Einen kurzen Moment reagiert Pulcher mit Fassungslosigkeit auf die vorwurfsvolle Stimme seines Bruders, wird sich aber sofort wieder dessen bewusst, dass Callidus Tonfall durchaus seine Berechtigung hat. Also atmet er tief durch und beginnt, zu erklären (bzw. zu versuchen, es zu erklären):
"Tja, meine Situation...." Tiefer Seufzer "Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht wo ich anfangen soll. Ich kann nur ehrlich und sicher sagen, ich weiß, mein Verhalten die letzten Jahre über war ein großer Fehler und ich will kein Verständnis oder sonst etwas in der Richtung von dir dafür, dass ich die Familie und alles hier derart in Stich gelassen habe.
Es gibt nichts zu verstehen und es gibt nichts zu verzeihen: Alles was ich sagen kann, ist, dass ich der wohl größte Idiot bin, der überhaupt herum läuft. Weißt du, denn damals, als ich aufgebrochen bin zu meiner kleinen Studienreise nach Rhodos, hatte ich offen und ehrlich vor, möglichst bald wieder zurück zu kehren - Zumindest soweit es meinen Geist anbelangte. Heute denke ich aber, mein Herz hatte schon damals nicht mehr vor, jemals zurück zu kehren. Du weißt wohl selbst am Besten, wie mir damals die strenge römische Erziehung gleichgültig war, wie ich die Werke der Klassiker, anstatt sie nur auswendig zu lernen, verschlang und verinnerlichte, wie ich von der Weite außerhalb der engen Mauern Italias träumte und wie es in mir brannte und dürstete, den Iason, den großen Ulixes und den anderen Heroen und ihren Reisen nachzufolgen ..."
Pulcher wischt sich mit den Händen über das Gesicht, dann blickt er wieder auf. Er wirkt schwer mitgenommen.
"Was dann folgte, über X lange Jahre hinweg (oder waren es XII?), war ein endloser Feldzug durch das Reich der Träume. Anfangs wünschte ich in meinem jugendlichen Ungestüm alles hinter mir zu lassen und die Wunder der Welt kennen zu lernen. Nach einigen Jahren wünschte ich nicht mehr das. Alles, was einst war, hatte ich vergessen. Ich lebte nur noch vor mich hin. Obwohl ich im festen Glauben war, mit jedem Schritt, mit jedem weiteren Ton auf der Lyra, mit jedem weiteren Wort des Epiktetus, mit jedem Kykeonbecher, den ich leerte, mein Wissen zu vermehren und immer neue Erkenntnis zu sammeln, stets blieb ich in der Höhle angekettet und bewunderte die Schatten, die an der Wand ihr ewiges Spiel mit mir trieben. Und so gebannt und fasziniert war ich von den Trugbildern, dass ich wohl immer noch dort angekettet sitzen würde, hätte ich nicht vor einiger Zeit in jener Spelunke in Antiochia zufällig jene schicksalshafte Begegnung mit jenem Soldaten des Kaisers gehabt..."
Pulcher schaut Callidus an. Eine tiefe, schmerzhaftige Traurigkeit zeichnet sich in den schiefen Mundwinkeln und den wässrigen Augen mit den schweren Tränensäcken ab.
"Dieser Soldat, Maelius Imbrex war sein Name und Fortuna möge ihn segnen, weckte mich durch ein wages Gerücht aus meinem tiefen Traum..."
Pulcher kneift das Gesicht zusammen und während er fort fährt, treibt es ihm die Tränen aus den Augen.
"... So tief war ich im Schlaf versunken, dass die einzige Nachricht, die stark genug war, mich aufzuwecken die Erkenntnis war, dass mein Vater tot war..."
Er beendet seine Erzählung gebrochen und mit vielen Schluchzern.
"...dass Vater gestorben ist ohne ein letztes Mal seinen Sohn gesehen zu haben ... dass sein Sohn erst lange Jahre nach seinem Tod davon erfährt von einem unbekannten Legionär... Verzeih mir, Marcus ..."
Beim letzten Satzschnipsel ist es nicht klar, ob er auf Pulchers Geschichte oder sein Geheule bezogen ist. Auf jedem Fall bricht Pulcher jetzt vollkommen ins Schluchzen und Weinen aus und ist nicht mehr in der Lage, zu sprechen. Dann beruhigt er sich wieder einigermaßen und trinkt einen Schluck Wein für die heisere Kehle. Tränenunterlaufen blickt er Callidus ins Gesicht.
"Was nützt es einen, in die Mysterien einer Demeter, Artemis oder Astarte eingeweiht zu werden, wenn man die eigenen Ahnen derart mit den Füßen tritt wie ich es tat?"
Zu den unfreiwilligen Charakterzüge, die man im Osten erlernt, gehört sicher die pathetisch aufgeladene Dramatisierung persönlicher Konflikte.