~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
"Ich fasse zusammen: Die Anklagepunkte lauten:
I. Fortgesetzte Verachtung der Götter. Bewiesen und bezeugt durch alle Anwesenden.
II. Fortgesetzte Verachtung der eigenen Ahnen durch Müßiggang. Bewiesen und bezeugt durch Consular Manius Flavius Gracchus, Verginius Mamercus und den Kreis der sogenannten Myrmidonen zu Alexandria.
III. Fahrlässige Tötung der leiblichen Schwester durch Desinteresse. Bewiesen und bezeugt durch die Geschädigte Flavia Flamma.
IV. Vernachlässigung der Res Publica im Amt des Tresvir monetalis. Bewiesen und unter Folter bezeugt durch Patrokolos, Sklave des Angeklagten.
V. Wiederholte Verachtung der eigenen Ahnen durch Müßiggang mit besonderer Schwere der Schuld, da Warnungen ergangen waren. Bewiesen und bezeugt durch Cornelia Philonica und Consular Manius Flavius Gracchus.
VI. Duldung von Unterschlagung des flavischen Familienvermögens durch Desinteresse. Bewiesen und bezeugt durch die Begünstigte Aurelia Prisca.
Ich beantrage daher eine Verurteilung des Beklagten und die Strafe der ewigen Verdammnis im Tartaros."
, drang die scharfe Stimme an sein Ohr und er blickte zu Boden. Es schien ihm, als habe jener Prozess bereits Stunden gedauert, waren umständlich Beweise erhoben, gewürdigt und disputiert worden, hatten Anklage und Verteidigung vehementeste Diskussionen ausgefochten, sodass unendlich ermattet er sich fühlte und ausgedörrt, obschon ihm doch kein einziges Mal war gestattet gewesen, das Wort selbst zu erheben. Sämtliche seiner Verfehlungen waren in größter Ausführlichkeit erörtert worden, jedes Detail seines zügellosen Lebens in Alexandreia, alle Unzucht, seine weibischen Eskapaden und seine lästerliche Rede über die Unsterblichen war aufgeführt worden, konfirmiert durch seinen damaligen gestrengen Hausherren sowie seine Gefährten. Ebenso hatte er dem gemarterten Patrokolos ins Antlitz müssen schauen, während dieser unter Tränen gestand, wie sein Herr während seines Vigintivirates nahezu kein Engagement an den Tag hatte gelegt, wie widerwillig und lediglich getrieben von Furcht um sein sorgloses Leben er an öffentlichen Opfern hatte partizipiert, während er doch weder gegen die Empfänger der Gaben, noch gegen das Volk von Rom jedwede Obligation hatte verspürt und somit auch gerade das Nötigste hatte unternommen. Nun, da alles Innerste nach außen war gekehrt, da nichts als ein Häuflein Elend von ihm war verblieben, wünschte er sich nichts sehnlicher, als dass das Urteil rasch erging und er zu welchem Ende auch immer würde entlassen werden.
Er blickte auf und sah in die schwarzen Augen Plutos, dessen Conclusio soeben das Ende des Prozesses hatte eingeleitet. Der Schwarze fuhr gewichtig sich durch den Bart und nahm sodann auf der Bank der Anklage wieder Platz, woraufhin auf der anderen Seite flachen Podests am Kopfende der Curia Iulia, auf welchem der Göttervater höchstselbst auf einer güldnen Sella curulis thronte und, assistiert von Iuno und Minerva, seines Richteramtes waltete, seine geliebte Mutter mit zaghaften Bewegungen sich von ihrem Platz an seiner Seite erhob.
"Ich kann diese Anklagepunkte nicht aufheben."
, hob sie an und korrigierte den Sitz ihrer Stola, welche als römische Matrone sie auswies.
"Mein Sohn hat schändlich versagt, hat alle Werte, die ich, sein Vater und seine Lehrer ihn lehrten, vergessen und verspottet. Ich selbst stieg aus den Gefilden der Seligen zu ihm herab und warnte ihn, ermahnte ihn und konnte ihn auf den rechten Weg zurückführen.
Und doch versagte er aufs Neue, floh in die Welt des Rausches und der Träumereien, anstatt seiner Bestimmung zu folgen und unsere stolze Linie fortzuführen."
Ein Seufzen entfleuchte ihm, als er seine Mutter, die als einzige in diesem Gericht des Senates der Götter für ihn sprach, ihrer Desillusion Ausdruck verlieh. Erwartungsvoll blickten die Unsterblichen, welche auf den Bänken der Consulare in vorderster Reihe saßen, sowie seine Ahnen auf den Plätzen der Pedarii zu der einsamen Seele, die hier für ihren missratenen Sohn Partei hatte ergriffen.
"Und doch flehe ich euch an, ihr Götter, um meinetwillen diesen Knaben zu schonen. Zweifellos hat er versagt, doch bitte ich euch: Rechnet ihm mein ehrbares Leben, mein Pflichtgefühl und meine eheliche Treue, die ich meinem Gatten und seiner Familie trotz aller Widrigkeiten bewies, an! Seht mit gnädigem Blick auf ihn, der aufs Neue sich von Gottlosigkeit und dem Müßiggang loskämpfte und gewährt ihm noch eine Chance!
Wie der Imperator Caesar Augustus könnt ihr jeden begnadigen, auch den schlimmsten Missetäter! Habt nun Erbarmen mit diesem edlen Spross jener uralten Familie, die schon mit so vielen Männern euch gedient hat! Denkt an die Verdienste seines Vaters, der als Pontifex die Brücke zu euch baute und erhielt! Denkt an seinen Großvater, der unermüdlich dem Staatswesen diente! Denkt an alle, die ihr Vermögen, ihre Liebe und ihre Hoffnungen Manius Flavius Gracchus Minor setzten!
Noch ist Zeit, dass diese Hoffnungen sich erfüllen! Denkt an seinen treuen Dienst an den Grenzen des Imperiums! Erwägt seine Quaestur, in der er so treu diente, dass selbst der greise Claudius Menecrates ihm Zuneigung und eine Auszeichnung schenkte! In ihm steckt die Kraft der Flavii und Claudii - selbst mit all seinem Versagen ist er in der Lage, die Waage ins Gleichgewicht zu bringen und durch unermüdlichen Einsatz für die Pax Deorum, die sichtbare und die unsichtbare Welt seine Schuld zu begleichen!"
Ihre bleichen Hände schoben langsam das ausladende Tuch von ihrem Haupte und entblößten ihre ebenmäßigen, dunklen Haare. Mit flehendem Blick sah Claudia Antonia nun hinauf, wo mit versteinerter Miene die Göttertrias in die Reihen der Götter und Ahnen blickte. Tränen glitzerten in ihren Augen und sammelten sich, um als Tropfen über ihre zarten, doch leblosen Wangen zu rollen. Ihre Stimme bebte, als nach kurzem Verharren sie fortfuhr:
"Habt Mitleid mit mir armer Mutter, die zu früh aus dem Leben schied, um ihren Sohn zurechtzuweisen! Habt Mitleid mit meinem Fleisch und Blut, das ich unter Schmerzen gebar, das ich aufzog und umsorgte und entreißt es mir nicht in alle Ewigkeit, wo es doch noch Hoffnung gibt!
Gewährt ihm eine neue Chance! Eine letzte Chance!"
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Manius Minor sog erschrocken Luft ein, als mit einem Schlag er erwachte. Noch war es dunkel im winterlichen Rom, doch durch die geschlossenen Läden seines Cubiculum dämmerte bereits der Morgen. Und doch war ihm die vertraute Stimme seiner geliebten Mutter noch im Ohr. Gleich den Laren und Penaten des Hauses schien sie über ihn zu wachen, schien selbst gegenüber den Unsterblichen seine Sache zu vertreten. Selbst nun, da er ihre Ratschläge in den Wind hatte geschlagen, da er jämmerlich hatte versagt, verwandte sie sich für ihn! Eine letzte Chance wollte sie ihm geben!
Doch ob die Götter dies ebenfalls taten?
Er blinzelte und erblickte im Halbdunkel des Raumes seinen Patrokolos, im Reich des Morpheus grässlich gemartert, doch nun unschuldig schlummernd zu seinen Füßen, nicht ahnend, welche Mären sein Herr neuerlich hatte erträumt. Würde er mit sich andere ins Verderben reißen, wenn er sich nicht bewährte? Zweifelsohne würde es zum Schaden der Gens Flavia gereichen, da doch sein Bruder Titus bisherig keinerlei Ambitionen zeigte, die Bürde der Familie zu tragen, sondern viel lieber mit seinem Vetter Serenus die Welt bereiste. Doch würde auch seinen getreuen Diener die göttliche Strafe ereilen?
In diesem Augenschlage öffneten sich in dem noch immer makellosen Antlitz des Sklaven die Augen und zugleich der Mund zu einem herzhaften Gähnen.
"Domine, du bist schon wach? Aber sicher - der große Tag..."
, bemerkte er, als er gewahr wurde, dass Manius Minor nicht mehr schlief. Rasch rappelte er sich auf, um seinem Herrn aus dem Bett zu helfen.
Mit einem Schlage waren die Reflexionen des Flavius hinsichtlich seines Sklaven fortgewischt. Heute war Wahltag! Womöglich würde der Tag erweisen, ob sein Vater wahr hatte gesprochen, als er ihm den Konsens der Götter zu seiner Kandidatur hatte verkündet. Noch eine Chance... womöglich war sie ihm tatsächlich gegeben!