhr er endlich, wo er schlafen sollte. 'Wenn es dir zusagt' war auch eine dieser Floskeln, mit denen er gar nichts anfangen konnte: Er war ein Sklave. Es war nicht der Sinn der Sache, dass ihm etwas zusagte. Er hatte darin zu schlafen, sodass er seine Aufgaben tagsüber so gut wie möglich erledigen konnte. Das war alles. Und Phaeneas hatte gelernt: Als Sklave hatte man auf jedem Lager Schlaf zu finden. Gerade wollte er zu seinem neuen Bett und der Truhe dort gehen, da gab Cimon etwas von sich, was ihn völlig überraschte. Das sah man ihm auch an.
    „Ich … benehme mich … kindisch?!, wiederholte Phaeneas völlig ungläubig und kein bisschen aggressiv. Die Umständen konnten gar nicht weiter von der Realität entfernt sein, wenn man den Bithynier fragte. Im Gegenteil, seine Handlungen waren stets in jeder Hinsicht rational und durch zwingendste Notwendigkeiten bedingt.
    Auch der inzwischen eher ungeduldige Tonfall erstaunte Phaeneas total.
    Jetzt sah er Cimon auch längerfristig direkt an. Durch dieses seltsame Verhalten hatte der andere Sklave seine Aufmerksamkeit bekommen. So ein direkter Vorwurf war in der Lebenswelt des Bithyniers nämlich nicht vorgesehen. Heimliches hinter dem Rücken Taktieren, das war vorgesehen. Jemandem gut zuhören und jemanden sorgfältig beobachten, um dann eine heimliche Intrige gegen jemanden zu spinnen oder um sich gegen die Intrige so gut wie möglich zu schützen, die jemand anderes evt. gegen einen plante. So hatte die Welt funktioniert, in der Phaeneas aufgewachsen war, und so sah die Welt aus, in der er mental immer noch lebte. All der Sicherheit und Beständigkeit zum Trotz, die er in den Jahren bei Lucianus erlebt hatte, war er immer noch felsenfest davon überzeugt, dass die Welt nach wie vor den gleichen Regeln und Umständen unterworfen war wie den größten Teil seines Lebens bis zu diesem Zeitpunkt. Die bisherigen verstörenden, zermürbenden Erfahrungen waren zu stark und einprägsam gewesen, um von den neuen überschrieben zu werden.


    Aber noch bevor er auf diesen völlig verkehrten Vorwurf, der eigentlich anders herum wesentlich angebrachter gewesen wäre (Denn wer bettelte denn die ganze Zeit schon in vor den Umständen völlig unpassender Weise um Aufmerksamkeit? Gerade wo bei Phaeneas doch fast nie ein freundliches Sozialverhalten zu erwarten war, in Anbetracht dessen, dass er so etwas nur äußert selten zeigte – meistens eben ein korrektes, distanziertes.), reagieren konnte, näherte sich ihm der Andere. Dabei dachte er sich erst noch nichts Böses und war ein weiteres Mal heute völlig überrascht, sobald er die nubische Hand an seiner Schulter spürte.
    Als Cimon nach ihm fasste und ihn sogar zu sich herdrehte, blitzten Phaeneas' fast schwarze Augen auf. Mit festem Blick starrte er den anderen – widerstrebend und mit offensichtlichem Widerstand darin - an. Und wehrte sich mit aller Heftigkeit und Stärke, zu der er fähig war, um dem Griff zu entkommen.
    Auf einen Schlag schien alles an ihm lebendig und sein ganzer Körper war kraftvoll angespannt. Auch wenn man es ihm nämlich auf den ersten flüchtigen Blick nicht ansah und er kein muskelbepackter Athlet war, war Phaeneas doch sehr kräftig. Nicht durch bewusstes Krafttraining, aber allein nur die täglichen Aufgaben, die er seit frühester Kindheit zu erledigen hatte, brachten es mit sich, dass er fit gehalten wurde. Und darin nachzulassen hätte er sich eben in Hinblick auf seine Pflichten gar nicht leisten können. Auch wenn seine Aufgaben bei Lucianus immer weniger körperliche Arbeit beinhaltet hatten – man konnte ja nie wissen, was bei den nächsten Herrschaften gefragt war.
    Aber gegen den wesentlich stärkeren, sportlicheren Cimon mit Leibwächterausbildung hatte er natürlich keine Chance. So hörte er schnell auf sich zu wehren und ergab sich dem Griff.
    Eine Welle von Hilflosigkeit und ein Gefühl von Ausgeliefertsein schwappten über Phaeneas hinweg, spülten den Widerstand, der sich noch eben in ihm aufgebaut hatte, davon. Erstarrt und passiv blieb er zurück, fassungslos über den Übergriff. Augenblicklich fühlte er sich leer, wie eine seelenlose Hülle. Man konnte es nach außen hin sehen: Wie eine Marionette, eine Puppe musste er wirken, mit den jetzt braunen, starren, geweiteten Augen und der steifen Bewegungslosigkeit, die von seinem Körper Besitz ergriffen und allen Anschein von Kraft aus ihm vertrieben hatte. Genauso war der Großteil an Empfindungen aus ihm verschwunden, in ihm existierte nur noch dumpfe, schale Leere. Deswegen konnte er auch nichts mehr zu Cimons merkwürdigen Worten sagen. Denn er war in Duldungsstarre verfallen.


    Als der Nubier ihn nach gefühlten Ewigkeiten losließ, wich Phaeneas sofort zwei kleinere Schritte zurück. Gar nicht bewusst, es passierte einfach so. Zu mehr war er nicht in der Lage.

    Zitat

    Original von Aulus Iunius Seneca


    Es freut mich dass du diese doch sehr eindeutige Reaktion sportlich nimmst. :)
    Die soll dich jedoch nicht davon abschrecken auch in Zukunft Vorschläge zu machen und neben deinem Spiel auch Sim-Off zum IR beizutragen.


    Weiterhin viel Spaß! :)


    :dafuer:

    Nachdem ich dir eigentlich sowieso noch eine PN schicken wollte und mich bei dir bedanken, dann eben jetzt hier.


    Danke, Hungi, für die super entspannte Zeit mit dir als Besitzer, dass du mich einfach in Ruhe mein Rollenspiel hast machen lassen. Ich finde es schade, nach so langer Zeit die Gens Vinicia zu verlassen.
    Dass du so lange so engagiert am IR mitgewirkt hast und auch bei teilweise sehr persönlichen ausfallenden Kommentaren von Spielern immer ruhig und korrekt geblieben bist, finde ich auch sehr bewundernswert.


    Die Pause hast du dir mehr als verdient. Komm erholt wieder :)

    Sobald er die Tür des Zimmers hinter sich zugezogen hatte, stürzte seine kühle Fassade in sich zusammen und wich Verzweiflung, Enttäuschung, Wut. Ja, Wut, ein Gefühl von ohnmächtigem Missmut und Aufruhr. Ein Gefühl, das er sonst nie hatte und mit dem er am wenigsten wusste wohin. Niemand hatte ihm je beigebracht, damit umzugehen. Nichtmal seine Mutter und von der hatte er fast alles, was er wusste. Was vielleicht daran lag, dass er dieses Gefühl überhaupt nicht haben sollte.
    Taumelnd brach er an der Wand zusammen, verbarg das Gesicht in den Händen, weinte und schrie. Natürlich alles gedämpft durch zusammengeknüllten Stoff. Als Sklave lernte man schnell, welche Lautstärke angebracht war, wenn man nicht gehört werden wollte. Die Tränen liefen ihm in Sturzbächen übers Gesicht und tropften auf seine schlichte Tunica.
    Dann saß er wieder wie betäubt in einer Ecke und starrte mit leerem Blick und schreckgeweiteten Augen gegen die nächste Wand. Lange konnte er so sitzen, sehr lange, unfähig zu einer Bewegung, teilweise unfähig zu einem Gedanken.
    Und dann kamen sie wieder, leise, schleichend. Immer klarer und deutlicher werdend: 'Lucianus ist tot. Er hat mich allein gelassen. Ich bin allein. Wieder allein.' Und dann, nach einer Pause: 'Immer allein.'
    'Warum musste er dieses sinnlose Risiko eingehen? Warum musste er sein Leben wegwerfen? Warum musste er mich allein lassen? Warum konnte er nicht einfach alles so lassen, wie es war? Es ging ihm doch gut, auch ohne all die Macht. Er hatte ein angenehmes Leben, er hatte mich … Warum ist ihm das nicht genug gewesen, mir würde das zehnmal genügen. Aber er hatte mehr haben müssen, noch mehr … Die Gier …' Phaeneas schauderte. Das Schreckgespenst, das seine Mutter ihm beigebracht hatte. Durch die Gier hatte er Lucianus verloren.
    'Lucianus ist tot …'
    Phaeneas klammerte sich an eine der kleinen Kleidertruhen, die im Zimmer standen, die Finger fest verkrampft, und konnte doch nicht verhindern, dass er am ganzen Körper zitterte. Nicht vor Kälte oder Angst. Vor Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit.
    Etwas danach öffnete er den Mund, die Finger immer noch um das hölzerne Eck der Truhe verkrampft, die Augen weit aufgerissen, um einen stummen Schrei zu entlassen, der doch nie über seine Lippen kam. Sein ganzer Körper stand unter Spannung und doch bewegte er sich keinen Fingerbreit.
    Und dann brach er wieder unter verbitterten Tränen und Verzweiflung auf dem inzwischen zerwühlten Lager zusammen, legte erschöpft die Stirn auf dem kleinen Tischchen ab, das in der Mitte des Raums stand, kauerte sich dann auf der Seite liegend, das Gesicht in den Händen verborgen zusammen und lehnte sich schließlich wieder kraftlos mit dem Rücken gegen die Wand, an der das Lager stand. Starrte vor sich hin, wie aus seelenlosen Augen. Ewig lange. Ohne die kleinste Gliedmaße zu bewegen. Ohne dass die geringste Erschütterung durch seinen Körper ging. Müde und schlaff. Und doch mit einer ständigen inneren Anspannung. Wie bereit, jeden Moment aufzuspringen. Dann liefen wieder Tränen über sein Gesicht.
    Es war ein Luxus, ordentlich trauern zu können. Nicht überall hatte man den. Oft schon hatte sich Phaeneas den Schmerz über einen Verlust verkneifen müssen und trotzdem in der Öffentlichkeit während seinem Dienst als Sklave funktionieren müssen. Da war es ein Segen, diesen Raum zu haben, in den man sich nachts nach der Arbeit für eine Zeit zurückziehen konnte. Dieser Raum, in dem man unbeobachtet war. Dieser Raum, in dem man nur für sich war.


    Irgendwann in der Zeit hatte er auch Cimon vergessen. Das heißt nicht wirklich vergessen, aber aufgehört an ihn zu denken. Er wusste schon noch, dass er existierte und dass er mit ihm zusammen war. Aber die Trauer wegen Lucianus war so groß, dass daneben kein Platz für irgendetwas anderes war. Die Angst um Cimon während des Bürgerkriegs war vollkommen durch den Schock wegen Lucianus' Tod abgelöst worden.
    Phaeneas selbst hatte es nicht einmal bewusst bemerkt, dass er aufgehört hatte an Cimon zu denken. Es war mit einem Schlag einfach so gewesen. Ihm einen Brief zu schreiben oder sich Gedanken darüber zu machen, wie es ihm wohl ging – völlig unmöglich.

    Sim-Off:

    Diese Szene spielt sim-on vor dieser Szene hier.
    Leider hatte ich offensichtlich eine sehr lange Phase mit RL-Stress und deshalb Motivationslosigkeit für das IR. Deswegen muss ich jetzt nach und nach einige Sachen nachtragen, die eigentlich eben chronologisch schon früher stattgefunden haben als mein aktueller Handlungsstrang.


    Sein Leben hatte sich stark verändert, als Rom nicht nur belagert, sondern sogar erobert worden war, und die Kämpfe jetzt in den Straßen stattfanden. Es war, als ob er verkauft worden wäre, und zwar an einen Herrn, bei dem keine klaren Regeln herrschten. Bei dem sich noch keine eindeutige Hierarchie unter den Sklaven herausgebildet hatte. Bei dem eher sogar jeden Tag neue Unfreie in den Haushalt dazustießen.
    Es war ein Alptraum gewesen. Alles hätte passieren können, alles nur Vorstellbare war möglich gewesen. Sogar Recht und Gesetz des Römischen Imperiums waren nicht mehr gesichert gewesen. Und Phaeneas hatte Angst gehabt. Große Angst. So wie er die letzte Zeit Angst um Lucianus‘ Leben gehabt hatte, Angst davor ihn zu verlieren. Wieder allein zu sein. Ja, es war auf eine abstruse Art passend. Zu genau dem Zeitpunkt, zu dem Lucianus gestorben war, hatte er auch seinen Schutz verloren. Phaeneas hatte Lucianus‘ Schutz sehr geschätzt. Es war ein außergewöhnlicher Schutz gewesen. Der ihn nicht nur vor der Willkür der Welt bewahrt hatte, sondern ihm im Haus fast Immunität gewährt hatte. Nicht mal kleine Versehen waren von anderen Mitgliedern der Familia mit mehr als strafenden Worten geahndet worden. Eine sehr sehr lange Zeit, in der er kein einziges Mal geschlagen, getreten, gedemütigt, bedroht und erpresst worden war, ging zu Ende. Eine unglaubliche Zeit. Aber sie ging zu Ende, wie alles im Leben.
    Der Bithynier hatte sich seitdem noch mehr zurückgezogen als sonst. Er hatte fast kein Wort mehr gesprochen. Und er hatte auch nicht mehr wie sonst gelegentlich das Bedürfnis, sich ein wenig oberflächlich mit anderen Menschen abzugeben, um sich wenigstens ein bisschen der Illusion hinzugeben, nicht ganz allein auf dieser Erde zu sein. Wann immer er konnte, zog er sich zurück in das Zimmer, das er auch während der Saturnalien benutzte. Denn nur dort konnte er das, was auf ihn einstürzte, wirklich zulassen. Und das musste er, denn die Intensität, mit der es kam, ließ ihm keine Wahl. Als seine Mutter verkauft worden war, war es genauso gewesen wie bei Lucianus' Gefangennahme, die Fassungslosigkeit hatte Phaeneas erstarren lassen. Aber bei Lucianus' Tod war es ganz anders gewesen als bei dem seiner Mutter. Als sie gestorben war, war sie schon so lange endgültig aus seinem Leben weg gewesen, dass es keinen wirklichen Unterschied mehr gemacht hatte. Aber bei Lucianus hatte es ihn eiskalt erwischt. Denn bis zum Schluss hatte ja die Hoffnung bestanden, er könnte doch zurückkommen. Es war so naiv gewesen zu glauben, bei Freien könnte es anders kommen als bei Unfreien und Phaeneas würde es nie wieder tun. Wen das Schicksal einmal gezwungen hatte zu gehen, würde nie wieder zurückkehren. Völlig egal, wie abstrus die Situation gewesen war, als Sklave der Hinrichtung seines Herrn beizuwohnen. Verkehrte Welt eben. Aber es war so gewesen.

    Zitat

    Original von Iullus Helvetius Curio
    Wenn du das Spielhandbuch als Einsteigerguide einstufen würdest, dann schon.


    Es wäre im übrigen aber auch schön, wenn unser Stadtwachenteam den Link dazu auch in ihren Begrüßungspost einfügen würde. :)


    Sehr gut, das trägt viel zur Übersichtlichkeit im IR bei, finde ich :dafuer:
    (Ich war da schon öfter am suchen ;) )

    Für Aurelius Ursus war es natürlich sehr praktisch gewesen, er hatte durch Phaeneas einen extrem wertvollen Sklaven geschenkt bekommen, dessen Wert inzwischen sogar noch deutlich gestiegen war durch die verbürgte lange Treue gegenüber Lucianus und der erlernten Fähigkeit, lesen und schreiben zu können. Außerdem war es wieder eine ausdrückliche, für alle sichtbare Bekräftigung der Bande wischen der Gens Aurelia und der Gens Vinicia, schließlich war es üblich, sich wertvolle Sklaven zu schenken, um das freundschaftliche Verhältnis, das bestand, zu betonen.


    'Willkommen zu Hause.' Erstaunt sah Phaeneas Cimon an. Das tat er im Moment nur selten, ihn überhaupt nur anzuschauen. Maximal sehr flüchtig.
    Seine Augenbrauen hoben sich. Er war nirgendwo 'zu Hause'. Unter anderen Umständen hätte er das Cimon gesagt. Aber mit dem Tod von Lucianus und Phaeneas' Überforderung mit den eigenen überwältigenden Gefühlen dabei, war der Nubier vorübergehend auf einer gewissen Ebene auf den Rang eines für Phaeneas Fremden zurückgestuft worden. Und mit Fremden teilte man keine Informationen über die Wahrnehmung des eigenen Lebens. Mit Fremden sprach man am Besten so wenig wie möglich.


    Die Sauberkeit des Zimmers war jedenfalls vorbildlich, wie Phaeneas mit geübtem Blick feststelle.
    Da kam plötzlich eine Katze auf die beiden Männer zu. Auf den ersten Blick hatte der Bithynier das Gestell, das offensichtlich den Schlaf- und Dösplatz des felligen Tieres darstellte, übersehen.
    Phaeneas mochte Katzen. Mit Katzen konnte er viel mehr anfangen als mit Menschen. Katzen machen keine Unterschiede zwischen den Menschen, entweder dulden sie jemandes Gesellschaft oder sie dulden sie nicht. Luna, die damals in Germania in der Domus des Statthalters gelebt hatte, hatte sich immer gern von Phaeneas streicheln lassen. Er mochte Katzen eigentlich. Aber gerade hatte er auch dafür keinen Sinn, sich mit diesen geheimnisvollen Geschöpfen mit den wachen Augen zu beschäftigen.
    'Der Kleine will dich wohl auch begrüßen.' - Ah, ein Kater. Erstaunlich, dass wohl ein Kater mit ihnen leben sollte, jetzt wo der Sklave darüber nachdachte. Jedenfalls hatte er noch nie mit einem Tier im selben Raum gelebt.
    Er kam näher und schnupperte an Phaeneas' Bein. Der sah nur hinunter und kümmerte sich nicht weiter darum. Trotzdem nahm er sichtbar Rücksicht auf den Kater, als er vorsichtig weiter an ihm vorbei in den Raum ging.
    Cimons Blick, als er auf das Tier Bezug genommen hatte, sortierte der ehemalige vinicische Sklave nur als weiteres Anzeichen seines momentanen seltsamen Verhaltens ein.


    Nun gut, das hier sollte jetzt also sein neues Schlafzimmer sein. Das war offensichtlich. Und weiter? Die Informationen, die Cimon bisher gegeben hatten, waren sogar dem Bithynier zu spärlich. Klar, er wollte jetzt keinen Plausch mit dem Nubier halten, aber etwas mehr musste er allein schon der Notwendigkeit wegen wissen. „Und welches ist mein Bett?“, fragte er deshalb in absolut neutralem Tonfall. Ohne jedes Lächeln, ohne jede Regung, mit genauso viel Körpersprache wie sonst auch immer: praktisch keiner.