Beiträge von Manius Flavius Gracchus Minor

    Sukzessive hatten die Schmerzen, welche durch die infamiliare Belastung des Leibes auf dem Rücken eines Pferdes entstanden, sich in den folgenden Tagen gemildert, ohne gänzlich abzuklingen. Statt den Muskeln, meldete nun vielmehr die Haut sich zu Wort, um das stetige Reiben des Stoffes am Sattel des Pferdes zu beklagen. Am Abend erblickte Manius Minor gerötete Oberschenkel, was sich erst in den folgenden Tagen durch die Einfügung einer zusätzlichen Schicht in Form einer ledernen Reithose meliorisierte. Dennoch deprivierte die Monotonie der Bewegungen und der deplorable Zustand der infantilen Muskulatur des Knaben auch die Gelenke im Rücken und an allen Enden, womit ein neues Leiden gefunden war, welches ihn bei Tage und Nacht traktierte. Mit den Tagen verstummten indessen auch jene Klagen ob der Schmerzen, der Widrigkeiten der Reise, ebenso seine ab und an fröhlichen Fragen etwa bezüglich der Landschaft, welche ob seiner Fehlsichtigkeit sich ihm kaum erschloss. Bar jedweder Äußerung stierte der junge Flavius vielmehr lediglich auf den Rücken des Tieres, ließ vorwärts sich tragen und übte im Stillen, auf welche Weise er sein Vehikel zu beeinflussen vermochte.


    Als sie endlich die sumpfige Landschaft um Mantua durchquert hatten, verbreitete sich doch eine gewisse Freude in dem Knaben, der das Ende der Reise kommen sah. Rasch quartierten sie sich dem eingeschliffenen Usus entsprechend ein, Onkel Flaccus wurde auf eine Liege verfrachtet und Manius Minor zur Wacht an dieser abgestellt, während Manius Maior sich nicht wie gewohnt dem Erwerb von Proviant widmete, sondern aufbrach, um Kontakt mit Aurelius Ursus aufzunehmen.


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    Als es endlich wieder an der Pforte klopfte, erschien es dem Knaben, als sei bereits ein vollständiges Saeculum vergangen, so inbrünstig und voller Furcht hatte er die parentale Rückkehr erwartet, welche an diesem Tage in weit höherem Maße unsicher gewesen war als bisher. Geradezu erschrak der junge Flavier, als das Pochen unvermittelt in den Raum drang, sodass er, bis zum Rande gefüllt mit Kleinmut, einen Satz über die Kline, auf welcher Flaccus lag, einen feuchten Lappen auf der Stirne, und an die der Tür gegenüber liegende Wand machte. Zweifel nagten plötzlich an ihm, schlimme Befürchtungen, man habe seinen Vater inhaftiert, einer Tortur ausgesetzt und Versteck wie Passwort von ihm erpresst, um die Flavii nun gänzlich auszumerzen.


    Fortunablerweise erfolgte der Anruf indessen ein weiteres Mal, in welchem Manius Minor die Stimme des Vaters klar zu erkennen glaubte, sodass er sich voller Umsicht der Tür näherte, den Riegel beiseiteschob und hinauslugte, um dort die bärtige Gestalt Manius Maiors zu erspähen. Rasch wurde nun Platz gemacht und der Knabe fiel dem Rückkehrer um den Hals voll von Erleichterung, ein weiteres Mal dem Waisentum entgangen zu sein.
    "Vater, wird nun alles gut?"
    fragte er, da im Laufe der Einsamkeit mit dem fiebrigen Onkel die Hypothese in ihm gereift war, Mantua mochte das finale Ziel und Aurelius Ursus ihr Hüter werden, welcher die Familie vor dem grausigen Zugriff des Vescularius bewahren würde.

    Der Tag wurde dem Knaben zu unstillbarer Qual, welche er indessen mit Onkel Flaccus teilte. Fortunablerweise entzog das einsetzende Fieberdelirium gegen Mittag dem jungen Flavius aber jedwedes Gefühl für einzelne schmerzende Regionen seines Leibes oder die Dauer des Sonnenlaufes hinter denen sich im Regen selbst verzehrenden Wolken. Vielmehr präsentierte sich vor dem geplagten Geist ein sich ins infinite erstreckendes Meer des Wahns, in welches er eingetaucht war und das an allen Stellen, welche sein mal eisiges, mal glühendes Nass berührte, brennenden Schmerz erzeugte. Mehrmals bewahrte nur ein erschrecktes Erwachen ihn davor, sein Gefährt auf unsanfte Weise zu verlassen und auf die rutschige Straße zu stürzen.


    Die Mittagspause ließ Manius Minor so mehr über sich ergehen, als aktiv an ihr zu partizipieren und als sie nach einer seines Ermessens nach unendlichen Periode weiteren Weiterschleppens erreichten sie endlich die Station. Was folgte, vermochte der Knabe in der Retrospektive nicht mehr rekonstruieren. Erst als er die väterliche Stimme vernahm und in das unrasierte Gesicht Manius Maiors blickte, kehrte er zurück in das Reich der Lebenden.
    "Mir tut alles weh!"
    klagte er dennoch mit einer Stimme, die seit mehr als einem Tag nicht mehr benutzt worden war, denn noch immer plagte ihn der Muskelkater seiner Beine.

    Viel zu knapp bemessen war jene Zeit der Rekreation auf dem Landgut des Scapula gewesen, insbesondere für den Knaben, welchem erst das wärmende Bad die Frost der Nacht aus dem Leibe zu treiben vermocht hatte. Dennoch war eine gewisse Indisposition verblieben, hatte die Hitze des Bades sich nicht aus seinem Leibe entfernt, sondern ihn bis in das wärmende Bett geleitet. Am folgenden Morgen hingegen hatte für gewisse Zeit ein Schüttelfrost seinen geschundenen Leib gepeinigt, weshalb der junge Flavius die wärmende Tunicae, Mantel und Halstuch durch eine weitere Decke ergänzt hatte. In seiner überaus malheureusen Verfassung hatte ihn nicht einmal das Schwert, welches zu tragen ihm erlaubt worden war, seinen Esprit neuerlich erwecken können. Stattdessen musste er auch noch seine Inkapazität bei der Fortbewegung zu Pferde offenbaren, sodass Onkel Flaccus das Tier, das auf den klangvollen Namen 'Ajax' hörte, am Zügel führen musste.


    Obschon sich die Reisebedingungen nun signifikant verbessert hatten, mochte auch am folgenden Tage keinerlei Reiselust bei Manius Minor erwachen, was nicht nur der absoluten Mutität Manius Maiors und Onkel Flaccus', welcher ohnehin gänzlich absent erschien und mit glasigem Blick den Hals seines Gefährts anstarrte, sondern auch den Inkommoditäten der langen Fortbewegung auf dem Pferderücken, sowie der völligen Insekurität betreffs Motiv, Anlass und Ziel der Reise geschuldet war. So verkürzten sich die Intervalle zwischen seinem Murren immer mehr, ehe die unwirsche parentale Ermahnung bei ihm einen suffizienten Scham evozierte, aufgrunddessen er sich zu ebenfalls beständigem Schweigen verurteilte. Stattdessen richtete sich seine Appetenz nun gänzlich auf den Schmerz in der Schenkelregion, welcher bisweilen geradezu zu einem Brennen sich wandelte, woraufhin der Knabe sich um eine Änderung der Position bemühte, was fortunablerweise unter seinem Umhang verborgen blieb.


    Nachdem sie endlich das augenscheinliche Ziel der Tagesetappe erreichten und vor einer Herberge zum Halten kamen, stürzte der junge Flavier schließlich gar unter der inzwischen unfamiliären Belastung der Beine, ehe er sich zitternd wieder aufrappelte und den Schmerz seiner Extremitäten mit zusammengebissenen Zähnen ertrug. So ließ er sich eiligst auf eine Bank fallen, nachdem sie den Schankraum betreten hatten, schloss uneingedenk des übrigen Publikums, welches misstrauisch sie beäugte, die Augen und stärkte sich entgegen seiner Routine nur wenig an den verbliebenen Vorräten. Vielmehr nutzte er die erstbeste Gelegenheit, um die Schlafkammer aufzusuchen und eingewickelt in eine der Decken in einen traumlosen Schlaf hinüberzugleiten.


    Beim Erwachen am Folgetag schmerzte nicht mehr nur jedwede Bewegung der Beine, sondern darüber hinaus gar der Hals, welcher es kaum gestattete, in der Wirtsstube das bereitete Brot zum Magen hinab passieren zu lassen, was indessen keine größeren Inkommoditäten evozierte, da das sonst prächtig entwickelte Hungergefühl des Knaben sich gänzlich verabschiedet hatte.

    Voll von Dankbarkeit und mit Hast ergriff der Knabe den Wasserschlauch, führte ihn zum Munde und ergoss den Inhalt gierig in sich, sodass das eisige Nass nicht nur seinen Gaumen, sondern auch Kinnd und Wangen, schlussendlich gar die Tunica benetzte. Er setzte ab, spie die Mélange aus Wasser und Sekreten aus, und konnte sich endlich an seinem Präsent erlaben, obschon die liquide Kälte seine Zähne vor Schmerzen pochen ließ. Der Wagen setzte sich in Bewegung, als er genug genommen hatte und den Schlauch achtlos neben sich von jenem herabfallen ließ, um die weitere Reise neuerlich in einem fröstelnden Dämmerzustand zu verbringen, in welchem sich in ihm die Gewissheit nährte, dass sie sämtlich schlichtweg des Todes waren. Schon glaubte er, einem Lemuren gleich durch den Sitz des Wagens hindurch in den Laderaum zu sinken, um sich zu ewiger Ruhe zu betten, welche in dieser Situation nicht unattraktiv erscheinen mochte.


    Doch letztlich nahm auch jene Episode der Flucht ihr Ende. wie der junge Flavius voller Erstaunen erkannte, spürte er die Zehen in dem klammen Schuhwerk nicht mehr, als er auf die Erde sprang und um ein Haar seinerseits in das feuchte Gras gestürzt wäre, doch war es ihm nun endlich erlaubt, das morbide Milieu der Libitinarii zu verlassen. Geduldig erwartete er nun erhebende Worte von parentaler Seite, doch selbst jenem strahlenden Heroen seines Lebens schienen all diese Strapazen in höchstem Maße zuzusetzen, sodass er, wenn auch vergeblich, jener Blümeranz, welche auch der Knabe verspürte, Erleichterung zu verschaffen suchte. Erst danach weihte er ihn wie auch Onkel Flaccus in die weiteren Schritte ein, welche jenem fernen Fackelschein gleich, der von dem sich entfernenden Leichenwagen in die Campagne strahlte, ein Licht am Ende des Tunnels von Mühsal offerierte. Obschon jeder Schritt in diesen untersten Extremitäten ein kaum erträgliches Brennen evozierte, vermochte die Aspettanz eines wärmenden Kohlebeckens, zivilisierter Kleidung und sättigender und zugleich wohlschmeckender Speisen die Moral Manius Minors zum ersten Male an jenem Abend zu heben und das einst grenzenlose Trauen in die Kapazitäten Manius Maiors zu revitalisieren. Zwar mochte die eingängliche Reserviertheit der Sklaven der Villa Cornelia neuerliche Furcht einer Prolongation ihrer Odyssee erwecken, verbunden mit einer neuerlichen Sekurität des lauernden Todes, doch öffneten sich schließlich doch die Tore des Anwesens und der Knabe trat ein in die ihm vertraute Welt der Annehmlichkeiten, welche er so lange Zeit bitterlich hatte missen lassen müssen...

    Es entging dem Knaben gänzlich, welche Differenzen der Libertinus und sein Vater austrugen, indessen drängte sich in seinen geschundenen Geist die Frage, aus welchem Grund sich hinter jeder jener grauenerregenden Etappen, welche sie zu durchlaufen hatten, neuerlich blasse, leblose Corpora verbargen, deren abstoßender Odeur nicht nur die Contenance des jüngsten, sondern auch den nächstjüngeren Flavius überstrapazierte, auf. Folglich entleerte auch Manius Minor sich in geradezu solidarischer Weise, als er sich, den Sitz des Wagens erklimmend, Onkel Flaccus beim Vomieren zu beobachten genötigt sah, was einen der Libitinarii ob der grotesk anmutenden Similaritäten zu einem kurzen Auflachen verführte. Jener weitere Körpersaft, welcher sich im Munde des Knaben mit Speichel, Blut und Nasensekret vermischte, verleitete den Knaben zu wiederholtem Ausspeien und ließ ihn mit letzter Kraft einen Wunsch nach
    "Wasser!"
    verbalisieren. All dies überstieg seine Physis wie Psyche beiweitem.

    Sich gänzlich seinem Leiden ergebend, blickte er nicht auf, ehe nicht Manius Maior ihm jene Zuneigung darbot, welcher er in diesem Augenblick so schmerzlich bedurfte. Mitnichten vermochte Manius Minor sich zu erinnern, dass sein Vater jemals sich zu einer derartig distancelosen Liebesbekundung hinreißen hatte lassen, weshalb er eine große Satisfaktion verspürte, welche seinen Schmerz und seinen Unwillen in der Tat dämpften. Dennoch war er erfreut, keine direkte Replik auf die parentalen Affirmationen formulieren zu müssen ob der Tatsache, dass es sich noch seiner Kenntnis entzog, ob er wahrhaftig aufstehen und seinen Weg fortführen konnte. Indessen führte er lethargisch seine schmutzige Hand zu seiner blutenden Lippe hin, ertastete den warmen Lebenssaft und begutachtete den im Mondlicht glänzenden, seltsam schwerfällig liquiden Stoff gedankenverloren, ohne die Zurechtweisungen des älteren Gracchus wahrzunehmen. All dies erschien geradezu kurios, mit keinerlei Impression komparabel und weitab jedweder Imagination, zu welcher er vor Stunden fähig gewesen wäre. All dies überextendierte seine Psyche, welche ob dessen sich nach innen wandte, während die korporalen Regungen auf scheinbar automobile Weise reagierte.


    Selbst jene Hand, welche ihn aufrichtete, erweckte ihn nur unvollständig aus der Trance, in welche langsam, doch beständig die Kälte der Nacht kroch und ihm ein Schaudern, schließlich gar ein Zittern, akkomodiert durch ein Klappern der Zähne abverlangte. So schritt er endlich neben seinem Vater her, einem wandelnden Häufchen Elend gleich, sich bisweilen den Lebenssaft von Unterlippe und Kinn wischend, sooft dieser sich seinen Weg gen Erde bahnte, kaum mehr wahrnehmend, was um ihn geschah. Sein Geist hatte sich gänzlich separiert von der physischen Welt, war indessen auch nicht in Träume abgeglitten, sondern hielt sich schlichtweg in einem schwebenden Status, der das Leid augenscheinlich am erträglichsten gestaltete...

    Die Saturiertheit, welche die erfolgreiche Passage durch das Tor und das tröstliche Brot evoziert hatten, war bei dem Knaben rascher aufgebraucht, als der Geschmack der ungewohnt derben Kost auf seiner Zunge verweilte, zumal ihr Weg nun zu allem Überflusse mitten durch die Grabmäler an den Ausfallstraßen führte. Einem Spalier exerzierender Soldaten gleich erhoben sich links und rechts Mausolea, Columbaria, Tumuli und schlichtere Aediculae, die stumm und doch unheimlich flüsternd vom Ziel ihrer leblosen Fracht kündeten. Aufs Neue verspürte Manius Minor Degout angesichts des bleichen Beines, welches unmittelbar neben seinen Händen aus der Plane ragte und dessen schmutziger großer Zeh beständig drohte, ihn zu touchieren. Obschon jene sinistre Stimmung nicht gerade durch die monotonen Abwehrgebete des Libitinarius gemildert wurden, verspürte der junge Flavius doch Dankbarkeit, da eben jenes die Possibilität bot, dass die Larven sich ihnen dennoch nicht zu nähern vermochten.


    Erst nach geraumer Zeit ließen sie die lange Schlange, welche sich vor der Porta Quirinalis ob der strikten Kontrollen bildete, zurück, während weiterhin die Stätten der Toten sie geleiteten. Hier gleichwohl geschah dem Knaben ein Malheur, als sich sein Schuh, dessen Größe nicht eben seiner Fußlänge adäquat war, in einem Spalt des Pflasters verhakte. Mit einem kurzen Schrei der Überraschung stürzte der junge Flavius vornüber, stieß mit dem Kopf gegen die Kante des Karrens, streifte mit seinem sorgsam durch Schmutz getarnten Antlitz das herausragende Leichenteil und brach endlich gänzlich zusammen. Nun mochte er jene Melange von Furcht, Verdrossenheit, Missfühlen, Ungeneigtheit und Abscheu nicht mehr bei sich zu bewahren, sondern setzte zu einem klagenden, herzerweichenden Weinen an, welches ob der Tatsache, dass seine Lippe derartig hart gegen das Holz geprallt war, dass sie aufgeplatzt und seinen Lebenssaft preisgab, durch reges Ausspeien des Speichel-Blut-Gemisches disturbiert wurde.
    "Vater, ich - kann - nicht - mehr!"
    brachte er unter Weinen und Schniefen hervor, jedwede Achtsamkeit fahren lassend. Keinen Gedanken vermochte er angesichts der kriechenden Kälte, des pochenden Schmerzes und der generell deplorablen, überaus bizarren Gesamtlage an die Gefahr des Aufdeckens ihrer Scharade zu verschwenden!

    Jenes Intermezzo am Tore entging dem Knaben letztlich doch nicht, obschon er weiterhin in völliger Apathie seines Weges wandelte, auf welchem ihm gar der süßliche Geruch des Todes familiär zu erscheinen begann. Der abrupte Halt traf ihn bar jedweder Präparation, weswegen er beinahe mit der Brust gegen das Holz des Wagens gestoßen wäre. Der Dunkelheit der Morgenstunden, verbunden mit der Distanz von den Wachenden zu danken war es, dass weder er diese, noch diese ihn genauer identifizieren konnten. Der Dialog, den der junge Flavius vernahm, war indessen gänzlich suffizient, um ihn aus Furcht erstarren und weitere stumme Tränen über seine Wangen rinnen zu lassen, denn obschon sein Vater ihm nicht die Konsequenzen einer Aufdeckung ihrer Flucht eingeschärft hatte, so bekräftigten die kuriosen Umstände doch hinreichend, dass es tunlichst zu vermeiden war, von einer Schar Soldaten identifiziert und inhaftiert zu werden. Man mochte sie ins Mamertinum transferieren, in welchem bereits Catilina und seine Spießgesellen, deren verbrecherisches Treiben zuletzt im Unterricht thematisiert worden war, den grausigen Tod durch Erdrosseln gefunden hatten. Am Ende würden wahrhaftig sie selbst auf jenem Karren landen, welchen sie nun bewegten, und in die düstere Welt der Larven und Lemuren hinabsteigen.


    Dann endlich, wider jedwedes Erwarten, setzte der Libitinarius das Gefährt neuerlich in Bewegung und zu allem Überfluss offerierte einer der Männer ihm sogar ein Stück harten Brotes, welches er dankbar, doch ohne Worte, ergriff und seinem Munde zuführte, obschon angesichts seines für seine Infantilität doch recht beachtlichen Leibesumfangs eine Auszehrung seines Körpers nicht unmittelbar bevorzustehen schien. Zu sehr von Furcht bewegt, würdigte er den Miles weiters keines Blickes, sondern ergriff mit seinen klammen Fingern das Ende des Karrens, um ein weiteres Schieben zu suggerieren, während seine Zähne die Kost zermalmten.

    Als der Leichenwagen die Porta Quirinalis passierte, hatte der Knabe schon lange den Widerstand gegen das Zähneklappern aufgegeben, dessen Kausalität sowohl in der eisigen Kälte des römischen Winters, gepaart mit jener unfunktionalen, widerwärtigen Kleidung, als auch dem eisigen Grauen, welches von der unheilvollen Fracht, ihrem süßlichen und zugleich unnachahmlich der Gosse entstammenden Odeur evoziert wurde, lag. Keine parentale Order, keine Option auf welches Präsent auch immer und keine Drohung parentalen Unwillens vermochte es, ihn auf diesem Platz zu halten, nur die unsagbare Furcht vor dem Libitinarius und den Larven und Lemuren der Passagiere, welche nur durch die Intonation mystischer Orationen gebannt wurden, ließ ihn sich nicht dazu hinreißen, voller gerechtem Zorn sein Leiden allen Anwesenden zu klagen und anschließend den Rückweg in die Villa Flavia Felix, sein Cubiculum zu seinem geliebten Krokodil Caius, welches er dort vergessen hatte, und unter seine wärmende Decke anzutreten, um sich dort seinem Missfallen ob der desillusionierenden Zumutungen hinzugeben. Doch so setzte er schweigend einen Fuß vor den anderen, während stumme Tränen über seine Wangen liefen, den sorgsam aufgetragenen Schmutz befeuchteten und zugleich seinen Blick über die Ametropie hinaus trübten. Dementsprechend riss er erst die Augen auf, als etwas Kaltes seine tauben Finger berührte, dessen verschwommene Umrisse es als den leblose Zeh eines der Glücklosen identifizierten. Rasch zog Manius Minor seine Hand zurück, versuchte sie an seinem schmutzigen Gewand dem anhaftenden Toten durch Reiben zu entledigen, doch eine Ewigkeit später war ihm selbst der unmittelbare Kontakt zu jener Leiche, welcher regulär bei nahezu jeder Unebenheit des Pflasters auftrat, zur Gewohnheit geworden, der zu entgehen schlicht eine Impossibilität darstellte.


    Seine Gedanken schweiften vielmehr ab in jene heile Welt vor wenigen Tagen, als er des Morgens den Grammaticus aufgesucht, von diesem Belehrungen über Vergilius und Titus Livius, welche ihm lächerlicherweise bereits als unerträgliche Zumutung erschienen waren, erhalten, des Mittags sich am Kohlebecken des Tricliniums gewärmt, während man ihm eine Zwischenmahlzeit bereitet, sich zu späterer Stunde dem Spiel und einem weiteren Mahl hingegeben und endlich des Abends müde und zufrieden in die behagliche Bettstatt begeben hatte, nur um sich dann der himmelschreienden Diskrepanz zu seinem aktuellen Status zu vergegenwärtigen, was neuerliche Tränen evozierte. So gänzlich von sich selbst okkupiert entgingen ihm gar die Verlangsamung des Tempos sowie die Patrouille der Praetorianer.

    Deplorablerweise versagte Manius Maior Manius Minor weitergehende Informationen, sondern wandte sich jenem Luka zu, welcher, wie der Knabe wusste, bis vor einiger Zeit der persönliche Sklave von Onkel Flaccus, nun aber eine freier Mann in Diensten des Hauses Flavia und dennoch augenscheinlich auch in jener dunklen Stunde ihnen beizustehen gewillt war. Die Tension seines Vaters war überaus deutlich vernehmbar, weshalb er die väterliche Affirmation postwendend in die Tat umsetzte und die Äußerung weiterer Fragen unterließ.
    Diesem Vorsatz blieb er gar weiter verpflichtet, als ein neuerlicher Fremder mit einem Karren erschien, welcher offenbar nun ihnen den Weg aus der Urbs bahnen sollte. Schon erstellte der junge Flavius die Hypothese, dass nun er gleich seinen Geschwistern einen Platz auf dem Wagen einzunehmen genötigt werden würde und begann bereits zu spintisieren, ob er dieser Order Folge leisten wollte, als sich indessen ein völliger Wandel der Situation darbot.


    Dem väterlichen Willen gemäß sollte er die Fackel des schauerlichen Schemen führen, was in ihm Remineszenzien an heiterere Gelegenheiten weckte, als er die Hochzeitsfackel vor dem Consular Tiberius und seiner Braut hergetragen hatte, doch rasch zerbrach dieser Gedankenfetzen einem Tonbecher gleich, als man ihn zum Schieben einteilte. Bar jedweden Verständnisses blickte er auf den Karren, welchen zu bewegen man ihm, einem Sprössling aus edelstem Hause, designiert zum Cursus Honorum und höchsten Ehren und dessen Hände nie ermattenderes als das Tragen eines Opfergerätes während einer Prozession getan hatten, auftrug, gemeinsam mit seinem geliebten Vater, dem Praetorier und Pontifex, dessen jedwede Handarbeit gänzlich unwürdig war. Aufbegehren erschien dennoch vergebens, denn mit gänzlich unfamiliärer Bestimmtheit schob der Vater seinen Sohn an den Platz, welcher ihm indessen nur eine neuerliche Schauerlichkeit darbot, vor deren Identifikation den Knaben bisher ausschließlich die sonst verabscheute Fehlsichtigkeit bewahrt hatte: Vor seinen Augen nahmen die Umrisse eines bleichen, schmutzigen und zweifelsohne leblosen Fußes Gestalt an. Pures Entsetzen schien sich einer Würgeschlange gleich um seinen Leib zu schlingen, während er die Situation erfasste und ihm lediglich eine mechanische Bewegung seiner Hand in den Mund die Möglichkeit offerierte, einen furchtsamen Aufschrei zu unterdrücken. Erst ein Stoß, dessen Urheber er nicht zu identifizieren vermochte, riss ihn aus seiner Thanatose, woraufhin der Karren sich in Bewegung setzte und eine Stimme ihn mit den rüden Worten
    "Schlag keine Wurzeln, Junge! Schieb!"
    mahnte, tunlichst seine Hände an das hintere Ende des Gefährts zu legen, wobei er selbstredend peinlichst bemüht war, die erkalteten Körper mit keinem Glied zu berühren.

    Nachdem seine geliebte Mutter sich mit einem ermunternden Lächeln herzerwärmender Zuneigung abgewandt hatte, wurde sich der Knabe gewahr, dass auch sein Onkel Flaccus sich hinter jener unkenntlichen, in ebenso großem Maße wie er selbst und auch sein Vater detestierlichen Gestalt verbarg, die in dem engen Gang hinter ihnen lehnte.


    Doch fand er keine Zeit, dieses neuerliche Faktum in das Theoriegebäude jener verwunderlichen Inzidenzien, das zu errichten er vergeblich versuchte, zu integrieren, denn schon wandten sich, oder vielmehr lediglich seine Mutter, während seine Geschwister in ihrer kuriosen Wiege aufgehoben wurden, zum Gehen, wobei sie ihm zum Abschied ein sanftes Lächeln schenkte, das sie trotz ihrer Aufmachung inkonfundabel machte. Nunmehr vermochte der verbliebene junge Flavius seine Tränen nicht einmal mehr zu zügeln und sie rannen ohne Schranken, bis Manius Maior sie hinfortwischte und endlich zu einer Explikation ansetzte.


    Mitnichten konnte diese indessen die Konfusion im Geiste des Knaben vermindern, denn wie mochte der Tod des Kaisers im Konnex mit einer Ausgangssperre, die augenscheinlich auch der Grund war, warum der junge Flavius in den vergangenen Tagen den Grammaticus nicht frequentieren hatte müssen, kausal mit einem irgendwie gearteten Geheimauftrag, an dem gar ein Jüngling unverhofft partizipierte, und schließlich einer derartig ordinären Aufmachung verbunden sein?
    "Aber wohin gehen wir? Und wohin geht Mama?"
    begehrte sein infantiler Verstand nun endlich eine Replik, die ihm all dies plausibe zul machen vermochte.

    Dieser Morgen war die Klimax einer sich stetig prekärer gestaltender Unrast im Hause Flavia gewesen, deren Veranlassung sich dem älteren der flavischen Knaben ebenso entzog wie dem jüngeren, was bei jenem einen gewissen Unwillen hervorgerufen hatte. Anstelle, dass Manius Maior seinen Erstgeborenen, der nach eigenem Darfürhalten durchaus kein kleiner Knabe mehr war, obschon sein Alter, sein noch immer recht infantiler Habitus und vor allem seine Körpergröße, die deutlich unterhalb des Durchschnittes seiner Alterskohorte lag, dies durchaus nahelegten, eingeweiht hatte, war er kaum in Erscheinung getreten, sondern sich vielmehr stets in seinem Officium aufgehalten, um mit verschiedenen Verwandten zu sprechen, und selbst, wenn er dieses Refugium verließ, fahrig und okkupiert zu wirken.


    Dazu war indessen an diesem Morgen ein höchst abnormes Verhalten seitens Ammen hinzugekommen, das ihn überaus indignierte. Nicht nur, dass man ihn, soweit er dies beurteilen konnte, inmitten der Nacht aus dem Schlafe gerissen hatte, man hatte ihm überdies anstelle der gewohnten sauberen und behaglichen Tunica ein überaus ungustöses Kleidungsstück zweifelhafter Herkunft, dessen Machart mehr Analogien mit den Getreidesäcken in der Cucina des Hauses denn mit irgendetwas in der Kleidertruhe des Knaben besaß, dargeboten. Nicht geringe Disputationen waren erfolgt, ehe die eindringliche Mahnung, es handle sich um den ausdrücklichen Wunsch seines Vaters, den dieser klarifizieren würde, letztlich Wirkung gezeigt und der junge Flavius das abstoßende Gewand angelegt hatte.


    Voller Groll auf diesen geradezu kabalistisch wirkenden Entschluss war er endlich dem Weg seines Paedagogus gefolgt, durch enge Gänge, die er zuletzt zu besonders adventurophilen Zeiten aufgesucht hatte, welche Jahre zurücklagen. Das bizarre Schauspiel, welches sich ihm an der kleinen Porta aber bot, ließ jedweden Zorn einer Konfusion weichen, welche ob der Tatsache, dass man seine Geschwister in Weidenkörbe legte und seine gesamte Familie mit similer, pöbelartiger Kleidung investiert hatte, durchaus adäquat schien. Er wagte nicht, auch nur einen Laut von sich zu geben während der parentalen Disgression. Als letztlich die Order erging, sich seinerseits von seiner geliebten Mutter zu trennen, da vermochte er keine Träne zurückzuhalten, zumal ihn Atmosphäre jener Situation eine längere Dauer der Separation nahelegte.


    "Mutter, vale bene!"
    äußerte der Knabe endlich artig, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, der Antonia einen Kuss auf die Wange zu geben, wie es sich für einen Sohn geziemte. Zugleich brachen in ihm abertausende von Vermutungen auf, welchen Anlass jene mysteriösen Handlungen, deren er hier teilhaftig zu werden schien, hatten und zu welchem Zeitpunkt oder ob er überhaupt seine Familie jemals wiedersehen mochte. Seine Konklusionen zu verifizieren wagte er indessen vorerst nicht, da dies zu einem späteren Zeitpunkt durch Manius Maior erfolgen mochte und er die Szenerie nicht durch prätentiöse Interjektionen zu disturbieren wünschte.

    Zitat

    Original von Iunia Axilla
    “Claudia, es ist mir eine große Ehre, dich kennen zu lernen und auf dieser Feier als Gast begrüßen zu dürfen. Minimus, es ist mir auch eine Freude, einen so aufrechten jungen Mann kennen zu lernen.“ Axilla tat sich schwer im Abschätzen von Altersklassen, aber der Junge musste in etwa in dem Alter sein, in dem ihr Vater gestorben war. Vielleicht etwas älter. Bald ein Mann.
    Axilla wandte sich wieder Gracchus zu, mit etwas betrübtem Lächeln. Sie mühte sich, fröhlich und unbeschwert zu wirken, aber manchmal funktionierte es eben besser als andere Male. “Ich freue mich wirklich sehr, dass du gekommen bist. Auch wenn ich mir bei einigen Dingen sehr wünschen würde, sie wären weit weniger real.“ Das letztere flüsterte sie leise genug, dass es nur der Flavier, seine Familie und wohl noch Imperiosus mitbekam. Aber so ganz konnte sie nicht aus ihrer Haut, und als sie kurz danach – obwohl sie versuchte, es nicht zu tun – kurz mit den Augen in Richtung des Vesculariers zuckte, war wohl klar, welchen Teil der Veranstaltung sie meinte. Auch wenn es wohl von einer guten Gastgeberin anders erwartet wurde und Axilla sich doch auch dafür schämte.


    Mitnichten gereichte es dem jungen Flavius zur Freude, seine Eltern zu sämtlichen gesellschaftlichen Ereignissen Roms zu eskortieren, selbst wenn ihm dies die Option bot, ohne die Konkurrenz seiner infantilen, aufmerksamkeitsheischenden Geschwister sich der parentalen Nähe zu erfreuen, welche er in diesem Falle doch ebenfalls mit anderen zu teilen hatte. Dennoch folgte er wie gewöhnlich dem Pfad, der ihm bestimmt war, und trat ein wenig beklommen vor das Brautpaar, das ihm indessen gänzlich unbekannt erschien, selbst wenn man ihn mit seinem Kosenamen titulierte, was auf eine gewisse Bindung der Braut an seine Familie, augenscheinlich seinen Vater, implizierte. Obschon ihm auch dies mitnichten behagte, da er seines Erachtens nach faktisch jenen Titel an seinen kleinen Bruder abgetreten hatte und dieser in seinen Augen auf inopportune Art und Weise seine mangelhafte Adoleszenz in den Vordergrund stellte, welche doch mit dreizehn Jahren der Heilung durchaus nahestanden, erfreute ihn doch die verbale Liebkosung seines Charakters, sodass er der Iunia ein verschämtes Lächeln präsentierte, ehe er neuerlich zu Boden blickte, um weiteren Gesprächen zu entgehen.

    Die Novität der Ermordung von Onkel Flavius hatte die Hausgemeinschaft der Flavii auf Höchste disturbiert und auch dem jungen Flavius, der mit Behagen der Freundlichkeit und dem Humor seines Cognaten gedachte, der ihm zuletzt in die Untiefen der Jurisprudenz eingeführt hatte. Nun lag sein erblasster Leib regungslos auf dem Feretrum, sein Antlitz auf seltsame Weise entfremdet und seines stets freundlichen Lächelns beraubt, gehüllt das Staatskleid als Leichenhemd. Durchaus gereichte dem Knaben dieser Umstand zur Trauer und sein rundliches Gesicht spiegelte jene Betrübnis wider, die seinen kleinen Geschwistern noch gänzlich fern lag.


    Besondere Bestürzung evozierte schlussendlich aber der Gefühlsausbruch, dem sich Gracchus Maior hingab und dessen Singularität Gracchus Minor neuerlich die Gravität jenes Verlustes vergegenwärtigte, sodass er letztlich geradezu aus Kommiseration seinerseits eine Träne vergoss und sich Schutz heischend ebenfalls näher zu seiner Mutter gesellte.

    Obschon der die patriale Liebkosung in privato durchaus zu schätzen wusste, was ihm coram publico möglicherweise inzwischen nicht mehr behagt hätte, da derartige Handlungen doch seinen Status als 'großen Jungen' infrage zu stellen geneigt waren, war diese doch nicht geeignet, ihn auf sanftere Weise in Morpheus' Reich hinabgleiten zu lassen, da nun all jene Gedanken über ihn hereinbrachen, die er während der Prägnanz seiner Mutter stets aufgeschoben hatte in Erwartung, diese möge neuerlich einem Mädchen das Leben schenken. Stets hatte man seine Bedeutung als singulärer Spross der Familia betont, seit der Geburt Flammas bisweilen ihm zugute gehalten, dass er doch zumindest der singuläre männliche Erbe der Flavia Graccha war, womit es nun augenscheinlich ein Ende haben mochte. Zwar oblag ihm, wie Manius Maior gesagt hatte, die Sorge seines Bruders, was auf subtile Weise anzudeuten schien, dass er mitnichten eine Bedrohung seiner Stellung innerhalb des Familienverbandes darstellte, ebensowenig wie ein Klient seinen Patron infrage stellen mochte, doch ließ die weiterhin bestehende Titulatur als 'Minimus' doch die Interpretation offen, die parentale Wertschätzung bezöge sich primär auf den Jüngsten der Familie, während seine Qualitäten, die er in den letzten Jahren erworben hatte, keinerlei Ansehen genossen oder gar von seinen Eltern gänzlich nicht zur Kenntnis gelangt waren.


    Mit all jenen düsteren Gedanken also lag der Knabe nun wach auf seinem Bett, inspizierte die kunstvoll kassettierte Decke seiner Camera und glitt letzten Ende doch aufs Neuerliche ab die die Welt der Träume...

    Das Iudicium offerierte dem jungen Flavius neuerlich eine ihm gänzlich fernliegende Welt der Ökonomie und Agrikultur, welche indessen leidlich auf systematische Weise behandelt, denn vielmehr auf exemplarische und eklektische Weise bemüht wurde, womit sie nicht viel mehr denn Konfusion evozierte, möglicherweise ausgenommen jenem Faktum, dass es augenscheinlich von größter Opportunität war, stetig Informationen über den ökonomischen Status seiner Besitzungen vorzuhalten und für die Einhaltung der Leges auf diesen Sorge zu tragen, um derartig enervierende Prozessualien prophylaktisch zu vermeiden.


    Abschließend verfügte der Iudex endlich doch das Ende der Verhandlungen, was Manius Minor zu größter Erleichterung gereichte, mochte er nun doch wieder zurückkehren in die ihm vertraute Welt des trauten Heimes, wo er seinen Wünschen des Spieles weitgehend frei nachgeben zu können gewohnt war.

    In Erstaunen versetzte es den Knaben, als er die Wende im väterlichen Gespräch vernahm, welche unmissverständlich offenlegte, dass eben jener sein geliebter Vater augenscheinlich den Plan gefasst hatte, das höchste Amt im Staate anzustreben. Auch einem Jüngling erschloss sich die Tragweite eines derartigen Projektes, das die Flavia Gens aufs Neuerliche in den höchsten Kreise zu bewähren geeignet war und zugleich die Ehre seiner Nachkommen, zu denen vornehmlich Manius Minor sich selbst zu rechnen hatte, ihrerseits zu höchster Ehre gereichte. Ehe es indessen sich ermöglichte, weitere Details zum Stand der väterlichen Planungen zu erfahren, lenkten beide Männer auf das Gespräch der Frauen ein, dessen Inhalt ebenfalls von Interesse schien, denn auch die Perspektive weiterer Geschwister, welche ihm als Erstgeborenen weitere parentale Aufmerksamkeit zu rauben drohten, spielte in seinem kleinen Mikrokosmos eine bedeutende Rolle. Um aber nicht des unschicklichen Lauschens bezichtigt zu werden, welches er noch immer nicht von der andererseits expektierten interessierten Gesprächsbeteiligung zu divergieren vermochte, griff er neuerlich nach den köstlichen Speisen und verleibte sich diese, wenn auch unter Berücksichtigung der seinerseits bereits habitualisierten Sitten bei Tische, obschon mit Ausnahme der möglicherweise anormen Menge an mit einem Male verschlungenen Deliziositäten, ein, während sein infantiles Ohr einer parentalen Replik harrte.

    Delektablerweise trug Manius Maior rasch dafür Sorge, dass die unerquicklichen Ausdünstungen des jüngsten Flavius fürderhin nicht mehr die bereits gereifteren flavischen Nasen inkommodierten. Nicht erging Manius Minor dabei, dass sein Vater größte Liebe gegenüber dem neuen Bruder verspürte, der er durch einen unvertraut scharfen Tonfall Ausdruck verlieh. Dann indessen wandelte sich seine Timbre schlagartig, als er scheinbar beschwichtigend, die weiterhin existente Gültigkeit des Kosenamens konfirmierte, dessen Abtritt der Knabe so sehnlichst erwartet hatte. Nun schien es, als würde er auf ewig mit jenem Diminutiv leben müssen, derartig tituliert von Eltern, Cognaten und Freunden der Familie, gar eine entsprechende Nennung durch seine eigenen, selbstredend jüngeren Geschwister schien durch das Einschleifen des 'Kleinsten' possibel. Entsprechend seiner routinierten Verhaltensweise ließ er all jene Sorgen allerdings im schier unendlichen Raum seines Innersten versinken, lediglich ein betretenes Schweigen, gepaart mit einer devoten Mimik an die Oberfläche dringen lassend, welche man im Halbdunkel des grauenden Morgens ohnehin wohl kaum auszumachen vermochte.
    "Gern!"
    bestätigte er an dessen Stelle die generöse Offerte seines Vaters, welche durchaus geeignet war, seine Indignation ob der Niederlage in Maßen zu erhellen, da es ihm stets überaus behagte, an der Seite seines Vaters die Obligationen patriarchischer Hausherrschaft zu erfüllen oder deren Erfüllung zumindest zu attendieren, was zudem oft auch eben jenem Hausherrn zur Freude gereichte.

    Durchaus vermochten die beschwichtigenden Worte des Vaters die infantile Exasperation zu lindern, doch verblieb ein durchaus beachtlicher Rest von ihr und bedrückte das Gemüt des Knaben. Vielmehr erschien die Expertise des Medicus ein Grund zur Erleichterung zu sein, denn die gänzliche Erblindung hätte wohl jedweder Possibilität zum Erwerben von Ruhm für das Haus Flavia den Garaus gemacht. Dass auch jener unsägliche Nero, den auch Artaxias lediglich mit gesenkter Stimme erwähnte und dessen Extravaganz trotz der Damnatio Memoriae geradezu sprichwörtlich war, war für den jungen Flavius zwar einerseits eine erfreuliche Novität, die ihm offenbarte, dass man selbst die Bürde des Kaisertums zu tragen vermochte, wenn man an seinem Gebrechen laborierte, doch erweckte es zugleich die Furcht, in eben jene Insanität abzugleiten, welche diesen Princeps berühmt gemacht hatte.


    Dennoch beschloss er, diese Befürchtungen vorerst nicht zu äußern, sondern blickte auf den leicht verschwommenen Boden, wo er mit zusammengekniffenen Augen und größerer Mühsal doch zumindest das Muster zu erkennen befähigt war.

    Während die Eltern sich den Gesprächen mit den Gästen hingaben, wandte der junge Flavius sich den Speisen des ersten Ganges zu. Dabei war es für ihn von großer Bedeutung, diese bereits beim Passieren der Tür zu fixieren, um die Übergänge zwischen Saucen, Fisch- und Fleischteilen noch erfassen zu können und somit einen Eindruck von deren Beschaffenheit zu gewinnen. Wenn die Sklaven die Platten schließlich auf dem Tisch vor ihm platzierten, so musste Manius Minor die Ränder der mundgerechten Happen teilweise erst ertasten, ehe er sie genau in die Mitte jener leicht verschwommenen Töpfchen tauchte, die zusätzliche Saucen offerierten.


    Mit halbem Ohr hatte er indessen aber auch einen gewissen Anteil an den parentalen Gesprächen, wobei ihm aufs Neue schmerzlich bewusst wurde, dass seit der Geburt Flammas und noch vielmehr der von Titus das Interesse von Gästen und Familiaren sich weitgehend von seiner Person ab- und seinen Geschwistern zugewandt hatte. Vor allem das gänzliche Fehlen einer Begrüßung durch den Consular und vor allem seine Frau, die ihn nicht einmal einer Nachfrage bei seiner Mutter würdigte, rief ihm dies ins Bewusstsein.


    Anstatt dementsprechend seine Aufmerksamkeit auf infantile Art und Weise einzufordern, wie er es bisweilen im Kreise der Familie tat, indem er beispielsweise einen Teller oder einen Becher fallen ließ, lautstark von seinen Erlebnissen berichtete oder sich schlichtweg in elterliche Zwiegespräche einmischte, beschloss er heute derartiges Fehlverhalten zu vermeiden, da ihm die Präsenz des alten Consulars durchaus einen gewissen Respekt einflößte. Zum Trost wandte er sich den Vorspeisen zu, deren Geschmack den inneren Schmerz der eigenen Marginalität zumindest in einem gewissen Maße zu lindern vermochte.