Beiträge von Germanica Laevina

    Laevina ärgerte sich maßlos über sich selbst. Warum war sie so nachlässig gewesen und hatte vor ihrem Inspektionsgan nicht kontrolliert, wo sich diese Elissa aufhielt. Die hatte ja schließlich schon unter Beweis gestellt, dass sie auf ihre Herrin aufpasste wie ein Wachhund. Kein Wunder, nach dem, was Laevina da gerade gelesen hatte. Unfassbar ein derartiges Lotterleben, und das in ihrem Haus! Die Tatsache, dass sie selbst gerade mal seit ein paar Tagen hier lebte, spielte in ihren Überlegungen absolut keine Rolle.


    Mit der Sklavin allein wäre sie vermutlich noch fertig geworden, aber jetzt stand auch noch die wütende Calvena im Raum und befragte sie in einem höchst unangebrachten Tonfall. Laevina spürte zwar, wie Ärger in ihr hochstieg, entschied sich aber dennoch zunächst für die Rolle der verfolgten Unschuld.


    "Nun mein liebes Kind" sagte sie sanft und als wäre sie die Ruhe selbst. "Ich war der festen Überzeugung, dies sei eins der Gästezimmer. Entweder habe ich dich falsch verstanden oder meine Augen sind nicht mehr die besten. Ich werde mich wohl in der Tür geirrt haben.."

    Keine Bilderbuchkarriere? Der Witz war wirklich gut, Laevina hätte gar nicht vermutet, dass Avarus über einen derartigen Humor verfügte.
    Dieses Wort im Zusammenhang mit ihrem ersten Mann zu hören, war selbst für ihre Selbstbeherrschung zuviel und ein ungeplantes Kichern entfuhr ihr, dass sie mit äusserster Mühe noch in eine Art Röcheln verwandeln konnte.
    Vindex, diese alte Schlaftablette, hatte es ja gerade mal mit Mühe geschafft seinen Hintern morgens aus dem Bett zu heben, für mehr Initiative hatte es für den restlichen Tag dann meistens nicht mehr gereicht. Eigentlich erstaunlich, dass sie von diesem Mann sogar zwei Kinder hatte, dabei konnte sie sich selbst an deren Entstehung nicht mehr erinnern. Ja, der gute Vindex hatte der Welt wahrlich seinen Stempel aufgedrückt....


    Als sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte, bemühte sie sich wieder um einen bescheidenen und dankbaren Blick und sagte dann


    "Ja, esst nur, ihr seid ja alle noch jung, da braucht der Körper seine Nahrung"


    Dann sprach Sedulus und bei dem Wort "Wahlen" stellten sich sofort Laevinas Antennen auf. Endlich kamen mal spannende Themen zur Sprache....


    "Oh, lasst euch bitte von mir nicht bei eurem Gespräch stören. Ich bin natürlich nur eine alte Frau und habe von diesen Dingen wenig Ahnung, aber ich würde trotzdem sehr gern etwas darüber erfahren."

    Seit ihrer Ankunft in Rom waren mittlerweile einige Tage vergangen und Laevina beschloss, dass es nun endlich an der Zeit war, im Haus ein wenig nach dem Rechten zu sehen, zumal ansonsten die Gefahr bestand, dass sie die ganzen Informationen aus der schon eine Weile zurückliegenden Hausführung wieder vergessen würde. Ihre Großnichte Calvena hatte vor einigen Minuten das Haus verlassen und würde ihren Plänen nach auch so schnell nicht wiederkommen, und so huschte Laevina wie ein Wiesel die Treppe ins obere Stockwerk hinauf und blieb am oberen Absatz stehen.
    Eigentlich hatte sie vorgehabt, ihren Inspektionsgang im Keller zu beginnen und sich nach und nach und mit der gebotenen Gründlichkeit durch alle Stockwerke nach oben vorzuarbeiten. Aber schließlich war gerade das erste Vögelchen ausgeflogen und hatte sein Nest verlassen zurückgelassen, eine solche Gelegenheit konnte sie sich unmöglich entgehen lassen...
    Ausserdem hatte Calvena ihr ja ausdrücklich erlaubt, sich im Haus frei zu bewegen, da hatte sie sicher auch nichts dagegen, wenn die liebe alte Großtante einen unschuldigen Blick in ihr Zimmer warf. Vermutlich würde es ohnehin totlangweilig sein, mit dem üblichen Krimskrams, den junge Mädchen gerne horteten.


    Leise und vorsichtig, um das Kind nebenan nicht aufzuwecken (schließlich war ein schreiendes Kind das letzte was sie auf ihrer kleinen Mission gerade gebrauchen konnte), öffnete Laevina die Tür zu Calvenas Räumlichkeiten, kontrollierte schnell, dass sich wirklich niemand darin befand und glitt dann schnell hinein.

    Offenbar befand sie sich in einer Art Aufenthaltsraum mit zwei Korbstühlen und einer Ansammlung von Musikinstrumenten.
    Siehe da, das Kind schien künstlerische Ambitionen zu haben. Hoffentlich besaß es auch ein Mindestmaß an Talent, denn Laevina erinnerte sich immer noch mit Grausen an eine entfernte Verwandte die häufig und voller Inbrunst auf jeder Familienfeier gesungen und die Lyra misshandelt und dabei geklungen hatte, wie eine Horde wilder Barbaren beim Sturmangriff...


    Da es in diesem Raum offenbar nichts weiter spannendes zu entdecken gab, ging Laevina in den nächsten und fand sich im Schlafzimmer wieder. Ein wenig unordentlich sah es hier ja schon aus, sie würde in absehbarer Zeit mal mit ihrer Nichte ein Gespräch über Reinlichkeit und Ordnung führen müssen. Der Schminktisch war uninteressant, und auch die Kommode und der Kleiderschrank gaben nichts besonderes her. Nichts, was man nicht auch bei jedem anderen jungen Mädchen der Gesellschaft gefunden hätte... wie langweilig....
    Laevina gähnte und entschied, sich jetzt doch erstmal dem Frühstück zu widmen. Sie war schon halb aus der Tür heraus, als ihr Blick auf die blaue Vase fiel, die auf Calvenas Nachttisch stand. Ein aussergewöhnlich hübsches Exemplar, dachte sie und hob die Vase hoch, um die feine rote Musterung näher betrachten zu können. Aber was war das denn? Unter der Vase lag etwas, ein Brief vielleicht?
    Schnell schnappte sich Laevina das Papier und begann zu lesen. Mit jeder Zeile, die sie voran kam stieg ihre Augenbraue ein Stückchen höher in die Luft.


    Ganz offensichtlich war sie gerade noch rechtzeitig gekommen...

    Was, schon wieder der Cultus Deorum? Von dem hatte ihr doch gestern auch ihre Enkelin Serrana etwas vorgeschwatzt, als sie noch hatte schwatzen können... Was war denn nur mit den jungenFrauen von heute los, dass sie in Scharen in die Tempel rannten? Auf eine derartige Idee wäre Laevina vor 40 Jahren nie gekommen. Was konnte man den da schon groß gewinnen? Vertrockneten alten Männern beim murmeln ihrer Gebete zuhören, während sich draussen das wahre Leben abspielte.... Aber nun ja, wenn es den Kindern Spaß machte....und immerhin war es ja ein ehrenhafter Beruf ohne größere Gefahren.


    "Nun, das ist eine sehr ehrenvolle Entscheidung und ich hoffe doch, dass du deine alte Großtante ab und zu mal in deine Gebete einschließen wirst." sagte sie salbungsvoll und mit mildem Lächeln.


    Jetzt begann die Hausführung und Laevina war sofort aufnahmebereit.
    Dummerweise hatte sie ihren Gehstock in ihren Räumlichkeiten vergessen, der ihr immer hervorragend bei der Darstellung der zerbrechlichen alten Dame half. So musste sie denn zu anderen darstellerischen Mitteln greifen, ging deutlich langsamer als sie eigentlich konnte, seufzte dann und wann ein wenig und speicherte indessen alle Informationen und Wegbeschreibungen ab, die sie aus Calvenas Beschreibungen herausfiltern konnte. Natürlich waren nicht alle Räumlichkeiten gleichermaßen interessant, aber sie nickte natürlich bei jedem Thema höflich mit dem Kopf. Wer brauchte schon eine Bibliotheca? Dieser Raum war für Laevina ohnehin ein rotes Tuch, denn ihr verstorbener Mann hatte sich so manchen Tag darin verbarrikadiert. Auch ihre Enkelin hatte derartige Tendenzen gezeigt, aber die hatte sie gnadenlos und wenn nötig an den Haaren herausgezerrt, wenn es ihrer Meinung nach wichtigere Dinge zu tun gab, und das war ziemlich häufig der Fall gewesen.


    Mit einer gewissen Genugtuung vernahm Laevina die Aufforderung, sich im Haus frei bewegen zu können. Bitte sehr, dem würde sie gern nachkommen...


    Als Calvena sich schließlich von ihr verabschiedete, hielt sie ihr bereitwillig die Wange zum Abschiedskuss hin und zupfte dann automatisch eine schiefliegende Falte an deren Kleid zurecht. Schließlich sollte das Kind ja einen guten Eindruck beim Pontifex machen. Aber der war vermutlich eh ein aufgeschwemmter alter Sack, der sich glücklich schätzen konnte, wenn er in seinem Alter noch
    ein hübsches junges Mädchen zu sehen bekam.
    Die Aussicht auf ein leckeres Frühstück war ausgesprochen reizvoll, aber Laevina beschloss, einen erneuten kleinen Rundgang vorzuschieben sobald Calvena ausser Sichtweite war.

    Laevina hatte gar nicht damit gerechnet, zu dieser frühen Stunde auf ein anderes Familienmitglied zu treffen und registrierte mit einer gewissen Befriedigung, dass ihre Großnichte bereits tadellos gekleidet und frisiert war. Vielleicht hatte sie der erste Eindruck an ihrem Ankunftstag doch getrogen...


    "Ja, vielen Dank" antwortete sie milde lächelnd. "Wenn du jetzt etwas Zeit für mich erübrigen könntest, würdest du mir eine große Freude machen." Zwar wurde es im Haus erst langsam hell, aber wie hieß es doch so schön: 'Der frühe Vogel fängt den Wurm' dachte Laevina vergnügt und lächelte in sich hinein.


    Calvenas letzte Bemerkung weckte selbstverständlich ihre Neugier.


    "Soso....zum Pontifex willst du....dürfte ich fragen warum?"

    Es war noch relativ früh am Morgen und Laevina hatte sich erst vor kurzem gut gelaunt und bestens erholt von ihrem Bett erhoben und angekleidet. Im Haus schienen noch die meisten zu schlafen, daher nutzte sie die günstige Gelegenheit sich noch einmal die nette Einrichtung im Atrium etwas genauer anzuschauen. Liebend gern wäre sie auch schon zu einem ersten Inspektionsgang durch den Rest des Hauses aufgebrochen, aber noch hatte ihre Nichte Calvena ihr die Casa und die einzelnen Räumlichkeiten nicht gezeigt.
    Aus diesem Grund zügelte sie ihre Neugier noch ein wenig, schließlich würde sie sich wesentlich besser orientieren können, wenn sie erstmal wusste, wer oder was sich hinter welcher Tür befand. Und natürlich vor allem, wer sich zu welchem Zeitpunkt nicht hinter seiner Tür befand, so dass sie die entsprechenden Räumlichkeiten auch ungestört ein wenig inspizieren konnte...


    Aber egal, in der Zwischenzeit konnte sie sich ja genauso gut am Anblick des luxuriösen Atriums und all seiner netten kleinen Details erfreuen...


    Ihr erster Blick glitt sofort wieder zu der schönen Bodenvase, die ihr schon am Tag ihrer Ankunft aufgefallen war und ihre Miene erhellte sich sofort. Für Vasen hatte sie definitiv eine Schwäche, den Göttern sei Dank hatte Avarus ihre Räumlichkeiten auch mit dem einen oder anderen schönen Exemplar ausgestattet.
    Als nächstes fiel ihr ein aus Marmor gefertigter Diskuswerfer in Originalgröße auf, der gerade zum Wurf ausholte und ihr sein makelloses Hinterteil entgegenstreckte. Laevina fuhr erfreut mit der Hand über den leuchtenden Po, wobei sie das kostbare Material deutlich mehr interessierte als das Motiv und stutzte dann. Was war das denn? Staub???? Das konnte doch wohl nicht wahr sein...


    Das hiesige Hauspersonal schien sich ja einen schönen Lenz zu machen.... Aber glücklicherweise war sie ja jetzt da und konnte entsprechende Gegenmaßnahmen einleiten...


    Laevina wartete geduldig, bis der erste Sklave arglos seine Schritte in das Atrium lenkte und bellte dann:


    "Du da! Komm sofort hierher!" Der Sklave fuhr zusammen, da er sie hinter der Statue vermutlich gar nicht gesehen hatte, und blieb erstarrt an Ort und Stelle stehen.


    "Ich sagte hierher!" wiederholte sie noch einmal, diesmal zwar etwas leiser aber in noch schärferem Ton und wies dabei mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf eine Stelle etwa zwei Meter von sich selbst entfernt. Dabei fixierte sie ihn mit unbewegter Miene und ohne auch nur ein einziges Mal zu blinzeln. Auf diese durch langes Üben erworbene Kunst war Laevina ausgeprochen stolz, denn sie kannte niemanden, der es dabei mit ihr aufnehmen konnte. Bei der Cena eines der Duumviri von Nola hatte sie dessen Gattin einmal solange fixiert, bis das dumme Weibstück vor allen Gästen in Tränen ausgebrochen war. Ein herrlicher Abend....


    Laevina wartete in aller Seelenruhe, bis der Sklave sich langsam und zögerlich bis zu dem von ihr angezeigten Platz bewegt hatte und hielt ihm dann den staubigen Zeigefinger unter die Nase.


    "Siehst du das, du unnützes Subjekt? Das ist Staub!"


    Das Wort "Staub" betonte sie mit einem derartigen Ekel, als handle es sich um eine Mischung aus Exkrementen und weit schlimmeren Dingen.
    Als der Sklave eingeschüchtert nickte, fuhr sie fort.


    "Ich werde von nun an jeden Tag jede einzelne Statue, Truhe und Amphore in diesem Atrium kontrollieren. Und wenn ich auch nur noch ein einziges Mal eine Staubflocke finden sollte, dann werde ich mir einen großen Eimer davon besorgen und dir eigenhändig den kompletten Inhalt in den Schlund schütten. Haben wir uns in diesem Punkt verstanden?"


    Der Sklave nickte eifrig mit weitaufgerissenen Augen und Laevina lächelte ihn fröhlich an.


    "Ich sehe schon, wir werden wunderbar miteinander auskommen. Du darfst jetzt wieder an die Arbeit gehen"


    Der Sklave rannte davon, wie von der Tarantel gestochen und machte sich vermutlich auf die Suche nach einem Staubwedel. Es war eben wichtig, das Hauspersonal immer so gut wie möglich zur Arbeit zu motiveren....

    Da Sedulus zweifellos auch ein Familienmitglied war, mit dem es sich für künftige Zeiten gutzustellen hieß, löste Laevina den Blick von dem kleinen Mädchen und sah ihn liebenswürdig an.


    "Nun, mein lieber Junge, du bist eindeutig zu jung, um dich noch an mich erinnern zu können. Ich bin Avarus' Cousine und die Witwe deines armen verstorbenen Großonkels Vindex."


    Fast hätte sie bei der Erwähnung ihres ersten Gatten gegähnt, aber glücklicherweise konnte sie das noch unterdrücken und setzte statt dessen eine betrübte Miene auf, als raube ihr diese Erinnerung auch heute noch ihren Seelenfrieden.

    Insgeheim war Laevina mehr als erleichtert, als ihr Melina mit einem schnellen Gruß den Rücken zuwandte und eilig davonrannte. Entweder hatte sie gerade einen der seltsamsten Bewohner dieser Stadt kennengelernt oder sie wurde allmählich alt...
    Sie runzelte kurz noch einmal die Stirn, verscheuchte diesen Gedanken aber schnell wieder und sah sich dann auf dem Forum um, um sich zu orientieren. In den letzten 30 Jahren hatte sich einiges in dieser Stadt verändert und sie würde wohl noch ein Weilchen brauchen, um wieder richtig ortskundig zu werden.
    Dass ihrem Snack nun nichts weiter im Wege stand, steigerte Laevinas Laune ganz enorm und sie richtete ihre Schritte mit neuer Energie in Richtung Casa Germanica. Ein zwei Stündchen Ruhe, und dann würde sie in der richtigen Verfassung und Stimmung sein, um bei den Quintiliern vorzusprechen. Gut gelaunt und ein kleines Lied summend machte sich Laevina auf den Weg nach Haus.

    Erfreut nahm Laevina zur Kenntnis, dass ihre Großnichte sich bereiterklärte sie durch die Casa Germanica zu geleiten. Von einer solchen Führung konnte sie sich sicherlich mehr versprechen, als wenn sie einen Sklaven zur Seite hätte. Angehörige des Hauspersonals pflegten in ihrer Gegenwart normalerweise immer sehr schnell und langfristig zu verstummen, eine Eigenschaft, die sie normalerweise durchaus zu schätzen wusste, die aber bei einer Hausführung eindeutig von Nachteil war.
    Als Avarus dann begann, vom aktuellen Stand der Familie zu erzählen, hatte er Laevinas uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Zwei amtierende Senatoren in der eigenen Gens zu haben, das war doch wirklich mal was und erfüllte sie mit großem Stolz. Ihre Familie hatte gutes und starkes Blut, das hatte sich einfach irgendwann einmal durchsetzen müssen…


    Ein paar Augenblicke betrat ein weiterer, ihr bislang noch unbekannter Mann das Triclinium. Er schien einige Jahre jünger als Avarus zu sein und machte einen relativ deprimierten Eindruck, also handelte es sich vermutlich um Sedulus, der erst vor kurzem seine Frau verloren hatte. Man konnte es ihr zwar wieder einmal nicht ansehen, aber Laevina betrachtete ihren entfernten Neffen durchaus mit einigem Mitgefühl, schließlich war es ihr noch gar nicht allzu langer Zeit ähnlich ergangen. Denn auch wenn sie ihrem Mann Lento in den vergangenen Jahrzehnten das Leben zur Hölle gemacht hatte und sie sich ansonsten in beidseitigem Einverständnis möglichst aus dem Weg gegangen waren, so hatte es doch zumindest ganz am Anfang ihrer Ehe auch andere Zeiten gegeben, an die Laevina durchaus ab und zu gern zurückdachte. Vermutlich wäre er mit einer anderen Frau deutlich besser bedient gewesen, dachte sie in einem ungewohnt selbstkritischen Moment, aber damals hatte sie ihn nun mal unbedingt haben wollen, und das hatte ihrer beider Schicksal dann endgültig besiegelt.
    Laevina hatte sich gerade von ihrer kleinen melancholischen Welle erholt, als das kleine Mädchen mit dem traurigen und verschlossenen Gesichtsausdruck den Raum betrat und schon wieder war es um ihren Seelenfrieden geschehen. Es kam ihr vor, als wäre es gestern gewesen, als ein Bote sie über den Tod ihrer Tochter informiert hatte… und nur einen Tag später hatte dann Iunius Macro mit ihrer Enkelin Serrana vor der Tür gestanden und sie in ihrer Obhut gelassen. Die hatte damals genau den gleichen Gesichtsausdruck gehabt. Laevina schluckte unwillkürlich und ärgerte sich dann maßlos über sich selbst. Wo kam denn auf einmal diese verdammte Sentimentalität her? Sie ballte unauffällig die Faust und presste die Fingernägel in die Handinnenflächen, um sich durch den Schmerz etwas abzulenken. Sie musste wirklich auf der Hut sein, vermutlich wurde sie allmählich doch senil und geriet immer mehr in die Gefahr Schwäche zu zeigen. Bis morgen musste sie sich wieder im Griff haben, eine solche Laxheit konnte sie sich bei dem geplanten Besuch in der Casa Iunia nicht erlauben…
    Im Augenblick hatte sie sich allerdings noch nicht wieder so ganz im Griff, und so fiel ihr Lächeln bei Sabinas Begrüßung ausnahmsweise einmal sogar echt aus.


    „Salve, mein liebes Kind, ich freue mich, dass du meinen Namen schon kennst. Verrätst du mir vielleicht auch deinen?“

    Nein, mit dem Haus vertraut war sie noch ganz und gar nicht. Aber das würde sich sicher in Kürze ändern...
    Eine gründliche Bestandsaufnahme erforderte einen wachen Geist, daher würde sie dieses Unternehmen auf einen anderen Tag verschieben.


    "Nein, mit Ausnahme der wundervollen Räumlichkeiten, die du mir großzügiger Weise zur Verfügung gestellt hast, habe ich in diesem Haus bislang noch nichts gesehen." sagte sie milde und hoffentlich dankbar lächelnd.
    "Vielleicht kann Calvena mich in den nächsten Tagen mal durch die übrigen Räume führen. Sie hat ja schließlich noch junge Beine und auch sicherlich die notwendige Geduld mit so einer alten Frau."


    Die Casa Germanica war eine Sache, aber etwas anderes beschäftigte Laevina noch viel mehr.


    "Und du würdest mir eine große Freude bereiten, wenn du mir ein wenig über den aktuellen Stand unserer Familie in Rom erzählen könntest. Leider haben mir meine Pflichten als römische Ehefrau und Mutter in den letzten Jahren nur wenig Zeit gelassen, mich in der gebührenden Weise mit dem Schicksal unserer Gens zu beschäftigen, und das hat mich in all der Zeit sehr betrübt." sie ließ einen bedauernden Seufzer hören und sah ihren Cousin erwartungsvoll an.

    Im ersten Moment glaubte Laevina sich verhört zu haben. Die Mutter im Alter von fünf Jahren verloren und der Vater ein Soldat? Genauso hätte es ihre Enkelin Serrana erzählen können...
    Laevinas Tochter Alba könnte heute eine respektable Frau Anfang 30 sein, wenn sie damals nicht diesem unseligen Iunius Macro in die Arme gelaufen wäre....In ihr stieg der kalte Hass auf und sie schloss die Hand ein wenig fester um den Weinbecher. Gleich morgen würde sie der Casa Iunia einen Besuch abstatten und dort nach dem Rechten sehen...
    Dann betrachtete sie Calvena mit neuerwachtem Interesse. Wer auch immer ihre Mutter gewesen sein mochte, ihr Vater hatte offensichtlich zu Laevinas eigener Gens gehört. Das erhöhte immerhin die Chancen, dass er nicht so ein verkommenes Subjekt gewesen war wie ihr unseliger Schwiegersohn.


    Als ihr Cousin Avarus den Raum betrat, sah Laevina auf und folgte wie es sich nun mal gehörte den guten Sitten.


    "Salve, Avarus, wie schön dich zu sehen. Deine Nichte hat mich in der Zwischenzeit hervorragend unterhalten."

    "Quintilia, soso..." Laevina hatte sich zwar auch in den vergangenen 33 Jahren bemüht, einigermaßen über die Zustände in der Hauptstadt informiert zu sein, aber die Informationen waren in der eher lauschigen Campania ein wenig dürftig geflossen. Daher war ihr zwar der Name dieser Gens durchaus ein Begriff, an bestimmte Mitglieder konnte sie sich jedoch nicht erinnern. Aber das würde sich in Bälde zweifellos ändern, da sie vorhatte, mit der Familie ein ernstes Wörtchen über diesen höchst seltsamen Sprössling zu wechseln.


    "Nun, mein liebes Kind" säuselte sie dann, sich immer noch der vielen Menschen um sie herum bewusst. "Ich hoffe es ist dir klar, dass du mit deinem Verhalten einer armen alten Dame sowohl großen Schrecken als auch Schmerz zugefügt hast. Es wäre wohl für dich und alle Menschen in dieser Stadt besser, wenn du diesen Ball künftig durch eine Spindel ersetzen würdest."

    Viele Reisen, niemals lange sesshaft...,Laevina betrachtete ihre Großnichte mit neu erwachtem Interesse. Kein Wunder, dass diesen Mädchen ganz anders war als ihre Enkelin Serrana. Deren Erziehung hatte sie in die Hand genommen, als die Kleine gerade mal fünf Jahre alt gewesen war und sie hatte sie von diesem Moment an von allen Dingen fern gehalten, die ihrer Meinung nach schädlich für das Denken und Benehmen einer guten römischen Frau waren.
    Wer diese Aufgabe wohl bei Calvena übernommen hatte? Das Mädchen konnte sich zweifellos gut benehmen, aber trotzdem hatte sie irgendetwas an sich, das Laevina irritierte.


    "Nun, ich hoffe, ich bin nicht allzu neugierig, aber was ist denn aus deinen Eltern geworden?" Schließlich war sie selbst gerade gezwungen gewesen, über ihre Kinder zu sprechen, da war diese Frage ja nur logisch...

    Laevina sprach immer nur sehr ungern über ihre Kinder, da diese das einzige Thema waren, bei dem sie ihre sonstige eiserne Selbstbeherrschung manchmal verließ, aber ganz konnte sie ihm nun mal nicht aus dem Weg gehen.


    "Ich hatte drei Kinder, zwei Söhne und eine Tochter. Aber von denen lebt nur noch Severus, und selbst bei dem bin ich mir nicht sicher, denn er ist schon seit geraumer Zeit verschollen." sagte sie und konnte die Bitterkeit in ihrer Stimme diesmal nur mit Mühen verschleiern.


    Nein, es war definitiv angenehmer, über andere Dinge nachzudenken....


    "Und wo hast du vorher gelebt?" fragte sie dann. Vermutlich würde die Antwort unendlich langweilig sein, aber das würde sie wenigstens wieder ablenken.

    Laevinas Augenbraue schnellte unwillkürlich nach oben, als sie von der jungen Sklavin so offensichtlich brüskiert wurde und sie folgte ihr mit ihrem Blick. 'Vorsicht, mein liebes Kind, wage dich lieber nicht auf allzu dünnes Eis hinaus...." dachte sie dann mit aufkeimender Verärgerung. Allerdings war sie im Augenblick in zu guter Stimmung, um sich allzu lange über das Personal zu ärgern und beschloss, den kleinen Affront zu überspielen.


    "Wer hätte das gedacht, Calvena, entweder trägst du heute abend ein ausgesprochen unkleidsames Gewand, oder mich hat der wundervolle Empfang in diesem Haus auf wundersame Weise verjüngt..." sagte sie mit einem feinen Lächeln und nippte wieder an ihrem Wein.


    "Wann ich das letzte mal in Rom war?" Laevina seufzte auf, und diesmal aus vollem Herzen. "Das war vermutlich lange vor deiner Geburt, damals waren meine Kinder noch klein." Sie spürte einen winzigen Stich, als sie sich an ihre beiden dunkelhaarigen Söhne und ihre blonde Tochter erinnerte. So viele verschenkte Chancen...


    "Aber lass uns doch nicht über mich langweilige alte Frau sprechen, die Jugend ist viel interessanter. Seit wann lebst du denn bei Avarus?" lenkte sie dann das Gespräch in angenehmere Bahnen.

    Nein, leider hatte sie sich den Rest des Hauses noch nicht zu Gemüte führen können, aber sie hatte ja auch keine Eile. Schließlich musste eine derartige Inspektion mit der gebührenden Gründlichkeit durchgeführt werden, und dafür war Laevina am heutigen Abend dann doch ein wenig zu schlapp.


    "Oh nein," sagte sie dann mit einem leicht entrüstetem Tonfall. "Es würde mir wohl auch kaum zustehen, einfach unaufgefordert durch das Haus deines Onkels zu spazieren." Selbstverständlich hatte sie einen ausgedehnten Kontrollgang für die nächsten Tage fest eingeplant, aber das musste sie Calvena ja nicht auf die Nase binden.


    "In welchem Teil der Casa bist du denn untergebracht" fragte sie dann, zum einen, um die Unterhaltung am Laufen zu halten, und zum anderen, um sich eine erste Orientierung über die restlichen Räume zu verschaffen.

    'Sieh mal einer an, das Kind weiß doch tatsächlich, was sich gehört' dachte Laevina zufrieden und ließ sich mit einem kleinen, scheinbar erleichterten Seufzer neben Calvena nieder. Sie hatte mittlerweile einen derartigen Durst, dass sie dem Sklaven den Becher mit Wein am liebsten aus der Hand gerissen hätte. Aber auch diesmal siegte ihre langantrainierte Selbstbeherrschung, daher nahm sie den Becher langsam hoch, nippte ein einziges Mal und stellte ihn dann mit großem inneren Bedauern wieder ab.


    Dieses Bedauern war ihr dann auch behilflich, auf Calvenas Frage hin den notwendigen betroffenen Gesichtsausdruck herbeizuzaubern.


    "Oja, ich kann es noch gar nicht fassen, wie großzügig mein lieber Cousin zu mir gewesen ist. In meiner derzeitigen Lage wäre ich ja durchaus auch mit einer kleinen Kammer irgendwo unter dem Dach zufrieden gewesen..." seufzte sie dann mit ergriffener Stimme und baute einen kleinen Schniefer ein.


    "Ich hätte wirklich nie vermutet, dass mir jemand so kurz vor meinem Tode noch mal eine solche Freude machen würde..." ein zweiter Schniefer folgte.

    Schon auf halben Wege zum Triclinium stiegen Laevina die Essensdüfte in die Nase und sie beschleunigte automatisch ihre Schritte. Erst kurz vor dem Eingang bremste sie ab und schaltete innerlich wieder auf klapprige alte Dame um. Eigentlich eine Zumutung, dass man sich ständig so verstellen musste, aber Laevina hatte schon häufiger die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen mit ihrem normalen (und ihrer eigenen Meinung nach durchaus gewinnenden) Wesen nicht zurechtkamen.


    Ganz offensichtlich hatte die Cena noch nicht begonnen, denn ausser den herumeilenden Sklaven konnte sie nur ihre neue Ur-Groß-was auch immer-Nichte entdecken, die sich bereits auf einer Kline niedergelassen hatte. Ihr prüfender Blick glitt kurz aber gründlich über die Aufmachung des Mädchens und Laevina stellte erfreut fest, dass die optischen Verfehlungen des Nachmittags offenbar doch nur ein Ausrutscher gewesen waren. Jetzt trug Calvena eine ordentliche Frisur und ein anständiges Kleid, und dieser Eindruck in Kombination mit dem höchst leckeren Essensduft stimmte Laevina ungewohnt milde.


    "Guten Abend mein liebes Kind, gibt es hier denn noch einen Platz für eine alte Dame?" säuselte sie.

    Laevina hatte die letzten Stunden damit verbracht, ihre neuen Räumlichkeiten zu inspizieren und dabei jedes einzelne Möbelstück, jede Truhe, Amphore und Statue sowie die komplette Wanddekoration einer genauen Prüfung unterzogen. Mit dem Ergebnis war sie ausgesprochen zufrieden; der kleine Avarus war wirklich großzügig bei der Einrichtung gewesen und hatte sich nicht lumpen lassen...
    Sie ließ sich mit einem glücklichen Lächeln auf das ausgesprochen bequeme Bett sinken und streckte sich genüsslich.
    Hier konnte man es wahrlich aushalten und sie spürte förmlich, wie ihre Lebenserwartung um mindestens zwanzig Jahre anstieg :D
    Der einzige kleine Missklang war im Moment das Nagen in der Magengegend, denn Laevina hatte mittlerweile Hunger wie ein Wolf. Der restliche Reiseproviant hatte nur ein kleines Weilchen vorgehalten, und allmählich wurde sie ungeduldig.
    Doch Rettung nahte in Gestalt einer verschreckten Sklavin ( so ist's brav), die sie zur Cena bat. Laevina freute sich derart, dass sie auf das Anschnauzen der Sklavin verzichtete und sich beeilte ins Triclinium zu kommen.