~~~ Gefangen in Morpheus' Reich ~~~
Und jetzt, ohne daß vorher der Geist etwas gesagt hätte, standen sie auf einer kahlen, öden Heide, wo ungeheure Felsblöcke verstreut lagen, als wäre hier eine Begräbnisstätte von Riesen. Und Wasser breitete sich aus, wo es nur Lust hatte – oder es hätte sich ausgebreitet, wenn es der Frost nicht gefangengehalten hätte; und nichts wuchs dort als Moos und Gestrüpp und hartes, spitzes Gras. Tief im Westen hatte die untergehende Sonne einen Streifen glühenden Rots gelassen, der einen Augenblick auf die öde Steppe niedertauchte, wie ein zürnendes Auge, und immer tiefer und tiefer sank, bis er sich im Dunkel der tiefsten Nacht verlor.
"Was ist das für ein Ort?"
, fragte er.
"Ein Ort, wo das Imperium an das Barbaricum grenzt"
, antwortete der Geist.
"Aber sie kennen mich. Sieh!"
Ein Licht strahlte aus dem Fenster einer Turmes, und sie schwebten schnell darauf zu. Hier fanden sie eine fröhliche Gesellschaft um einen wärmenden Ofen sitzen: ein alter, vielschrötiger Veteran und drei jüngere Rekruten, alle in den festlichsten Kleidern, der Beutel eines Soldaten hergab. Der Alte sang ein Saturnalienlied mit einer Stimme, die nur selten das Heulen des Windes auf der Einöde übertönte; es war schon ein sehr altes Lied gewesen, als er noch ein Knabe war; und von Zeit zu Zeit fielen sie alle im Chor ein. Und stets, wenn ihre Stimmen ertönten, wurde der Alte lebendig und laut; und immer, wenn sie aufhörten, sank seine Kraft wieder. Der Geist verweilte hier nicht, sondern befahl, sich an seinem Gewand zu halten. Sie schwebten über die Öde, aber wohin?
Eine große Überraschung war es für ihn - während er dem Stöhnen des Windes lauschte und darüber nachdachte, wie es doch schauerlich sei, durch die öde Nacht über einen unbekannten Abgrund dahinzugleiten, der Geheimnisse barg, so tief wie der Tod - eine große Überraschung war es für ihn, plötzlich ein herzliches Lachen zu vernehmen. Noch größer war seine Überraschung, als er darin das Lachen seines eigenen Neffen erkannte und sich in einem hellen, behaglich warmen Zimmer wiederfand, während der Geist an seiner Seite stand und mit beifälligem, mildem Lächeln auf diesen Neffen herabblickte.
"Haha!"
, lachte sein Neffe.
"Hahaha!"
Als sein Neffe lachte und sich den Bauch hielt und mit dem Kopf wackelte und die allermerkwürdigsten Gesichter schnitt, lachte seine Nichte so herzlich wie er. Und die versammelten Freunde, nicht faul, fielen in den Lachchor ein.
"Haha! Haha! Haha!"
"Er sagte, die Saturnalia seien dummes Zeug, so wahr ich lebe"
, rief sein Neffe.
"Und er glaubt es auch."
"Die Schande ist um so größer für ihn, Furius"
, sagte seine Nichte entrüstet. Iuno segne die Frauen! Sie tun nie etwas halb. Sie sind immer in vollem Ernst.
Sie war hübsch, sehr hübsch. Sie hatte ein liebliches, schelmisches Gesicht, einen frischen vollen Mund, der zum Küssen gemacht schien – wie er es ohne Zweifel auch war; alle Arten lieber kleiner Grübchen um das Kinn, die ineinanderflossen, wenn sie lachte, und das sonnenhellste Paar Augen, das je erblickt werden konnte. Ja, sie war reizend, liebenswürdig, bezaubernd.
»Er ist ein komischer alter Herr"
, sagte sein Neffe,
"das ist wahr, und nicht so angenehm, wie er sein könnte. Doch seine Fehler bestrafen nur ihn selbst, und ich habe keinen Grund, etwas gegen ihn zu sagen."
"Er muß doch sehr reich sein, Furius"
, meinte seine Nichte.
"Wenigstens sagst du es immer."
"Und wenn schon, Liebste!"
, sprach sein Neffe.
"Sein Reichtum nützt ihm nichts. Er tut nichts Gutes damit. Er macht sich selbst nicht einmal das Leben damit angenehm. Er hat nicht einmal das Vergnügen zu denken – hahaha –, daß er uns am Ende damit eine Freude machen wird."
"Ich habe keine Geduld mit ihm"
, bemerkte seine Nichte. Die Schwester seiner Nichte und alle die andern Damen waren derselben Meinung.
"Oh, ich habe Geduld"
, sagte sein Neffe.
"Mir tut er leid; ich könnte nicht böse auf ihn werden, selbst wenn ich's versuchte. Wer leidet unter seiner bösen Laune? Er selber allein, sonst niemand. Jetzt hat er sich's in den Kopf gesetzt, uns nicht leiden zu können, und will unsere Einladung zum Mittagessen nicht annehmen. Was ist die Folge davon? Er verliert nicht viel an unserm Essen."
"Nun, ich meine, er verliert ein sehr gutes Essen"
, unterbrach ihn seine Frau. Die andern sagten dasselbe, und man konnte ihr Urteil darüber nicht bestreiten, weil sie eben zu essen aufgehört hatten und jetzt mit dem Dessert bei Lampenlicht um ein Kohlebecken saßen.
"Nun, es freut mich, das zu hören"
, sagte sein Neffe.
"Die Folge seines Mißfallens an uns und seiner Weigerung, mit uns fröhlich zu sein, die ist, dass er einige angenehme Augenblicke verliert, die ihm nichts schaden würden. Gewiß verliert er angenehmere Unterhaltung, als ihm seine eigenen Gedanken in seinem dumpfigen alten Kontor oder in seiner Wohnung bereiten. Ich versuche ihm jedes Jahr Gelegenheit dazu zu geben, mag es ihm nun gefallen oder nicht, denn er dauert mich. Er mag auf die Saturnalia schimpfen, bis er stirbt, aber er muß doch endlich besser davon denken, wenn er mich jedes Jahr in guter Laune zu ihm kommen sieht, mit den Worten: 'Onkel Ebonesius, wie geht es Dir?' – Wenn es ihm nur den Gedanken einflößt, seinem armen Scriba fünfzig Sesterzen zu hinterlassen, so ist das doch wenigstens etwas: und ich glaube, ich packte ihn gestern."
Jetzt war an ihnen die Reihe zu lachen bei dem Gedanken, daß er den Alten gepackt hätte. Aber da er durch und durch gutmütig war und sich nicht viel darum kümmerte, worüber sie lachten, wenn sie überhaupt lachten, so stimmte er in ihre Fröhlichkeit mit ein und ließ die Flasche wacker herumgehen.
Nach einer Welle fingen sie Glücksspiel an, denn es ist gut, zuweilen Kind zu sein, und vorzüglich zu den Saturnalia, da der Urheber dieses Festes selbst die kindliche Freude gebracht hatte. Auch in dem Spiel ›Wie, Wann und Wo‹ waren alle sehr tüchtig. Es mochten ungefähr zwanzig Personen da sein, junge und alte, aber sie spielten alle, und auch er selbst spielte mit; denn in seiner Teilnahme an den Vorgängen ganz vergessend, dass ihnen seine Stimme nicht hörbar war, gab er oft seine Antwort auf die Fragen ganz laut und riet auch oft ganz richtig.
Dem Geist gefiel es sehr gut, ihn in dieser Laune zu sehen, und er blickte ihn so freundlich an, daß er ihn wie ein Knabe bat, noch warten zu dürfen, bis die Gäste fortgingen. Aber der Geist sagte, dies könne nicht geschehen.
"Es fängt ein neues Spiel an"
, sagte er.
"Nur eine einzige halbe Stunde, Geist."
Es war ein Spiel, das man 'Ja und Nein' nennt, wo sein Neffe sich etwas zu denken hatte und die anderen erraten mußten, was; auf ihre Fragen brauchte er dann nur mit Ja oder Nein zu antworten. Die schnell aufeinanderfolgenden Fragen, die ihm vorgelegt wurden, ergaben denn endlich, daß er sich ein Geschöpf dachte –. ein lebendiges Wesen, ein häßliches, wildes Geschöpf, das zuweilen brumme und zuweilen spreche und sich in London aufhalte und in den Straßen herumlaufe und nicht für Geld gezeigt und nicht herumgeführt werde und nicht in einem Amphitheater sei und nicht geschlachtet werde, und weder ein Pferd, noch ein Esel, noch eine Kuh, noch ein Ochs, noch ein Tiger, noch ein Hund, noch ein Schwein, noch eine Katze, noch ein Bär sei. Bei jeder neuen Frage, die ihm gestellt wurde, brach sein Neffe aufs neue in ein Gelächter aus und konnte gar nicht wieder herauskommen, so daß er von der Kline aufstehen und mit den Füßen stampfen mußte. Endlich rief die seine Nichte mit einem ebenso unauslöschlichen Gelächter:
"Ich habe es, Furius, ich weiß es, ich weiß es."
"Was ist es?"
, rief Furius.
"Es ist Onkel Ebonesius!"
Und der war es auch. Verwunderung war das allgemeine Gefühl, obgleich einige meinten, die Frage: 'Ist es ein Bär?' hätte mit Ja beantwortet werden müssen, denn eine verneinende Antwort sei schon hinreichend gewesen, ihre Gedanken von ihrem Onkel abzubringen, selbst wenn sie auf dem Wege zu ihm gewesen wären.
"Nun, er hat uns Freude genug gemacht"
, sagte Furius,
"und so wäre es undankbar, nicht auf seine Gesundheit zu trinken. Hier ist ein Glas Mulsum dazu bereit. Es lebe Onkel Ebonesius!"
"Es lebe Onkel Ebonesius!"
, stimmten alle ein.
"Bona Saturnalia und ein glückliches Neujahr dem Alten, sei er, wie er wolle!"
, sagte sein Neffe.
"Er wollte meinen Wunsch nicht annehmen, aber er soll ihn dennoch haben."
Ihm war es unmerklich so fröhlich und leicht zu Sinne geworden, daß er der von seiner Gegenwart nichts ahnenden Gesellschaft ihren Trinkspruch erwidert und mit einer unhörbaren Rede gedankt haben würde, hätte ihm der Geist Zeit dazu gelassen. Aber alles verschwand im Hauch vom letzten Wort des Neffen, und er und der Geist waren schon wieder unterwegs. Sie gingen weit und sahen viel und besuchten manchen Herd, aber immer spendeten sie Glück. Der Geist stand neben Kranken, und sie wurden heiter und hoffend; neben Wanderern in fernen Ländern, und sie träumten von der Heimat; neben solchen, die mit dem Leben rangen, und sie harrten geduldig aus; neben Armen, und sie wurden reich. Im Armenhaus und im Lazarett, im Kerker und in jedem Zufluchtsort des Elends, wo der Mensch in seiner kurzen ärmlichen Herrschaft dem Geiste die Tür verschlossen hatte, spendete er seinen Segen und lehrte ihn seine Weise.
Es war eine lange Nacht, wenn es nur eine Nacht war; aber er zweifelte daran, denn die Saturnalia schienen in die Zeit, in der sie miteinander verrannen, zusammengedrängt zu sein. Es war auch sonderbar, daß der Geist offenbar älter wurde, während er äußerlich ganz unverändert blieb. Erhatte diese Veränderung zwar bemerkt, sprach aber nie davon, bis sie von einer Kinderschar weggingen, wo er bemerkte, daß des Geistes Haar schnell grau geworden war.
"Ist das Leben der Geister so kurz?"
, fragte er.
"Mein Leben ist sehr kurz auf dieser Erde"
, sagte der Geist,
"es endet noch in dieser Nacht."
"In dieser Nacht noch!"
, rief er.
"Heute um Mitternacht. Die Zeit nahet schon."
"Vergib mir, wenn ich nicht recht tue, zu fragen"
, sagte er jetzt, scharf auf des Geistes Gewand blickend,
"aber ich sehe etwas Seltsames unter deinem Mantel hervorblicken, was nicht zu dir zu gehören scheint. Ist es ein Fuß oder eine Klaue?"
"Nach dem wenigen Fleisch, was darauf sitzt, könnte es schon eine Klaue sein"
, gab der Geist traurig zur Antwort, und fuhr fort:
"Sieh hier!"
Aus den weiten Falten seines Gewandes hervor erschienen jetzt zwei Kinder, elend, abgemagert, häßlich und mitleiderregend. Sie knieten vor dem Geiste nieder und hielten sich festgeklammert an dem Saum seines Gewandes.
"O Mensch, sieh hier"
, rief der Geist.
"Sieh hier, sieh hier!"
Es war ein Knabe und ein Mädchen. Fahlen Gesichtes, elend, zerlumpt und mit wildem, tückischem Blicke; aber doch auch ängstlich und gedrückt in ihrer Demut. Wo die Schönheit der Jugend ihre Züge hätte durchleuchten und mit ihren frischesten Farben kleiden sollen, hatte sie eine runzlige, abgelebte Hand, gleich der des Alters, berührt und versehrt. Wo Laren hätten thronen können, lauerten Lemuren mit grimmigem, drohendem Blick.
Entsetzt fuhr er zurück. Da sie ihm der Geist auf solche Weise gezeigt hatte, versuchte er zu sagen, es wären schöne Kinder, aber die Worte erstickten ihm von selber, um nicht teilzuhaben an einer so ungeheuren Lüge.
"Geist, sind das deine Kinder?"
Weiter konnte er nichts sagen.
"Es sind des Menschen Kinder"
, erwiderte der Geist, auf sie herabschauend.
"Und sie hängen sich an mich, vor mir ihre Väter anklagend. Dieses Mädchen ist die Unwissenheit. Dieser Knabe ist der Mangel. Schau sie beide wohl an, und vor allem diesen Knaben; denn auf seiner Stirn seh' ich geschrieben, was Verhängnis ist, wenn die Schrift nicht verlöscht wird. Leugnet es"
, rief der Geist, seine Hand nach der Stadt ausstreckend.
"Verleumdet alle, die es Euch sagen! Gebt es zu um Eurer Parteizwecke willen und macht es noch schlimmer! Und erwartet das Ende!"
Er sah sich um nach dem Geiste, aber er war verschwunden. Als der letzte Schlag verklungen war, sah er, die Augen erhebend, ein grauenerregendes, tief verhülltes Gespenst auf sich zukommen, wie ein Nebel auf dem Boden dahinzurollen pflegt.