Beiträge von Tiberios

    Niemand kann sich heimlich, während man auf einem von Wächtern getragenen Stuhl sitzt, obendrein mit ausgerenkten Gliedern, heimlich seine Unterbekleidung abnehmen, daraus eine Halsschlinge bauen sich und auf seinem Stuhl erhängen, ohne dass die Wächter, die diesen Stuhl tragen, all das merken. Bitte, das ist lächerlich, fast schon eine Parodie.

    Mein erster Gedanke war, dass die Wächter die Frau umgebracht haben ( Bestochen? Im Auftrag? Vielleicht sogar aus Mitleid), und dann diese Geschichte berichteten.

    "Sklave oder Freigelassener, der sich für seinen Herren foltern und töten lässt" ist auch ein literarischer Topos der Römer, wie "böser Kaiser, der Inzest begeht"

    52-94827458329b5d646ad959269af78d6d23bc3b42.jpgDer Sklavenhändler sah die Arme verschränkt zu, als Viridomarus die Ware begutachtete. Das der Kunde den Sklaven inspizierte wie beim Pferdekauf, war normal, da die Gewährleistung sich nur auf Betrug, aber sich auf nichts bezog, was der Käufer hätte selbst im Vorfeld erkennen können. Hätte der Sklave beispielsweise einen Abszess im Mund und starb daran, wäre er nicht verpflichtet, dem Käufer das Geld zurückzugeben.



    Tiberios wusste das zwar alles, aber er errötete trotzdem noch mehr und senkte den Blick.

    Dabei öffnete er von selbst den Mund und legte die Arme hinter den Rücken, damit er Dominus Viridomarus Leibesfülle nicht im Weg war.

    Gerade als er die Finger des Thrakers auf seinen Lippen spürte, erinnerte er sich daran, dass Charis ihm erzählt hatte, dass dieser, wenn Sprechen für den Dienst nicht nötig war, stumme Sklaven bevorzugte.

    Auch Nubius, der Leibwächter, schön wie ein schwarzer Apoll, war stumm gemacht worden.

    Dieser Gedanke ließ nun das erste Mal so etwas wie Angst in dem Griechen hochsteigen, einen Anflug nur, aber dennoch.


    Est sine dubio stultum, quia quandoque sis futurus miser, esse iam miserum*, dachte Tiberios wieder einmal an das Zitat von Seneca. Dieser Satz, den er sich immer wieder vorsagte, hatte ihm bisher aus Verzweiflung geholfen, aber mit jedem Tag fiel es ihm schwerer, galene, heitere Seelenruhe, zu bewahren. Vielleicht weil mit jeder Stunde die körperliche und geistige Erschöpfung größer wurde. Der strapaziöse Transport von der Küste und die schlechte Verpflegung forderten so langsam ihren Preis.


    Viridomarus ließ ihn los und trat zurück.

    Zweihundertzwanzig Denare bot er mit einem Scherz. Das war schon ordentlich Geld, mehr als Tiberios jemals gekostet hatte.


    Der Grieche lächelte sanft, wie man es von ihm erwartete, und ließ die Arme wieder zu beiden Seiten hängen.



    Aber da hörte er die Stimme der Iunia Proxima: „Zweihundertvierzig Denare!“

    Seltsamerweise klang sie aufgebracht. Fast zornig. Aber nicht zornig auf ihn, sondern so, als wäre sie stellvertretend für Tiberios zornig, der seine eigenen Gefühle so sehr kontrollierte, als sähe er sich als unbeteiligter Betrachter von außen zu.


    Ihre kalte abweisende Stimme gab Tiberios seltsamerweise Kraft zurück. Ein Mensch war da, für den er nicht nur ein Werkzeug mit Stimme zu sein schien.

    Er straffte sich und hob den Kopf. Der undeutliche bunte Schemen vor ihm löste sich auf, gewann wieder Konturen: Häuser, Menschen. Dies hier war Caesarea in Cappadocia. Dies hier war eine fremde ferne Welt. Er würde sie für sich gewinnen müssen, wenn er überleben und wenn er weiterkommen wollte.



    52-94827458329b5d646ad959269af78d6d23bc3b42.jpg Gomidas hatte indes Denarezeichen in den Augen. Heute lief der Verkauf wie geschmiert, wusste der Kuckuck, was jeder der beiden mit dem Bengel vorhatte. Er war kein Richter über die Vorlieben seiner Mitmenschen.

    Er kannte die Finanzen von Iunia Proxima nicht, wusste jedoch, dass Viridomarus im Ruf sagenhaftem Reichtum stand.

    „ Zweihundertvierzig Denare!“, wiederholte der Sklavenhändler: „Zweihundertvierzig Denare sind geboten für diesen netten Griechen mit den Locken. Noch ist Zeit, zuzuschlagen, verehrte Herrschaften, denn gleich wird es zu spät dafür sein.

    Wenn ihr zuhause seid, werdet ihr es bereuen, nicht zugegriffen zu haben…. Zweihundertvierzig zum ersten...“



    Sim-Off:

    *Es ist unstreitig töricht, weil man vielleicht einmal unglücklich sein wird, es deswegen jetzt schon zu sein.Sen.epist.24,1

    :Habe zum Geburtstag von Catherine Nixey :Heiliger Zorn - Wie die frühen Christen die Antike zerstörten, München 2017, geschenkt bekommen.


    Der Titel! :D


    Halte uns gern auf dem Laufenden darüber, wie fundiert du es empfindest. Die These höre ich nicht zum ersten Mal; die Christen hätten laut mancher Meinungen unter anderem die allgemeine Weltuntergangsstimmung während der damals wütenden Pestepedemien geschickt propagandistisch für sich nutzbar gemacht.

    Das Buch von Nixey ist ein antichristliches Pamphlet. Und das soll es auch sein, denn sie schreibt im Vorwort, es gäbe genügend prochristliche Bücher, die die herrschende Religion verteidigen. Sie möchte dazu explizit ein Gegengewicht schaffen.

    Interessant sind die Zahlen über die Anzahl der Märtyrer, anscheinend wurde ihre Anzahl propagandistisch übertrieben.

    Deprimierend die zahlreichen Zerstörungen, die durch fanatische Banden und teilweise auch durch die Staatsmacht angerichtet wurden, wie die restlose Zerstörung des Serapeum und der dem angeschlossenen Bibliothek in Alexandria, und die der klassischen Werke. Ich wusste auch nicht, dass eine solch hohe Anzahl von Philosophen oder Priestern der antiken Religion gefoltert oder getötet wurde, nachdem man erst clandestin versuchte, den Lehrbetrieb aufrecht zu erhalten.

    Ein wenig habe ich vermisst, dass obwohl sich die Autorin sich darüber echauffiert, dass die alten Götter zu "Dämonen" herabgewürdigt wurde, nicht auf den Bedeutungswandel des Wortes daímōn, das ja durchaus positiv konnotiert war, eingegangen wurde.

    Ebenso wenig auf den späteren Beitrag von Byzanz; dort wurde die klassische Bildung trotz Christentum nämlich nicht verachtet, das scheint ein Phänomen der westlichen "Lateiner" gewesen zu sein.

    Ansonsten, es ist eigentlich kein wissenschaftliches Buch, liest sich flüssig und informativ.

    Sim-Off:

    Der Ausgang der Auktion ist völlig offen. Sie dauert noch bis zum Freitag, den 06.08.2021 Mitternacht.:)


    52-94827458329b5d646ad959269af78d6d23bc3b42.jpgShahan Gomidas lächelte geschmeichelt: „Solch einer schönen Dame etwas abzuschlagen, fällt mir sehr schwer. Aber eine Auktion gleich beim ersten Gebot abzubrechen, würde den Eindruck erwecken, als wäre etwas mit meinen Sklaven nicht in Ordnung. Das kann ich leider nicht machen.“, sagte er bedauernd und

    wurde dann lauter:

    „Hundertzwanzig Denare sind für den gebildeten Jungen geboten! Hundertzwanzig Denare, ihr edlen Herrschaften der schönen Stadt Caesarea!“

    Er brach ab und hustete in sein Tuch – gerade waberte ein Geruch wie von faulen Eiern durch die Luft.


    Tiberios bemerkte tatsächlich so etwas wie ein wenig Mitgefühl in den Augen der Römerin. Diese Regung erstaunte ihn, denn er selbst hatte keines und auch kein Römer, den er bisher kennen gelernt hatte.

    Es war zwar nicht besonders angenehm, auf einer Bühne zu stehen und verkauft zu werden, und er konnte sich schönere Plätze vorstellen (die Kühle und Stille der furischen Bibliothek beispielsweise), an denen er jetzt lieber gewesen wäre. Aber es war auch nichts, mit was ein philosophisch geschulter Geist nicht fertig werden würde.


    Und doch, Tiberios spürte hinter Iunia Proximas kecker Rede Güte, eine Eigenschaft, die ihm länger nicht mehr begegnet war. Einen Moment lang versuchte er, die Züge der jungen Frau zu erforschen, ohne sie direkt anzustarren, Hätte sie ihn in diesem Moment angesehen, hätte sie die Neugier des Sklaven bemerkt.

    Als Viridomarus Tiberios Hände begutachten wollte, trat der Grieche einen Schritt vor und stellte sich so hin, dass dieser es bequemer hatte – das ging sozusagen automatisch. Er zuckte auch nicht zurück. Dennoch wurde er nervös, als er seine Hände in die wohlgepflegten des Thrakers legte.


    52-94827458329b5d646ad959269af78d6d23bc3b42.jpgDer Sklavenhändler grinste zufrieden über beide Backen. Er kannte Viridomarus zwar nicht persönlich, aber der dicke Geschäftsmann war eine solch außergewöhnliche Erscheinung, dass er zumindest von ihm gehört hatte:

    „Edler Herr Viri, flinke Finger aber keine lange, hihi, oh ja, das garantiere ich bei meinen Jungs. Einhundertfünfzig Denare sind geboten von diesem noblen Herren hier.

    Jemand mehr als einhundertfünfzig Denare für dieses aufgeweckte Exemplar?!“

    Natürlich wandte er sich damit an die Wirtin des "Aus der Hand von Schesmu", denn zwischen den beiden Geschäftsleuten entspann sich zu seiner Freude gerade ein kleiner Bieterstreit.


    Tiberios horchte auf, als Viridomarus tatsächlich ein Gebot auf ihn abgab.

    Er kannte den Thraker nicht nur als Geschäftskontakt, er erinnerte sich auch daran, was sein CharisViridomarus Sklave Charislaus - von ihm berichtet hatte: Dominus Viridomarus war eine Mischung aus leutselig und unerhörter Geschäftstüchtigkeit; er konnte durchaus großzügig sein, aber er war alles andere als sentimental.

    Er würde Tiberios vermutlich nie und nimmer wegen alter Erinnerungen helfen, sondern nur, wenn er einen Nutzen daraus ziehen konnte.


    Im gleichen Moment ertönte die Stimme der Iunia Proxima, und sie bot einhundertsiebzig Denare.

    Shahan Gomidas nickte Zustimmung und rief:


    52-94827458329b5d646ad959269af78d6d23bc3b42.jpg „Und schon ein neues Gebot von der schwarzhaarigen Dame mit dem untrüglichen Sklavenverstand: Einhundertsiebzig Denare wurden geboten! Einhundertsiebzig Denare! Wenn nicht mehr geboten wird..."






    Tiberios wurde nun doch nervös und sein Herz pochte ihm bis zum Halse. Sein künftigen Schicksal wurde gerade entschieden, ohne dass er ein Wort mitzureden hatte. Das war zwar nicht zum ersten Male so, aber es gab vermutlich Dinge, an die man sich nicht gewöhnte, auch wenn er es gleichmütig hinnehmen wollte.

    Die Menge vor ihm verschwamm zu einem bunten Schemen, und er schaute geradeaus, ohne noch jemanden wirklich wahrzunehmen.

    D52-94827458329b5d646ad959269af78d6d23bc3b42.jpgie Umherstehenden lachten. Die Wirtin der Taberna „Aus der Hand von Schesmu“ hatte offensichtlich eine spitze Zunge.

    „Nein, gnädige Dame, er ist dünn, weil er nicht viel Nahrung braucht.“, antwortete Shahan Gomidas: „Ein wenig Brei nur, ein wenig gesalzener Fisch. Die Unterhaltungskosten sind überschaubar. Und Platz ist in der kleinsten Hütte.

    Dein Alter kenne ich natürlich nicht, werte edle Kundin, doch alle meine Sklaven sind von jugendlicher Frische.“, der Sklavenhändler klopfte sich bekräftigend an die Brust:

    „Und wie gesagt, er kann lesen und schreiben. Und außer Griechisch auch Latein. Und wenn er nicht kräftig ist, so ist er flink."


    Bei der preislichen Offerte von Iulia Proxima seufzte er jedoch und hob die Augen gen Himmel. Es war allerdings nur das erste Gebot bei seiner Versteigerung, und da noch kein anderer geboten hatte, wollte er auch nicht gleich einschlagen:

    „So sehr die Idee eines Gratis- Mittagessen mit leckerem aegyptischen Bier mir zusagt...Aber weißt du denn, was Griechen in Rom kosten? Mindestens das Fünffache! Und weißt du, wie schwierig es ist, welche zu bekommen, die nicht rumjammern, dass sie Bürger irgendeiner verkommenen Polis sind und eigentlich nicht versklavt werden dürfen? Der hier ist unfrei geboren, und hat also Routine.

    Hundertzwanzig das Startgebot, gnädige Dame.“


    Tiberios hörte zu, wie Iulia Proxima einhundertzehn Sesterzen auf ihn bot und tüchtig feilschte. Er schenkte ihr einen verstohlenen Blick, sie war eine schöne junge Frau mit dickem schwarzem Haar und ihr Akzent erinnerte ihn...aber nein, das war unwahrscheinlich....

    Dann erkannte Tiberios jemanden anderen in der Menge und hätte sich nicht mehr gewundert, wäre plötzlich Herakles persönlich mit seinem Löwenfell bekleidet die Straße entlang spaziert.

    Allerdings war der Neuankömmling kein Held aus der Mythologie, sondern zeigte das ihm bekannte dunkle Gesicht des Sklaven Nubius, der ihn damals in den Traiansthermen vor dem Tod durch die räuberischen Zwillingen gerettet hatte.

    Wenn es wirklich jener muskulöse Nubier war, war gewiss auch dessen Dominus nicht weit, denn sein Custos ließ ihn nie aus den Augen. Und tatsächlich - dort stand unverkennbar Dominus Viridomarus in all seiner Leibesfülle, angetan mit prächtigen Gewändern, als wäre er nie woanders gewesen als ausgerechnet in Caesarea in Cappadocia.


    Tiberios kannte den Thraker aus Roma, als er selbst noch Maiordomus der Furier und der andere Inhaber des „Duften Viri“, eines Ladengeschäftes in den Traiansthermen, gewesen war.

    Einen Moment lang hatte Tiberios solche Sehnsucht nach früher, dass es weh tat, und er schlucken musste, doch hier waren entschieden nicht der richtige Platz oder die richtige Zeit, nostalgisch zu werden. Er musste sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren, und dies hieß, einen guten Herren oder eine gute Herrin für sich einzunehmen.


    Viridomarus Miene blieb jedoch ausdruckslos, als er ihm in die Augen sah.

    Tiberios verbeugte sich leicht und senkte den Blick, da er direkt angesprochen worden war, doch im übrigen gab er nicht zu verstehen, dass er den Herren über das Imperium der wohlriechenden Essenzen je zuvor in seinem Leben getroffen hatte.


    Kyrie - o Herr“, antwortete er ihm auf Griechisch: „Ich verstehe mich aufs Schreiben, denn ich bin ein Schreiber, und ich kann auch etwas Rechnen und Buchhaltung, das ist richtig.“


    Er wurde etwas rot, da er zu begreifen meinte: Viridomarus erkannte ihn entweder wirklich nicht oder wollte ihn nicht kennen. Tiberios war ganz und gar vergessen. Alles zuvor war in einem anderen Leben gewesen, und Gomidas hatte mit seiner kleinen Ansprache Recht behalten.

    Auch Tiberios, der Sklave aus Roma*, sollte, nachdem er durch mehrere Hände gegangen war, hier verkauft werden.


    Er hatte sich gemerkt, dass der Händler, der ihn anbot, Gomidas hieß. Der Mann, der sich ab und zu mit einem großen roten Lappen den Schweiß von der Stirn tupfte, hatte noch vor der Auktionseröffnung eine kleine Ansprache gehalten, dass nun ein neues Leben für sie alle anfinge und sie am besten vergessen sollten, welches alte sie zuvor gehabt hatten. Die Sklaven nickten - was sonst sollten sie auch tun? Der Rat war nicht der schlechteste.


    Gomidas hatte auch keinen großen Bestand, nur etwa zehn Sklaven, die er den Provinzhauptstädtern anbieten wollte. Darunter waren vor allen Dingen Jungen, die nicht kräftig genug für harte Arbeit auf dem Land und Mädchen, die dafür zu hübsch schienen – Jungen und Mädchen, denn Gomidas machte alle auf seinen tabulae ein paar Jahre jünger.


    52-94827458329b5d646ad959269af78d6d23bc3b42.jpgEr begann zu werben: „Sehr geehrte Herrschaften von Caesarea im schönen Kappadokien, bitte tretet näher und seht, was ich heute von der Insel Delos mitgebracht habe: Jeder Einzelne gehorsam und wohlgestaltet und noch jung genug, zu jeder Arbeit ausgebildet oder angehalten zu werden!“


    Er winkte aus der Gruppe als ersten Tiberios, den ein Diener an seinen Handfesseln nach vorne auf die Bühne führte.

    Händler Gomidas sah auf die Wachstafel, auf der seine Notizen zu seinen Sklaven standen und dann auf die Menge der potentiellen Kauflustigen:

    „Ein Grieche, sechzehn Jahre alt, gesund, spricht und schreibt Griechisch und Latein! Rechnen kann er auch.“, rief er:

    „Tretet näher, befragt und seht ihn euch an!“

    Die Anpreisung durch den Verkäufer war unverbindlich; der Käufer selbst musste die Ware auf Mängel untersuchen, das wusste Tiberios. Das man ihn allerdings zu einem Sechzehnjährigen machte, amüsierte ihn einen Moment lang, und er schaute auf.


    Sein Blick fiel auf die Dame, die vorne stand. Sie sah aus wie eine junge Römerin, und er fand, dass sie freundlich und sehr hübsch wirkte.

    Doch der Sklavenhändler sprach schon weiter:

    „Wir beginnen bei einhundertzwanzig Denaren. Und keine Scheu, bei Shahan Gomidas gibt es keinen Schrott!“


    Sim-Off:

    * Nach wie vor weiß Tiberios nicht, dass er zwischenzeitlich freigelassen wurde

    Tiberios lauschte als er gelobt wurde mit einem stillen, in sich gekehrten Lächeln.

    Er freute sich, weil ihm gelungen war, weshalb man ihn gerufen hatte: Tarkyaris Geist zu zerstreuen, ihn abzulenken von dem, was ihn bedrückte.


    „Aias, ob ich den Namen erkenne? Der große Held der Griechen vor Troja. Teukros war sein Bruder. Der Geschichtsschreiber Strabon benennt Teukros und die Teukriden in Olba.

    Teukros und Tarku und Tarkyaris, Herr, sind heilige Namen gleichen Ursprungs, und du hast Recht, sie sind älter als Roma Aeterna, älter als Alexanders Stadt bei Aegypten, und sie sind älter als die Danaer, auch wenn wir behaupten, Aias wäre einer von uns gewesen“, sagte er lebhaft:

    „Auch in der korkyschen Grotte wird Typhoneus Tarkyaris verehrt, älter als Zeus, denn ihm brachte man noch Menschenopfer, bevor das im ganzen Imperium verboten wurde."

    Doch was war das Verbot einer neuen Verwaltung gegen die Macht uralter Tradition?

    "Also sagt man seit tausend Jahren, dass dein Geschlecht göttlich ist, Herr, doch was tust du dann unter den Sterblichen?“


    Als Tiberios das aussprach, wusste er selbst, dass er bei Herr Tarkyaris nicht bleiben konnte.

    Die Moiren hatten sein unbedeutendes Schicksal mit dem der römischen Furier verwebt. Er konnte genauso wenig zwei Herren dienen, wie Tarkyaris einen Diener akzeptieren konnte, der ihm nicht ganz und gar zu eigen war. Er hätte den Cappadokier lieben können, wäre er ihm nur früher im Leben begegnet.

    Doch um das Unabänderliche lohnte es sich nicht, unglücklich zu sein. Er ging daran, Abschied zu nehmen, denn er ahnte, dass er Herr Tarkyaris nicht wieder sehen würde, vielleicht nicht mehr in diesem Leben, doch gewiss nicht mehr auf dieser Reise:


    „Fürst von Wind und Feuer, aus dem Geschlecht der Götter“, sprach Tiberios: „Du hast mich, deinen Sklaven, mit deinem Rat geehrt, und ich danke dir von Herzen dafür."


    Noch einmal hob er den Blick, sich das edle Gesicht mit den grünen Augen einzuprägen.

    Ein wenig war es ihm, als würde er einem der Gestalten aus Homers Epen begegnen, wie sie schon lange nicht mehr unter der Sonne wandelten:

    Andra moi ennepe, Mousa, polỵtropon, hos mala polla....** Und doch musste Tarkyaris ein Mann aus Fleisch und Blut, getrieben von irdischen Leidenschaften, sein.


    Der Grieche wartete, ob er sich entfernen sollte, und er tat es mit einer tiefen Verbeugung.


    *


    Dann warteten der Fluss Pyramos und ein fremder Händler und eine mehrtägige Reise zu Wasser und zu Land, die aber diesmal keiner kleinen Myra oder Mina das Leben kosten sollte, auf ihn und dann schließlich der Sklavenmarkt von Caesarea, wo sich sein weiteres Schicksal entscheiden würde.



    Sim-Off:

    * gemäß Strabon XIV **Nenn mir Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes- Anfangsvers der Odyssee

    Hangaufwärts? Wie darf man sich das vorstellen zur damaligen Zeit?

    Mit einer archimedischen Schraube, einer cochlias oder cochleas. (Schnecke - also nicht wegen der Langsamkeit, sondern der Form) Eine Bauanleitung findet sich in dem Werk: Zehn Bücher über Architektur (de architectura libri decem) von Marcus Vitruvius Pollio.

    Das Wort Schneckenpumpe ist nicht richtig, da es keine Pumpe ist. Sie wurde durch Menschenkraft oder aber durch Wasserräder angetrieben.


    Mehr Information

    Salvete, ich kenne eine solche "Spiegelung" von der Darstellung großer römischer Zahlen - Apostrophus, der aussieht wie ein gespiegeltes C: Ↄ, (allerdings ist der Ursprung das griech. Phi.)

    Jedes Ↄ steht für eine Verzehnfachung des Zahlenwertes:

    1000 ist dann CIↃ, 10.000 CCIↃↃ etc. *,

    als Abkürzung für Centuria kannte ich es nicht, das ist wirklich interessant.


    Ich würde gerne als Vorschlag einbringen, den untersten Rang des Cursus Publicus auch für Freigelassene zu öffnen.(Wie immer ist mein Vorschlag uneigennützig)

    Aber das nur hier an dieser Stelle, damit ich das nicht vergesse.


    Damit ist das Problem noch nicht grundsätzlich gelöst. Es sei denn, alle weichen auf Brieftauben aus. :weissnix:

    Stöver, der Autor, hat ein ganzes Geflecht von Personen in verschiedenen Buchreihen, die alle in der römischen Welt spielen. Und "Die Römer - Taktiker der Macht", ein Sachbuch, ist auch von ihm

    Ich mag Quintus besonders gern, spoilere aber nicht. =)

    Sachbücher :Habe zum Geburtstag von Catherine Nixey :Heiliger Zorn - Wie die frühen Christen die Antike zerstörten, München 2017, geschenkt bekommen. Bin gespannt.

    Sozusagen die Gegenthese zu Frank Thiess"Das Reich der Dämonen " von 1941, der meinte, da wäre nicht mehr viel zu zerstören gewesen, da sich die Römer durch schlechte Regierungen und Misswirtschaft schon selbst heruntergewirtschaftet hatten .


    Wie gesagt, noch nicht damit angefangen.

    Und wie gefallen euch diese Bücher? Gut oder ein Griff ins Klo?

    Bei dem Waltraud Lewin - Buch bin ich mir unschlüssig. Mich stören die Sachfehler, doch mir gefallen die Charaktere. Am liebsten wäre mir, die Autorin würde das Buch nochmal schreiben.


    Das Brevitate Vitae mag ich auch, und auch die Briefe über Ethik an Lucilius.


    Die Prinzen von Amber hätte ich gern als Hörbuch, aber so alte Sachen werden selten vertont.

    Meintest du die "Die Chroniken von Amber. Band 1-5" mit Lesungen mit Stefan Kaminski?

    https://www.medimops.de/roger-…udio-cd-M03742403664.html

    ich lese gerade von Waltraud Levin "Herr Lucius und sein schwarzer Schwan", trotz einiger Ungenauigkeiten/Anachronismen interessant, da es römische Geschichte, also hier den Vorabend des Spartacus Aufstandes unter Aspekten des Klassenkampfes bzw aus marxistischer Sicht beschreibt. Das die Betreffenden zuweilen agieren wie Aktivisten eines Zentralkomitees ist zuweilen unfreiwillig komisch, dennoch sind die Charaktere anrührend und gut psychologisiert, besonders die beiden Hauptpersonen, der Römer Lucius und der Sklave Auletes.


    Der Roman machte mich auf eine historische Gestalt aufmerksam, über die ich kaum gehört hatte,

    den "revolutionären Stoiker" Gaius Blossius von Cumae, gemeinsam mit dem Rhetor Diophanes Lehrer der Gracchen, der Tiberius Gracchus unterstützte und mit ihm die Landreform ausarbeitete, dann fliehen musste und sich dem Aufstand von Aristonikos von Pergamon, auch dieser eine durchaus schillernde Gestalt, gegen Rom anschloss.

    Die Musik, die Musenklänge, Huldigungen an Polyhymnia und Euterpe,waren in manchen Stunden zu hören wie ein Gruß aus einer anderen Welt, die Tiberios, obwohl nicht einmal Wochen vergangen waren, fast vergessen hatte.

    Schwerelos und lieblich streiften die Melodiefetzen über Deck, und die jungen Sklaven unter Deck lauschten. Manche von ihnen weinten, als die Musik verstummte, ohne dass sie genau hätten sagen können warum.


    Als man Tiberios nun zum zweiten Mal eine Schüssel Wasser und Milch brachte, und er zu Tarkyaris gerufen wurde, nutzte er das aus und wusch sich so gründlich wie er das ohne strigilis oder Salböl vermochte, auch seine Haare.

    Dann widerstrebte es ihm, schmutzige Kleidung auf einen sauberen Leib zu ziehen, so dass er sich seine Tunika, nur um die Schultern schlang und nur seine perizoma wieder anlegte.

    Da kyriosTarkyaris seine Anwesenheit verlangte, überlegte er, was von ihm gewünscht werden konnte. Etwas Schlimmes erwartete ihn wohl nicht sofort, sonst wäre es nicht sinnvoll gewesen, dass er sauber sein sollte. Das Schiff fuhr auch nicht unter einem Unwetter, welches ein größeres Opfer an Poseidon erfordert hätte..... wieder unterbrach Tiberios seinen eigenen Gedankengang. Er wusste schlicht nicht, was ihn erwartete. Tarkyaris war ihm undurchschaubar. Sowohl Kapitän Doniy als auch der düstere Baraq hatten ihn offensichtlich gefürchtet.


    Der Himmel wölbte sich über dem Deck in tiefem Blau, die Luft war belebend, salzig und frisch. Tiberios atmete tief ein, er war nicht so geblendet wie beim ersten Mal auf Deck, da die Spalte in der Wand, seine alte Freundin, ihm ab und an Sonnenschein gespendet hatte.
    ...Die Holzplanken unter seinen Füßen, das Wiegen der Schiffleibes, das Ächzen der Taue und Knattern des Segels, die Stimmen der Seeleute.....


    Er fühlte, wie das Leben in ihn zurückkehrte, wunderbares Leben.

    Wie nur sollte man ein Philosoph sein, wie frei von Gemütsbewegungen, wenn man so gerne existierte?


    Dem jungen Sklaven war alles andere als stoisch zumute. Sein Blut strömte rascher durch seine Adern, seine Wangen röteten sich, und sein Herz schlug ihm bis zum Halse, als er daran dachte, wieder vor Tarkyaris zu stehen. Tarkyaris war schlank und von mittlerer Größe, er sprach sehr gewähltes koine, sein Auftreten war weder lärmend noch barbarisch. Der Piratenkapitän hatte ihn "rex", König genannt.

    Nicht nur undurchschaubar war er ihm, sondern geradezu beunruhigend.


    Tiberios begab sich zur Kapitänskajüte, klopfte sachte an, trat ob der Schiffsbewegung etwas schwankend ein und verneigte sich:

    „Chaire o Herr Tarkyaris“, sagte er leise.


    Sein neuer Dominus saß in seinem Stuhl.
    Er war so bleich als hätte er Bleiweiß aufgetragen, aber das war keine Schminke, sondern der Hautton eines Mannes, der litt. Seine grünen Augen schienen dem jungen Griechen wie ein Morast, etwas Altes und Unaussprechliches lag auf ihrem
    Grund; etwas, das Linderung suchte.

    „Unterhalte mich“, befahl der Fürst auch schon.


    Tiberios war also gerufen worden, das Unaussprechliche zu bannen und zu vertreiben, zumindest für ein Weilchen.

    Es gab Musikanten und Tänzerinnen an Bord, jeder einzelne begabt, hervorragend und anmutig. Wenn Tarkyaris sie nicht gerufen hatte, dann erwartete er etwas anderes, als ihm ein choritis* bieten mochte.


    „Lass mich zunächst für deine Bequemlichkeit sorgen, Herr“, sagte Tiberios und schaute sich um, er brauchte ein kleines Kissen, kein großes Polster, welches den Sitzenden zwang, eine gebeugte Haltung einzunehmen, sondern eines, das das Kreuz stützte, damit Tarkyaris freier atmen konnte. Da er keines erblickte, das seinen Zwecken diente, nahm er seine Tunika von der Schulter und rollte sie ein:


    „Ich kann dir etwas vortragen, ein Gedicht oder einen Auszug aus einem philosophischen Werk, auf Griechisch oder auf Latein.
    Auch einige Theaterstücke habe ich gerlernt.
    " , sprach der Sklave, während er behutsam die Rolle seinem Herren ins Kreuz schob:

    „Oder möchtest du dich über dies und jenes unterhalten?"


    Tiberios dachte kurz, dass dies die gefährlichste aller Optionen war. Seine Stellung war nicht die eines vertrauten Dieners. Sollte Tarkyaris tatsächlich ins Reden kommen, und er plötzlich der Mitwisser von Geheimnissen sein, wäre es mit ihm vorbei.

    Est sine dubio stultum, quia quandoque sis futurus miser, esse iam miserum*, dachte er an Seneca und beschloss also, über jegliche Entscheidung seines neuen Herren weder glücklich noch unglücklich zu sein, so wie auch ein Stein, wenn er geworfen wurde, weder das eine noch das andere war:


    "Wir haben Myra passiert, nicht wahr? Und Anemurion und Korykos, dort wo Typhon geboren wurde. Ich weiß es nicht sicher, ich riet es nur anhand von Silhouetten, der Entfernung und aus dem, was ich über diese Hafenstädte gelesen habe….“

    Er trat einen Schritt zurück:


    „Nach was steht dir der Sinn, o déspota? Etwas Heiteres vom Lande? Die Kinder singen von altersher, wenn die Schwalben im Frühling zurückkehren...“,

    er begann den Anfang einer chelidónisma ***, eines Schwalbenliedes:

    Ēlth’ ēlthe chelidōn.....

    es kam, es kam die Schwalbe...

    schöne Zeiten bringend und schöne Jahre,
    auf dem Bauche weiß
    und auf dem Rücken schwarz.

    In Alexandria kamen die Schwalben allerdings im Winter. Und der warme, regenfeuchte Zephyros, der Westwind, ist der anmutigste der Winde...und doch, auch er kennt Eifersucht und lenkte den diskos des göttlichen Apollon so, dass er den Hyakinthos tötete, den er doch auch liebte.

    Das Fest Hyakinthos zu Ehren, die Hyakinthia von Amyklai, ist am ersten Tag traurig, da der Knabe beweint wird, und am Folgetag fröhlich, denn man feiert seine Auferstehung....."


    Tiberios lächelte nun verhalten und seine Augen glänzten, während er wie versprochen über dies und jenes plauderte.

    Da sie nur zu zweit waren, hielt er sich auch bereit, dem Tempelfürsten aufzuwarten, auf einen Wink mit dem Becher oder eine Geste hin, und ihm zuzuhören, und er bat:

    „Würdest du mir auch über die Schönheiten deiner Heimat berichten, Herr?“



    Sim-Off:

    *Chorsänger
    **Es ist unstreitig töricht, weil man vielleicht einmal unglücklich sein wird, es deswegen jetzt schon zu sein.Sen.epist.24,1
    ***Chelidonisma
    **** Hyakinthia

    Myra oder Mina oder so ähnlich



    Unter den Kindern gab es ein kleines Mädchen, es war noch sehr jung, vielleicht erst zwei, vielleicht schon drei Jahre alt, das noch nicht richtig seinen Namen sagen konnte; die anderen Kinder sagten, dass es Myra wie die Stadt, die sie passiert hatten oder Mina hieße. Es war ein schüchternes, kleines Ding. Soweit Tiberios es mitbekam, hatte sie keine Verwandten an Bord.


    Die Corbita hatte o Issokos kolpos oder das Mare Issicum erreicht und somit die Provinz Cilicia, Kilikien. Ihr zu Rechten schraubte sich das südlichste, weit vorladende und sichtbare Vorgebirge des rauhen Kilikiens und zugleich das südlichste Kleinasiens in den blauen wolkenlosen Himmel. Die gleichnamige Stadt am Ostabhang hieß Anemurion.

    Gegenüber in der Ferne lag Kypros - Zypern, zwar zwei Tagesreisen entfernt, aber doch ab und zu sichtbar wie ein bläulicher Schatten, der sich aus spiegelglatter Meeresoberfläche erhob.


    Während Tiberios über Anemurion nichts zu sagen wusste, kannte er über Zypern, welches voller Wälder und reich gesegnet an Klatschmohn, Anemonen, Narzissen und Orchideen war, viele Geschichten. War die Insel doch der Göttin der Liebe heilig.

    Muse, sage mir die Werke der goldenen Aphrodite,

    Herrin auf Kypros;
    süßes Verlangen weckt sie den Göttern,

    überwältigt der sterblichen Menschen Geschlechter*


    Myra oder Mina aß schlecht und auf halber Strecke zwischen den Küstenstädten Anemurion und Korykos wollte sie auch kein Wasser mehr trinken. Niemand wusste, ob sie krank war, sie klagte nicht und sie sprach nicht. Ihr ganzes Gesicht fiel spitzmäusig ein, und ihre Augen lagen tief in ihren Höhlen.

    Das Mädchen starb so ganz still und leise, als wäre es nur von einem Zimmer in ein anderes gehuscht.

    Tiberios, der selten um Worte verlegen war, bemerkte es als erster. Er fand keine Worte, er ging die Stiege hoch und sagte den Piraten Bescheid. Da er der Älteste war und die Kinder ruhig hielt, ließ man ihn gewähren – wohin hätten sie auch laufen sollen?


    Der Pirat nickte nur, nicht einmal unfreundlich, sondern ungeheuer gleichgültig; wenig später kamen zwei von ihnen, holten den kleinen Leichnam, um ihn über Bord zu werfen.


    Tiberios hatte nie Mitleid mit anderen Unfreien gehabt, und das hatte er auch jetzt nicht. Sein Leben als furischer Maiordomus hatte sich von denen, die auf den großen Latifundien oder in Bergwerken oder auch bei der Straßenreinigung dienen mussten, immer grundlegend unterschieden; natürlich wollte jeder gut behandelt oder sogar geliebt werden, aber niemals hatte er die Masse der gesichtslosen servi als seinesgleichen empfunden. Wäre er zur Zeit des Sklavenaufstandes bereits in Roma gewesen, hätte er sich der Rebellion gewiss nicht angeschlossen. Tarkyaris jedoch hatte die anderen als „seinesgleichen“ genannt, und der Grieche überlegte, ob da etwas Wahres dran war: Waren sie denn seinesgleichen? War Myra oder Mina seinesgleichen?


    „Wo ist Mina?“, fragte eines der älteren Kinder, als er zurückkam, und Tiberios erzählte ihnen statt einer Antwort die Geschichte von Kleobis und Biton, den Söhnen der Kydippe.

    „Es waren einmal zwei Brüder, die waren sehr stark und liebten sich und ihre Mutter. Ihre Mutter war eine Priesterin der Hera und sollte den Opferwagen fahren.

    Da ihre Ochsen noch nicht vom Feld zurückgekehrt waren, spannten sich die Jungen ein und zogen den Wagen die Strecke bis zum Heiligtum. Dort schliefen sie müde ein, und ihre Mutter betete zu Hera, sie solle ihnen das Beste geben, was ein Mensch erhalten könnte.

    Daraufhin sind sie nie wieder aufgewacht.

    Thnatoisi me phynai pheriston - Für die Sterblichen ist nicht geboren zu werden das Beste, schreibt schon Bakchylides von Keos **, doch wenn das nicht möglich ist, ist es wohl das zweitbeste, jung zu sterben.“


    Er lächelte leichthin den Kindern zu.


    Myra oder Mina war tot und würde niemals wiederkehren. Sie hatte wenig bedeutet, leicht war sie gegangen, und doch: In dieser Nacht fühlte sich der Sklave unter einem grausamen, kalten Himmel. Das Grauen angesichts der Endlichkeit der Existenz nahm ihm fast den Atem. Wie würde es sein, wenn die kleine Stimme verstummte, die ihm permanent sagte: Du bist hier.

    Und er erinnerte sich an die Worte des Magus Anis von Alexandria, in dessen Halle er einst an einer Totenbeschwörung teilgenommen hatte:

    „Die Toten sind wie gefallene Blätter im Herbst,

    Schatten ihres früheren Selbst….

    ....Man erzählt, ein ehemaliger König

    auf Erden würde seine ganzen Reichtümer, die er während seiner
    Herrschaft angehäuft hat, freudig eintauschen
    ,

    um nur noch
    einmal eine Stunde zu leben,

    und wenn es als der Geringste
    seiner Sklaven wäre.“***


    Erst als der Morgen graute, fand Tiberios seine Gemütsruhe wieder. Sie näherten sich der nächsten kilkilischen Stadt, und er nahm an, dass es Korykos war, welches der römische Geograph Pomponius Mela**** vor ungefähr achzig Jahren beschrieben hatte.


    Die korykion andron, zwei tiefe Grotten, die in der Nähe der Stadt lagen, waren der Sage nach Wohn - und Geburtsort von Typhon, dem schrecklichen Sohn der Gaia mit Tartaros, der geboren worden war, um die Niederlage der Titanen an den olympischen Göttern zu rächen.


    Tiberios erzählte am nächsten Nachmittag den Kindern eine ziemlich aufregende und lange Geschichte von Typhon, dem Monster mit dem Schlangenunterleib und den hundert schlangenförmigen Armen, dem es gelang, dem großen Zeus seine Sehnen herauszuschneiden und seinen Blitz zu stehlen, und wäre Hermes Zeus nicht beigestanden hätte, hätte der Zweikampf für den Göttervater schlecht enden können...

    „Und das ist alles hier in Korykos geschehen.“, endete er: "Aber keine Sorge, Typhon kann uns nichts tun. Er ist nun weit weg von hier. Zeus hat ihn unter dem Aetna, das ist ein Berg in Sicilia, eingekerkert.“


    Es schien so, als wäre Myra oder Mina schnell vergessen gewesen.
    Aber sie blieb etwas, was tief im Inneren des Griechen sitzen blieb so wie Zeus hilf und waffenlos auf dem Grund der kilkilischen Grotte gesessen hatte.


    Sim-Off:

    * Homer:Ode an Aphrodite
    **Bakchylides von Keos
    *** Diese Geschehnisse finden sich hier
    **** Pomponius Mela

    „Meinst du, ertragen zu werden mit geschlossenen Augen, das ist das, was ich suche? Meinst du, ich könnte mir nicht die schönsten pornoi herrufen lassen, und jeder einzelne von ihnen würde mir weismachen, dass er mich, solange es dauert, mit stürmischer Leidenschaft liebt?“


    Philippos war wütend geworden; er funkelte Athenodoros Schreiber an, ging auf an und ab.

    Tiberios stand ganz still, seine Arme hingen an den Seiten herab, blass und geduckt war er gegenüber solchem Zorn.


    Dabei waren die letzten Tage wie ein Traum gewesen und das lag nicht an der angenehmen Umgebung oder daran, dass er bedient wurde, als sei er selbst ein Herr.

    Es lag an Philippos Gegenwart. Er lobte erst seine Handschrift und die Eleganz seiner Übersetzung, dann aber wollte er auch andere Werke, den Anfang von Zenons politeia, einen Abschnitt aus Platons Dialogen,ein Gedicht von Eratostenes oder was gerade an jenem Tag sein Interesse weckte, mit ihm lesen und ihm immer wieder Fragen stellten:

    Was hast du davon behalten? Was denkst du darüber? Kannst du es in deinem Leben anwenden und wenn ja, wie und wo und wann? Und wenn du es verwirfst, warum?


    Es war das erste Mal, dass Tiberios so nach seiner Meinung gefragt wurde, er wusste einiges zwar, aber das meiste hatte immer nur Abschreibübungen gedient. Die Fragen kamen schnell, und Philippos Nähe verwirrte ihn. Seine raschen Bewegungen, seine immer etwas nachlässige Stimme, sein Augenaufschlag, wenn er den Nacken streckte, und wenn er den Kopf wegdrehte, dann erregte etwas seinen Unwillen; Tiberios kannte bald jede Geste, jede Kleinigkeit, als hätte sie sich in seinen Kopf eingebrannt.


    "Das oberste Ziel eines idealen Menschen sei stets die Tugendhaftigkeit und der gelassene Umgang mit den Wechselfällen des Lebens“.*


    „Du meinst galene? Die Seele soll unbewegt wie die Meeresoberfläche an stillen Tagen sein? Ja, das ist gewiss nützlich, wenn ich Ärger bekomme...“


    Für dich das Nützlichste überhaupt.“, antwortete Philippos: „Denn wenn man nicht handeln kann, so ist es das Beste, gelassen anzunehmen, was du nicht ändern kannst.“


    „Aber führt das nicht zu Trägheit? Ich kann so vieles nicht ändern, doch wenn ich alles einfach hinnehmen soll, habe ich nicht einmal mehr Veranlassung, mich morgens von meinem Schlafplatz zu erheben.“


    „Daher ist der erste Teil des Satzes wichtig: Da spricht Zenon von Kition von Tugendhaftigkeit. Was ist Tugend? Das Schöne und das Gute - kalogatheia? arete?"


    Arete- Vortrefflichkeit?“ , Tiberios schaute zweifelnd, ihm erschien das für sich nicht angemessen, er war nur ein Diener.


    „Aien aristeuein, immer der Beste sein. Warum solltest nicht auch du nach dem Besten streben? Verrichte deinen Dienst so gut wie du nur kannst! Nimm keine der schlechten Eigenschaften an, die man Sklaven nachsagt. Nichts liegt an dir, doch das liegt an dir. "


    Tiberios hörte zu, obwohl er bezweifelte, dass er Philippos hehren Ansprüchen gerecht werden konnte. Er ließ sich ganz gerne treiben.Er war gierig nach Süßigkeiten und nahm sich da auch, was ihm nicht gehörte. Er versuchte Problemen aus dem Weg zu gehen, und Bestrafungen natürlich auch. Die despoina, die Herrin, war flink mit ihrer Haarnadel, wenn ihr etwas nicht passte. Auch Sklaven hatten ihre kleinen Möglichkeiten, sich zu rächen: Da verhedderte sich plötzlich kostbares Garn oder - aber das war Anippes Einfall gewesen - ein ziemlich großer Frosch sprang aus ihrer pyxis, dem Schmuckbehälter.


    Tiberios kam es vor, als habe er sehr viele jener schlechten Eigenschaften, die man seinem Stand zuschrieb. Philippos mahnte ihn eindringlich, sich besser zu benehmen.


    Doch nichts liebte der junge Sklave so sehr wie die Stelle aus den Pythagorikà chrysa épe ** über die Freundschaft:


    „Von den andern mache dir den zum Freund, welcher der Vortrefflichste ist.

    Lass dich erweichen von seinen milden Worten und nützlicheTaten…"

    denn das schien ihm, als würde dort Philippos selbst beschrieben, der ihm nun aber bittere Worte an den Kopf warf. Hatte er ihm nicht gesagt, er hätte nichts zu fürchten unter seinem Dach? Weshalb wich Tiberios ängstlich zurück? Er hatte

    Philippos, der nun annehmen musste, er vertraue seinem Versprechen nicht, gekränkt.

    Dieser hob nun die Hand - ein durch und durch schwarzer Blick - und er sagte:

    „Du kannst dich zurückziehen, Schreiber!“, und er drehte den Kopf fort. Wie kalt seine Stimme klang, wie hochmütig er aussah. Es war wie am Anfang, als er sich vor ihm gefürchtet hatte.


    Aber er war nicht mehr ganz der, als der er in das Haus gekommen war. Anstatt sich zu verneigen und wortlos zu gehen, antwortete er mit einem Zitat:

    Entzweie dich nicht mit deinem Freund wegen eines kleinen Vergehens… so geht der Vers bei den Pythagoraern doch weiter, nicht wahr?“ Ihm stiegen Tränen in die Augen.


    Und da drehte sich Philippos zu ihm um, und ein Lächeln wie ein Blitz aus dunkelster Nacht erhellte sein Gesicht:

    „So will ich mich nicht entzweien, denn es gab kein Vergehen!“, sprach er: „Darf ich deine Tränen trocknen und dich trösten – Freund!“, er breitete die Arme aus.


    Tiberios stürzte zu ihm hin. Er zitterte nun am ganzen Körper. Nicht aus Furcht, sondern weil er es die ganze Zeit so ersehnt hatte: Philippos berühren zu dürfen, ihm durch das Haar fahren, von ihm umarmt zu werden. Und Philippos küsste ihn, streichelte ihn, umarmte ihn, flüsterte ihm zu:

    „Sei mein Eromenos*** bitte, auch wenn ich dir nicht nach alter Tradition einen Hasen schenken werde...“ Tiberios ließ sich recht ausführlich trösten...


    Die Wochen flogen dahin. Und wenn er sich über sein eigenes Zimmer gefreut hatte, so benutzte er es nun nie mehr. Philippos und er unterhielten sich lange, sie lasen die Köpfe zusammengesteckt in der Bibliothek, sie badeten und spielten Senet, Tiberios arbeitete an seiner Übersetzung, die er jedoch nicht ganz beenden sollte, weiter; sie liebten sich, und sie schliefen nachts aneinander geschmiegt in Philippos domation, einer dem anderen zur Freude.



    Mit dem Wissen, aus der Welt, die Philippos ihm erschlossen hatte, nie wieder vertrieben werden zu können, wenn er sich nur mühte und um seiner selbst Willen geliebt worden zu sein, schieden sie voneinander, als die vereinbarte Zeit verstrichen war.


    Tiberios weinte beim Abschied sehr, und sein Freund wusste nicht recht, wie er ihn trösten sollte, er klopfte ihm auf die Schulter und schenkte ihm sämtliches Schreibzeug, das er benutzt hatte und auch welche von den Papyrusrollen.

    Philippos war kein sentimentaler Mann. Er gab Tiberios an seinen Herren Athenodoros zurück. Er versuchte weder ihn wieder zu sehen noch ihn freizukaufen. Und doch: Er hatte ihm so viel gegeben, vielleicht sogar mehr, als er beabsichtigt hatte.


    Als Tiberios in sein Zuhause zurückkehrte, machte ihn sein Herr wenig später zum Erzieher seines Sohnes, des jungen Alexandros Dorion.


    Sim-Off:

    * Von Zenon von Kitions, Begründer der Stoa, Werken ist keines erhalten, die Zitate stammen von Schülern oder Geschichtsschreibern
    **Die erst in der Spätantike als solche bezeichnenden Goldenen Verse des Pythagoras
    *** hier griech. Geliebter.

    Tiberios, der den Befehl bekommen hatte, sich zurückzuziehen, verneigte sich tief und wortlos. Dann ging er, während immer noch das Geräusch der zufallenden Tür in seinem Geist widerhallte.


    Und auch der feste Vorsatz, immer und überall das Gute zu sehen „Wenigstens hat mich Tarkyaris nicht über Bord werfen lassen“, verhinderte nicht das Gefühl von selbst herbeigeführtem Scheitern.


    Dieser grünäugige Kapitän im Zentrum seiner Macht war niemand, der seine Zeit mit Zauderern verlor; Laues spie er aus.
    Tiberios kroch zurück in den Schiffsbauch, woher er gekommen war, und schlang die Arme um seine Knie. Er starrte in die Dunkelheit.
    Auch nicht jeder Schreiber hatte ein gutes Leben; es gab unzählige, die in den Kopierstätten dahinvegetierten, buchstäblich an ihren Pult gekettet, im Sonnenlicht oder beim Schein einer Öllampe. Stunde um Stunde in gebeugter Haltung Schriftrollen kopieren und kaum aufstehen dürfen, ein Leben, dass die Betreffenden fast so zu Grunde richten konnte wie der Dienst in einem Lupanar. Austauschbar sein wie ein Zahnrädchen in einem der automata, die er aus Alexandria kannte, dem jungen Sklaven grauste es tüchtig.


    Dann dachte er an die Menschen, die er in seinem früheren Leben gekannt hatte, und zu seiner eigenen Überraschung wünschte er sich am sehnlichsten Scatos Sklaven Terpander herbei. Vielleicht weil Terpander kein Mitgefühl gezeigt hätte, im Gegenteil, Hohn und Spott hätte der alte Spartiate über Tiberios Haupt ausgegossen und ihm genüsslich vor Augen geführt, wie dumm er gewesen war. Tiberios fand sich selbst gerade auch fürchterlich dumm.


    Die Corbita trug ihn derweil immer weiter nach Osten, immer weiter weg von Roma. Ab und zu sah er durch die Spalte in der Schiffswand. Sie allein gab ihm die Information, ob Tag oder Nacht war oder ob Land in der Nähe oder nur Wasser sie umgab. Diese unruhig gezackte Öffnung, durch das das Sonnenlicht flirrte und Kringel auf seine Hände malte, wurde zum Mittelpunkt seines Daseins.

    Nach dem zweiten Sonnenaufgang tauchte eine neue Insel schemenhaft auf; bergig, zerklüftet; eine Ahnung von Kiefernduft mischte sich in die Ausdünstung des Viehs und der Menschen, und Tiberios vermutete, dass sie Rhodos passierten.


    Er erzählte den Kindern eine neue Geschichte: "Es war einmal eine schöne Nymphe namens Rhode, die besaß eine fruchtbare Insel mit Bergen, Wasser und Kieferwäldern. Als Helios mit seinem Sonnenwagen vorbeifuhr, da sah er….“


    „...Rhode und verliebte sich in sie?“, fragte eines der Kinder.


    Tiberios musste lachen: „Nein, nicht sofort. Ihm gefiel nur die Insel. Er erbat sie sich von Göttervater Zeus und nannte sie Rhodos nach der Nymphe. Später erst verliebte er sich in Rhode, heiratete sie und sie hatten sieben Söhne, die heliadai. Der Älteste der Heliadai hatte wiederum drei Söhne: Kameiros, Ialysos und Lindos, und jeder von ihnen gründete eine Stadt. Die Städte existieren bis auf den heutigen Tag.“


    „Dürfen wir die Städte sehen?“


    Heute nicht, ein andermal vielleicht.“, erwiderte Tiberios.


    Nach Art der Schiffer sich in Landesnähe haltend fand die Corbita des Tempelfürsten ihren Weg. Ab und zu zogen näher oder ferner Felsen vorbei. Aber Tiberios kannte die Namen der Orte nicht.

    Erst am siebten Tag nach Rhodos, wenn er sich nicht verzählt hatte, zeigte ihm seine Freundin, der Riss in der Planke, steil aufragende Felsenformationen, die wie von Menschenhand herausgemeißelte Ausbuchtungen besaßen.

    Tiberios vermutete, dass sie die Provinz Lycia et Pamphylia erreicht hatten.

    Vielleicht war dies die Stadt Myra, eine alte Gründung des Volkes der Lykier, die berühmt für ihre in luftigen Höhen errichteten Gräber war, und das hier waren einige der Gräber. Die Lykier glaubten anscheinend an eine Art Vogel-daimon, der sie nach ihrem Tod in die Himmel trug.

    Doch die im Schiffsbauch ausharrenden Sklaven bekamen von Myra, seinen Grabstätten oder dem Heiligtum der Artemis Eleutheris nichts weiter zu Gesicht.