Sabinus – wenn das Sabinus war; Marcellus hatte mit seinem Misstrauen Romana etwas angesteckt – hatte, seit er ein Kind war, ordentlich zugelegt. Es war ein Zeichen von Genusssucht, welches einem Römer nicht gut zu Gesichte stand. Ein wahrer Sohn der besten Stadt der Welt hatte gewisse Kriterien zu erfüllen in Romanas Augen; sie mochten unerfüllbar sein von allen Männern außer ihrem Vater, und gerade deshalb war sie froh, dass es ihr als Vestalin verboten war, zu heiraten. Wäre sie nicht ins Atrium Vestae gekommen, so hätte ihr Vater sie an einem Mann verheiratet, den sie ziemlich sicher als ihrer nicht würdig befunden hätte. Denn ja, Romana war insofern typische Claudierin insofern als dass sie durchaus eingebildet war. So wie der Römer über den Barbaren stand, stand der Claudier über dem typischen Römer. Nun, dies galt nun auch für Sabinus, der sich nun Marcellus gegenüber vorstellte, und seinen Fehler berichtigte. Nicht aus Antiochia war er, sondern aus Alexandria, nicht dass Romana es für vorstellbar befand dass zwischen diesen zwei Orten sonderlich viel Unterschied bestand, beides griechische Außenposten in einem götterverlassenen Land im Osten.
Sabinus wandte sich an sie, und er nannte ihren Namen. Natürlich war das kein Beweis – immerhin war sie als Vestalin so etwas wie eine öffentliche Figur - aber etwas in der Art und Weise, wie er sie ansprach, zerstreute ihre Bedenken darüber, dass der Mann nicht ihr Cousin war. Irgendwie erinnerte er Romana an Tante Macerina. Vielleicht seine Augenbrauen und sein Mund, vielleicht seine patrizische Art, sein so offensichtlich teurer Geschmack. Ihrem weiblichen Auge entging nicht, was Marcellus vielleicht nicht unbedingt auffiel; die besonders exquisite Qualität des Gürtels, eine besonders raffinierte Falte in den Gewändern, der Hang dazu mit fortlaufendem Alter in die Breite zu gehen. Romanas Lächeln wurde etwas ehrlicher als vorher. „Cousin Sabinus. Das letzte Mal, dass ich dich gesehen habe, warst du noch ein Kind. Willkommen zurück zuhause“, machte sie mit ihrer ihr eigenen rauchigen Stimme, die um einiges älter klang als Anfang 30.
Marcellus übernahm nun das Wort. Er erklärte in kurzen bündigen Worten, was vorgefallen war, und Romana nickte nur grave. Ihren Augen musste der tief sitzende Schmerz über den Tod ihres Vaters anzusehen sein. Sabinus konnte sich vielleicht erinnern, dass Romana schon als kleines Mädchen furchtbar an ihrem Vater gehangen hatte. Wie sehr hatte ihre Liebe zu ihrem Vater ihr Leben gezeichnet! Ihr freiwilliger Eintritt bei den Vestalinnen war nicht bloß ihrer religiösen Überzeugung geschuldet, sondern auch ihrem Willen, ihrem Vater eine Vorzeigetochter zu sein. Eine Tochter, die in öffentlichen Angelegenheiten – wo Frauen üblicherweise kaum brillieren konnten – den Namen der Gens Claudia hochhalten konnte. Der Verlust war so massiv, dass Romana sich nur mit Not davon abhalten konnte, den ganzen Tag darüber nachzudenken.
Marcellus hatte es freilich nicht leicht, dachte sie sich. Sie wusste zumindest, wo ihr Vater war. Marcellus wusste das nicht. Galeo, dachte sie sich, wo bist du! Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ihr unverwüstlicher Bruder tot war. Aber eine andere Möglichkeit lag kaum auf der Hand.
Ihr Blick wanderte noch einmal kurz zur Barbarin, mit einem misstrauischen Blick – würde die Germanin jählings zur Berserkerin mutieren? – bevor sie wieder zu Sabinus schaute, mit einem bejahenden Blick. „Es tut mir Leid, dass wir dich nicht unteren froheren Umständen begrüßen können“, fügte sie Marcellus‘ Worten hinzu. „Doch dein Besuch verschafft uns Freude in diesen schwierigen Zeiten. Sag, Cousin, was hat dich nach Rom gezogen?“ Wer es das Heimweh? Sie würde es ihm nicht verübeln können, denn in Rom war es am Besten.