Die Arbeit als Aquarius machte mir inzwischen immer mehr Spaß. Dennoch - ich fühlte ein seltsames Loch, eine Leere, die ich auszufüllen suchte. Zuerst hatte ich versucht, Briefe zu schreiben. Briefe an entfernte Verwandte, an Freunde. Eine Zeit lang fand ich es auch wirklich spannend, diese Briefwechsel aufrecht zu erhalten, aber irgendwann schliefen auch diese Kontakte völlig ein. Und ich suchte wieder nach etwas, das mich wirklich erfüllen konnte. Ich fühlte mich wie ein Becher, den man bisher nur zur Hälfte gefüllt hatte. Viel passte noch hinein und es dürstete mich nach mehr. So ergriff ich die Möglichkeit eines freien Tages, um mir die schönsten Catull-Gedichte unter den Arm zu klemmen und gänzlich ohne Sklavenanhang in den Park zu schlendern. Es war, wie man so schön sagte: man ließ den Alltag völlig hinter sich. Sobald man ein wenig den Außenrand des Parks hinter sich gelassen hatte, wurde auch sämtlicher störender Lärm ausgeblendet. Ich konnte mich völlig auf die warme Brise konzentrieren, die durch die Bäume wehte und sie leise seufzen ließ. Ich spürte die wärmende Sonne auf meinem Gesicht und beobachtete staunend ein Vogelpaar beim Nestbau. Zu beiden Seiten des sauber angelegten Weges erstreckten sich saftig grüne Rasenflächen, auf denen bereits hie und da kleinere Myriaden von Frühlingsblühern zu neuem Leben erwachten. Die Natur meldete sich wieder zurück, nachdem sie so lange unter der dichten Schneedecke ausgeharrt hatte. Die Traurigkeit, die ich all die Tage gespürt hatte, die Verzweiflung, die der Tod meiner Mutter hervorgerufen hatte, all das war in diesem Augenblick völlig weggeblasen. Meine Gedanken kreisten nicht mehr sinnlos umher, sie ließen sich einfach treiben. Sie hatten kein bestimmtes Ziel, genau wie der Wind, der die Blumen mit ihren Köpfen wiegen ließ. Behutsam strich ich mit der Hand über die Rinde eines Baumes und atmete den holzigen Geruch ein, der auf meiner Handfläche zurückgeblieben war. Die Äste trieben langsam feine Knospen. Bald würden die Bäume wieder in voller Pracht stehen. Warum machten wir Menschen es uns im Leben eigentlich so schwer? Diese Frage geisterte mir plötzlich durch den Kopf. Es gab so vieles, das wir so wichtig nahmen. Dabei war nichts davon wirklich von Belang. Vielleicht war es einfach nur wichtig, zu sein und nicht ständig zu versuchen, etwas zu werden. Wir versuchten stets, von der Stelle zu kommen, und merkten dabei gar nicht, dass wir uns immer noch nicht vom Fleck bewegt hatten. Wir waren so sehr davon überzeugt, irgendwo ankommen zu müssen, und kannten doch nicht das Ziel unserer Reise. Auflachend registrierte ich diese Erkenntnis und war dankbar dafür, endlich wieder klare Gedanken fassen zu können. Hier, in diesem goldenen Elysium direkt in Rom.
Schweigend ließ ich mich an einem Baum nahe einer Parkbank nieder. Ich sah nicht, wer darauf saß und nahm daher an, ich wäre allein. Genüsslich entrollte ich das erste Gedicht und las es laut. Catull hatte auch noch nach den Jahrzehnten nach seinem Tod eine Wucht und Tiefe, die anderen Dichtern unserer Zeit oft abging. Alles hatte so eine verzweifelte Gravität und war dabei doch so geprägt von jugendlichem Leichtsinn. Wie konnte jemand so verzehrend lieben? So sehr lieben, dass es gleichzeitig in blanken Hass umschlug? Ich musste wieder lachen und las jede Zeile laut für mich, um mir ihren Sinn vor Augen zu führen. Die Liebe war wahrlich wunderbar und schrecklich zugleich. Sie glich der Kallypso, die Odysseus mit ihren Reizen gefangen hielt und nicht eher gehen ließ, bis dass die Götter ihr nicht etwas anderes befahlen. Die Liebe war verzehrend, gab aber auch unendlich viel. Und diese Liebe verspürte ich gerade in Form einer tiefen Dankbarkeit für mein Leben. Nichts war wichtig in diesem Augenblick.