Heute war es soweit. Um die achte Stunde trat Ocella gemeinsam mit seinem Mitkandidaten Hortensius Vaticanus und dem nun gemeinsamen Wahlkampfleiter Lutatius Frugi auf die Rostra von Ostia. Der Platz vor der Rostra war gut gefüllt - bei einem Aedilskandidaten verständlich, bei den Duumviri wären wohl deutlich mehr auf dem Platz versammelt - und Ocella sah viele bekannte Gesichter unter den Versammelten. Er grüßte jene freundlich, die nahe an der Rostra standen. Kurz vor ihren Reden wechselten die beiden noch einige Worte und wirkten entspannt.
Hinter der Rostra herrschte derweil Aufregung. Die Leibwächter von Ocella und Vaticanus organisierten dort eine Menschenkette, die aus ehemaligen jungen Klienten der Gens Helvetia aus Ostia und Händlern mit Militärerfahrung bestand, um mögliche Übergriffe von Anhängern des Ädils und Duumvir-Kandidaten Herennius Camillus zu verhindern. Dieser war bereits durch das Aufeinandertreffen in der Villa Iuliana Ostiensis aufgeschreckt und würde wohl mindestens seine beiden Liktoren zum Platz schicken. Auch rechneten Ocella, Vaticanus und Frugi damit, dass weitere herennische Klienten anwesend waren, die beim kleinsten Wort gegen den amtierenden Ädil auf die Rostra stürmen würden. Auch für den Fall, dass sich herennische Anhänger in der Masse befanden, um gegen die Reden der beiden Ädilskandidaten Stimmung zu machen, war gesorgt. Frugi hatte an zentralen Punkten vertrauenswürdige Anhänger der Kandidaten postiert, die gegebenfalls die Stimmung dort wieder zugunsten der Kandidaten drehen konnten. Diese Veranstaltung war im Rahmen der Möglichkeiten vollständig durchgeplant.
Frugi schaffte sich mit einer weitschweifenden Kopfbewegung einen Überblick, ob er seine Leute auch sehen konnte - sofern das überhaupt möglich war - und begann dann mit lauter Stimme: Bürger Ostias! Ich stelle euch hiermit die beiden Kandidaten für die Ämter des Aedilis Mercatuum und des Aedilis Operum Publicorum vor: Titus Helvetius Ocella und Appius Hortensius Vaticanus!!! Von den Anhängern hörte man lauten Jubel. Und Ocella trat nach vorne an den Rand der Rostra
Die erste Hürde, so waren sich alle einig. Würde bereits jetzt zum Beispiel eine Tomate fliegen und die Toga des Helvetiers treffen, wäre die Veranstaltung zu Ende, bevor sie überhaupt richtig angefangen hätte. So hielt Ocella einen Moment inne, bevor er dann ebenfalls mit lauter Stimme - dank des Trainings durch seinen griechischen Sklaven Promachos - das Wort ergriff: Ihr Bürger Ostias! Wie erwartet herrschte wie immer trotz der Reden ein gewisser Lautstärkepegel. Daher legte Ocella nochmal eine Schippe drauf, als er fortfuhr. Wenige von euch werden mich kennen. Mein Name ist Titus Helvetius Ocella, Sohn des Marcus Helvetius Cato, Enkel des gewesenen Duumvir Publius Helvetius Gracchus. Auch dies ließ er erstmal sacken. Namen waren wichtig. Und vor allem, wenn man sich dadurch in die Nachfolge eines Lokalpolitikers stellen konnte, waren sie unerlässlich. Ich bin Scriba Ostiensis und dem Aedilis Mercatuum Herennius Camillus beigeordnet. Sowohl mein Großvater, als auch mein Vater haben mir einiges mit auf den Weg gegeben, darunter auch das Wissen über meine Herkunft hier in Ostia. Daher fühle ich mich der Civitas Ostia besonders verbunden und stehe gerne in ihrem Dienst. Meine Mitarbeiter in der Curia werden versichern können, dass ich meine Aufgaben stets nach bestem Wissen und Gewissen ausfülle und effektiv arbeite. Was mich jedoch zuletzt besonders antrieb, war der Wille zu einer besseren, einer gerechteren Ausübung meiner Pflichten in der Stadtverwaltung.
Erneut machte er eine Pause. Gerechtigkeit und Tugend waren Schlüsselworte, die aufzutauchen hatten, wenn man Eindruck machen wollte. Jedoch gibt es dort auch Männer, die sich diesen Zielen nicht verpflichtet sehen. Anstatt ihre Aufgaben zu erfüllen, delegieren sie. Anstatt Ansprechpartner für die Sorgen und Nöte der Bürger zu sein, machen sie sich rar. Und anstatt Recht und Tugend walten zu lassen, lassen sie sich von ihren persönlichen Befindlichkeiten regieren. An sich nichts Schlimmes, wenn man es jedoch in den Zusammenhang stellt, dass dadurch die Allgemeinheit Schaden nimmt, ein riesiges Manko für den Angesprochenen. Oft werden sie ersetzt, wenn sich ihre Vorgesetzten darüber gewahr werden, dass sie nur sich selbst im Sinn haben. Wenn jedoch bereits unter den Vorgesetzten ein Mann ist, der den Beamten in der Curia eben dies vorlebt, bleibt nur die Hoffnung, dass es noch jemanden über ihm gibt. Die Duumvirn geben sich alle Mühe, die Fehler dieses Mannes auszubügeln. Jedoch bleibt er unbelehrbar. Wenn man aber nicht mehr zum Wohle der Civitas agiert, mit welchem Recht fordert man dann, dass die Civitas ihn weiter unterstützt? Wie kann man weiter als Stadtbeamter amtieren, wenn man nicht mehr Recht und Tugend walten lässt, sondern Eigensucht und Geltungsdrang?
Auch hier setzte er eine Pause an. Aus den Reihen der Anhänger kamen wieder zustimmende Rufe. Ocella atmende nun hörbar ein und aus, um die Spannung weiter zu eröhen. Mein Vorgesetzter, Herennius Camillus, hat sich dafür entschieden, sein Wohlergehen über das Wohlergehen der Civitas zu stellen. Er nimmt seine Pflichten nur noch dann war, wenn es darum geht, seine eigene Stellung zu verbessern oder Menschen, die ihm nicht blind nachgelaufen und seinen eigensinnigen Forderungen nicht nachgekommen sind, zu drangsalieren. Erneut machte er eine kurze Pause, die die Anhänger nutzten, um unterstützende Zwischenrufe zu platzieren. Das bekannteste Beispiel ist wohl der Händler Titus Lavenius. Zeige dich doch bitte, Lavenius. Vielleicht haben sich manche von euch bereits gewundert, dass sein Laden bereits seit dem Amtsantritt des Herennius Camillus geschlossen war, hat man dort doch stets hochwertigen Schmuck aus den fernen Provinzen in Syria oder der Region Arabia kaufen können. Herennius hatte dafür gesorgt, dass Lavenius seine Lizenz verlor. Begründung hierfür war der Verstoß gegen den nicht fixierten Codex der Händler Ostias. Wie ihr alle wisst nehmen die Händler den Codex sehr ernst, jedoch konnte mir kein Händler diese Beschuldigung bestätigen. Im Gespräch mit Lavenius und den benachbarten Händlern jedoch kam der eigentliche Grund ans Licht: Herennius wollte den Händler auf einen unrechtmäßigen Preis herunterhandeln und der Händler weigerte sich. Nun wurden Unmutsbekundungen über das Verhalten des Ädils von den Ocella-Anhängern ausgerufen. Jedoch hörte man auch aus einigen Ecken aufgebrachte "Lügner"-Rufe. Titus Lavenius hatte sich derweil auf eine Kiste vor der Rostra gestellt, damit klar wurde um wen es ging. Auch ein Teil der Gesamtinszenierung, der seinen Zweck wohl kaum verfehlen würden So handelte Herennius Camillus entgegen aller Vernunft und Tugend und rächte sich bitterlich an Lavenius: Er entzog ihm seine Lebensgrundlage. Aber er schädigte damit nicht nur den Händler Lavenius, sondern auch die Civitas, die einen allseits anerkannten Händler verlor. Von nun an lebten die Händler Ostias in Angst. Jederzeit hätte es jemand anderes treffen können, der sich den absurden Wünschen des Herennius Camillus verweigerte. Dies ist ein unhaltbarer Zustand!
Ein weiteres Mal folgte eine Pause. Ocella merkte nun doch, dass er mit seiner Stimme langsam an die Substanz ging. Hoffentlich würde er das durchhalten. Jedenfalls nahm er etwas Lautstärke aus der Stimme, versuchte es aber durch seine Gestik und Mimik auszugleichen. Sicherlich würde das dazuführen, dass die Männer in den hinteren Reihen nichts mehr von der Rede mitbekommen würden. Allerdings war das besser, als wenn seine Stimme plötzlich gänzlich versagte. Herennius darf nicht ein weiteres Mal in die Position kommen, seine Rechte so zu missbrauchen. Ich habe mich entschieden, nicht zu schweigen, sondern gegen ihn aufzustehen. Der ehrenwerte Herennius Camillus wird, wenn es nach mir geht, jene Rolle übernehmen, die ihm zusteht: Als Gärtner von Kamillenpflanzen auf einem Landgut weit weg von Ostia und Rom. Möge er seinen Weg finden, der ihn, so die Götter wollen, nicht erneut in eine verantwortungsvolle Position bringt. Wenn er weiterhin jemanden drangsalieren möchte, so soll er dafür das Ungeziefer in seinem Garten nehmen. Ein Amt jedoch soll ihm auf ewig verwehrt bleiben oder bis zu jenem Zeitpunkt, an dem er sich und seinen Charakter zu ändern bereit ist. Mit einer großten Geste verschaffte er den letzten Sätzen Nachdruck, bevor er fortfuhr. Ich werde derweil für das Amt des Aedilis Mercatuum kandidieren und ich werde dafür sorgen, dass die Händler wieder ruhig und sicher ihren Geschäften nachgehen können, ohne Willkür und Rachgelüste fürchten zu müssen. Die Civitas Ostia liegt mir persönlich am Herzen und so werde ich mit aller Kraft dafür sorgen, dass Ostia weiter voranstrebt. Meinen Kraft stelle ich in den Dienst der Civitas und verlange nicht, dass sich die Civitas in meinen Dienst stellt. Bei den kommenden Wahlen werdet ihr die Möglichkeit haben, jene zu wählen, die sich persönlich, öffentlich und allumfassend korrumpiert haben, oder eine jene, die dazu eine verlässliche und tugendhafte Alternative bieten. Eine solche möchten ich und mein gute Freund Appius Hortensius Vaticanus euch geben. Daher erläre ich hiermit öffentlich und vor euch allen meine Kandidatur für das Amt des Aedilis Mercatuum der Civitas Ostia. Für den letzten Satz hatte Ocella seine letzten Reserven mobilisiert und ihn förmlich hinausgeworfen. Nun konnte er wieder einen Schritt zurücktreten und seinem Mitbewerber Vaticanus Platz machen.
Auch dieser hielt eine Ansprache, die aber vor allem sachlicher atur war. Natürlich ließ auch er hier und da eine Spitze gegen die anderen Kandidaten und den Herennier fallen, blieb aber ansonsten bei seinen Zielen und Vorhaben, die nach Einschätzung von Ocella doch sehr kostspielig werden würden. Aber er wusste natürlich auch, dass Vaticanus die bekannte, angesehene und wohlhabende Gens Hortensia hinter sich hatte, die ihn nach Kräften unterstützen würden.