„Meinst du, ertragen zu werden mit geschlossenen Augen, das ist das, was ich suche? Meinst du, ich könnte mir nicht die schönsten pornoi herrufen lassen, und jeder einzelne von ihnen würde mir weismachen, dass er mich, solange es dauert, mit stürmischer Leidenschaft liebt?“
Philippos war wütend geworden; er funkelte Athenodoros Schreiber an, ging auf an und ab.
Tiberios stand ganz still, seine Arme hingen an den Seiten herab, blass und geduckt war er gegenüber solchem Zorn.
Dabei waren die letzten Tage wie ein Traum gewesen und das lag nicht an der angenehmen Umgebung oder daran, dass er bedient wurde, als sei er selbst ein Herr.
Es lag an Philippos Gegenwart. Er lobte erst seine Handschrift und die Eleganz seiner Übersetzung, dann aber wollte er auch andere Werke, den Anfang von Zenons politeia, einen Abschnitt aus Platons Dialogen,ein Gedicht von Eratostenes oder was gerade an jenem Tag sein Interesse weckte, mit ihm lesen und ihm immer wieder Fragen stellten:
Was hast du davon behalten? Was denkst du darüber? Kannst du es in deinem Leben anwenden und wenn ja, wie und wo und wann? Und wenn du es verwirfst, warum?
Es war das erste Mal, dass Tiberios so nach seiner Meinung gefragt wurde, er wusste einiges zwar, aber das meiste hatte immer nur Abschreibübungen gedient. Die Fragen kamen schnell, und Philippos Nähe verwirrte ihn. Seine raschen Bewegungen, seine immer etwas nachlässige Stimme, sein Augenaufschlag, wenn er den Nacken streckte, und wenn er den Kopf wegdrehte, dann erregte etwas seinen Unwillen; Tiberios kannte bald jede Geste, jede Kleinigkeit, als hätte sie sich in seinen Kopf eingebrannt.
"Das oberste Ziel eines idealen Menschen sei stets die Tugendhaftigkeit und der gelassene Umgang mit den Wechselfällen des Lebens“.*
„Du meinst galene? Die Seele soll unbewegt wie die Meeresoberfläche an stillen Tagen sein? Ja, das ist gewiss nützlich, wenn ich Ärger bekomme...“
„Für dich das Nützlichste überhaupt.“, antwortete Philippos: „Denn wenn man nicht handeln kann, so ist es das Beste, gelassen anzunehmen, was du nicht ändern kannst.“
„Aber führt das nicht zu Trägheit? Ich kann so vieles nicht ändern, doch wenn ich alles einfach hinnehmen soll, habe ich nicht einmal mehr Veranlassung, mich morgens von meinem Schlafplatz zu erheben.“
„Daher ist der erste Teil des Satzes wichtig: Da spricht Zenon von Kition von Tugendhaftigkeit. Was ist Tugend? Das Schöne und das Gute - kalogatheia? arete?"
„Arete- Vortrefflichkeit?“ , Tiberios schaute zweifelnd, ihm erschien das für sich nicht angemessen, er war nur ein Diener.
„Aien aristeuein, immer der Beste sein. Warum solltest nicht auch du nach dem Besten streben? Verrichte deinen Dienst so gut wie du nur kannst! Nimm keine der schlechten Eigenschaften an, die man Sklaven nachsagt. Nichts liegt an dir, doch das liegt an dir. "
Tiberios hörte zu, obwohl er bezweifelte, dass er Philippos hehren Ansprüchen gerecht werden konnte. Er ließ sich ganz gerne treiben.Er war gierig nach Süßigkeiten und nahm sich da auch, was ihm nicht gehörte. Er versuchte Problemen aus dem Weg zu gehen, und Bestrafungen natürlich auch. Die despoina, die Herrin, war flink mit ihrer Haarnadel, wenn ihr etwas nicht passte. Auch Sklaven hatten ihre kleinen Möglichkeiten, sich zu rächen: Da verhedderte sich plötzlich kostbares Garn oder - aber das war Anippes Einfall gewesen - ein ziemlich großer Frosch sprang aus ihrer pyxis, dem Schmuckbehälter.
Tiberios kam es vor, als habe er sehr viele jener schlechten Eigenschaften, die man seinem Stand zuschrieb. Philippos mahnte ihn eindringlich, sich besser zu benehmen.
Doch nichts liebte der junge Sklave so sehr wie die Stelle aus den Pythagorikà chrysa épe ** über die Freundschaft:
„Von den andern mache dir den zum Freund, welcher der Vortrefflichste ist.
Lass dich erweichen von seinen milden Worten und nützlicheTaten…"
denn das schien ihm, als würde dort Philippos selbst beschrieben, der ihm nun aber bittere Worte an den Kopf warf. Hatte er ihm nicht gesagt, er hätte nichts zu fürchten unter seinem Dach? Weshalb wich Tiberios ängstlich zurück? Er hatte
Philippos, der nun annehmen musste, er vertraue seinem Versprechen nicht, gekränkt.
Dieser hob nun die Hand - ein durch und durch schwarzer Blick - und er sagte:
„Du kannst dich zurückziehen, Schreiber!“, und er drehte den Kopf fort. Wie kalt seine Stimme klang, wie hochmütig er aussah. Es war wie am Anfang, als er sich vor ihm gefürchtet hatte.
Aber er war nicht mehr ganz der, als der er in das Haus gekommen war. Anstatt sich zu verneigen und wortlos zu gehen, antwortete er mit einem Zitat:
„Entzweie dich nicht mit deinem Freund wegen eines kleinen Vergehens… so geht der Vers bei den Pythagoraern doch weiter, nicht wahr?“ Ihm stiegen Tränen in die Augen.
Und da drehte sich Philippos zu ihm um, und ein Lächeln wie ein Blitz aus dunkelster Nacht erhellte sein Gesicht:
„So will ich mich nicht entzweien, denn es gab kein Vergehen!“, sprach er: „Darf ich deine Tränen trocknen und dich trösten – Freund!“, er breitete die Arme aus.
Tiberios stürzte zu ihm hin. Er zitterte nun am ganzen Körper. Nicht aus Furcht, sondern weil er es die ganze Zeit so ersehnt hatte: Philippos berühren zu dürfen, ihm durch das Haar fahren, von ihm umarmt zu werden. Und Philippos küsste ihn, streichelte ihn, umarmte ihn, flüsterte ihm zu:
„Sei mein Eromenos*** bitte, auch wenn ich dir nicht nach alter Tradition einen Hasen schenken werde...“ Tiberios ließ sich recht ausführlich trösten...
Die Wochen flogen dahin. Und wenn er sich über sein eigenes Zimmer gefreut hatte, so benutzte er es nun nie mehr. Philippos und er unterhielten sich lange, sie lasen die Köpfe zusammengesteckt in der Bibliothek, sie badeten und spielten Senet, Tiberios arbeitete an seiner Übersetzung, die er jedoch nicht ganz beenden sollte, weiter; sie liebten sich, und sie schliefen nachts aneinander geschmiegt in Philippos domation, einer dem anderen zur Freude.
Mit dem Wissen, aus der Welt, die Philippos ihm erschlossen hatte, nie wieder vertrieben werden zu können, wenn er sich nur mühte und um seiner selbst Willen geliebt worden zu sein, schieden sie voneinander, als die vereinbarte Zeit verstrichen war.
Tiberios weinte beim Abschied sehr, und sein Freund wusste nicht recht, wie er ihn trösten sollte, er klopfte ihm auf die Schulter und schenkte ihm sämtliches Schreibzeug, das er benutzt hatte und auch welche von den Papyrusrollen.
Philippos war kein sentimentaler Mann. Er gab Tiberios an seinen Herren Athenodoros zurück. Er versuchte weder ihn wieder zu sehen noch ihn freizukaufen. Und doch: Er hatte ihm so viel gegeben, vielleicht sogar mehr, als er beabsichtigt hatte.
Als Tiberios in sein Zuhause zurückkehrte, machte ihn sein Herr wenig später zum Erzieher seines Sohnes, des jungen Alexandros Dorion.