Ein weiterer Teil der Pflichtreise durch Roms Innenstadt zur Präsentation seines Wahlwillens und seiner Tugendhaftigkeit war ein Besuch des Tempel. Vor Tagen hatte er einen Termin besorgt, so dass er heute mit Pomp und Gloria hier herziehen und möglichst öffentlichkeitswirksam opfern zu können. Direkt nach den Parentalia, wenn alle noch in der Erinnerung an ihre Vorfahren schwelgten und die Tempel wieder geöffnet waren, war dies der ideale Zeitpunkt. Besser noch, es waren Terminalia, und Iuppiter in seiner Eigenschaft als Terminus war heute ohnehin der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.
Natürlich konnte man so ein großes Opfer nicht einfach so abhalten. Es bedurfte schon ein wenig Ankündigung, damit es auch genügend Zuschauer gab. Und so war es auch hier: Eine feine, kleine Pompa, der sich nach und nach die Schaulustigen (und Hungrigen) anschlossen. Vorneweg liefen ein paar Trommler, die auf ihren kleinen Handtrommeln den nötigen Lärm machten, um alle Leute auf der Straße auf den Zug aufmerksam zu machen, so dass diese ausweichen konnten. Diejenigen, die dabei Hilfe brauchten, wurden von großen, starken Rutenträgern zur Seite gebracht. Dahinter kam eine Reihe Ministri: Jungen und Mädchen, die mit Blumenkörben bewaffnet den Weg der Prozession mit Blütenblättern bereiteten. Danach schritt auch schon der Opferherr, Sextus Aurelius Lupus, seine Toga als Kopfbedeckung über sein Haupt gezogen, die Hände leicht in Gebetshaltung erhoben. Langsam und würdevoll ging es voran. Hinter Sextus kam eine Flottille an Flötenbläsern und Lautenspielern, die ihre verschlungenen Melodien lieblich über den Alltagslärm der Stadt erhoben.
Danach kam der eigentliche Hingucker der Prozession: Der Stier. Es war ein weißes Tier, das mit jeder Menge beruhigender Kräuter gefüttert worden war, so dass es entgegen seines eigentlichen Naturells äußerst entspannt und friedlich dahertrottete und sich gehorsam am goldenen Nasenring von zwei Sklaven durch die Straßen führen ließ. Seine Hörner waren bis an die Spitzen mit abwechselnd roten und weißen Bändern eng umwickelt. Sein Fell war gebürstet worden und sicherheitshalber mit etwas Kalk noch weißer gefärbt. Die Hufe waren vergoldet. Auf dem Rücken prangte eine breite Wolldecke.
Hinter dem Stier schließlich kam der victimarius mit einem beeindruckenden Opferhammer. Ihm folgte ein ebenso breit gebauter Opferhelfer mit einer ansehnlichen, vergoldeten Axt. Es folgten noch weitere Opferhelfer – Sextus war nicht knauserig gewesen bei der Organisation dieses Opfers – und schließlich Familie und einige Klienten.
Während der Zug musizierend durch die Straßen zog, schlossen sich nach und nach mehr Menschen an. Bis so also das Capitol erreicht war, hatte sich eine ansehnliche Traube gebildet, die nun das Spektakel bis zu seinem Ende zu beobachten gedachte.
Sextus trat an das Becken und ließ sich von einem der Opferhelfer mit einem in das Wasser getauchte Myrtebüschel bespritzen und so rituell vor der Zeremonie reinigen.
Ein beweglicher Altar war auf dem Außengelände des Tempels aufgebaut worden, so dass sich Sextus für die ersten Opfergaben und Gebete nicht ins Innere des Tempels zurückziehen musste, während hier draußen alle warteten. Er trat also an jenen Altar, während der Stier an seinem Nasenring an einem im Boden eingelassenen Sockel festgebunden wurde und seinem weiteren Schicksal harrte.
“Favete linguis!“ erschallte die Stimme eines der Opferhelfers über den Platz, um so den Anfang der Gebete zu verkünden.
Mit verhülltem Haupt begab sich Sextus also in die perfekte Gebetspose und fing möglichst öffentlichkeitswirksam an, zu beten.
“Iuppiter Optimus Maximus! Höchster Gott und König aller anderen Götter! Iuppiter Optimus Maximus, gerechtester aller Götter und oberster Richter! Iuppiter Optimus Maximus, Vater Roms!
Dein sei dieser Weihrauch!“
Eine gehörige Menge der goldgelben Körnchen fanden ihren Weg in die zwei rechts und links vom Opferherren, so dass gut sichtbar weißer Rauch aufstieg und als feiner Duft über der Örtlichkeit schwebte.
“Iuppiter Optimus Maximus! Ich, Sextus Aurelius Lupus, Sohn des Numerius Aurelius Fulvius, danke dir für dein bisheriges Wohlwollen mir gegenüber! Stets habe ich deinen Namen hoch gehalten und die von dir den Menschen geschenkte Gerechtigkeit als höchste der Tugenden verehrt! So sei dir zum Dank auch dieser Wein und dieses Gebäck!“
Auch diese Dinge wurden den gierigen Flammen überantwortet.
“Iuppiter Optimus Maximus! Ich möchte dich bitten, mich auch in Zukunft zu unterstützen! Hilf mir, dass, wenn ich als Praetor gewählt werde, dieses Amt auch gerecht erfülle! Überzeuge die Senatoren von meiner Befähigung hierfür! Gib mir stets guten Rat, auf dass ich die Gesetze des römischen Reiches zu deiner Zufriedenheit verbessern kann!“
Eine kurze, dramaturgische Pause, während der nur der liebliche Flötenklang der Musiker weiterhin ertönte, um eventuelle Geräusche aus der Masse zu übertönen.
“Hierfür gebe ich dir diesen prächtigen, weißen Stier und gelobe, auch weiterhin deinen Namen zu ehren und dir zu opfern. Do, ut des!“
Und mit einer Drehung nach rechts war das Gebet beendet.
Sextus ging zu dem festgebundenen Stier, der noch immer berauscht von den Kräutern ruhig dastand und ihn mit leerem Blick ansah. Sextus nahm einen kleinen Krug mit mola salsa von einem der ministri entgegen und goß das Gemisch großzügig über den Kopf des Tieres, um es der Gottheit zu weihen. Danach wurde ihm ein schön geschwungenes Opfermesser auf einem Kissen entgegen gereicht. Fleißige Dienerhände nahmen die roten und weißen Bänder von den Hörnern ab und entfernten zuletzt die Wolldecke vom Rücken des Tieres. Sextus ging nun an dem Stier entlang, das Messer in der Hand, und strich damit knapp über der Haut des Tieres von der Stirn über den Rücken bis zum Schweifansatz, ehe er sich wieder auf seine erhöhte Position am Altar begab.
Düster und bestimmt traten Hammerträger und Axtträger hervor und postierten sich beidseitig neben dem Stier. Wie aus einem Mund fragten sie “Agone?“
Kurz und knapp war die Antwort des Opferherren. “Age!“
Der Hammer traf die Stirn des Stieres, die Axt grub sich mit genau entgegen gesetztem Schwung fast zeitgleich in die gewaltige Kehle des Tieres. Blut spritzte, und mit einem Stöhnen brach der Stier tot zusammen, als die Beine unter seinem Gewicht nachgaben.
Ein Diener fing Blut in einer Schale auf, andere rollten den Stier leicht zur Seite, damit dessen Bauchraum geöffnet werden konnte.
Sextus überließ das Öffnen des Bauches und das Herausschneiden der Leber einem kundigen Untergebenen und ließ sich das große Organ auf einer noch größeren Patera einfach anreichen, um zu sehen, ob der Göttervater ihm etwas mitzuteilen gedachte.
Unterdessen wurde der Stier bereits fachmännisch abgehäutet, von seinen Innereien befreit und in handliche Portionen zerteilt.