Gracchus et Corvinus
Während in anderen Ecken dieses Raumes über Dinge gesprochen wurde, welche - wie es Gerüchte so an sich hatten - nur zu einem Drittel der Wahrheit entsprachen, erfreute ich mich des Gesprächs mit Flavius Gracchus. Ganz wie Aquilius stets von ihm schwärmte, so erschien er mir auch zu sein. Was er über die alten Fälle enthüllte, verblüffte mich zugegebenermaßen, doch meinte ich mich zu erinnern, einen Artikel in der acta diurna gelesen zu haben, welcher sich mit der spektakulären Entdeckung uralter Todesfälle - und vor allem des nicht verteilten Erbes der Verstorbenen - befasst hatte. "Es stand, soweit ich mich erinnere, sogar in der acta. Waren nicht auch berühmte Persönlichkeiten unter diesen unbehandelten Fällen? Namen wie Claudius Macrinius und dergleichen."
"Ah, ja, Männer, die ein Amt im cursus honorum als lästiges Muss ansehen, gibt es bedauerlicherweise tatsächlich immer wieder. Aber glücklicherweise sind auch solche vertreten, die ihr Leben und ihr Können ganz dem Amt widmen, welches sie bekleiden. Mir fällt spontan Ennius Oppus ein. Einen erhabeneren decemvir habe ich bisher nicht kennen gelernt. Ich nehme an, er wird eines Tages ebenso zu den Großen des imperium zählen wie die meisten der Anwesenden hier." Flavius Gracchus schloss ich hier nicht aus, doch ich erwähnte ihn auch nicht gesondert. Immerhin wusste ich, wie es mir selbst erging, wenn mich jemand über den Klee lobte - rechtens oder zu Unrecht; und gewiss würde er auch so erahnen, dass ich ihn in meine Äußerung einschloss. In jenem Moment kam Tilla heran, die Wein organisiert hatte. Ich deutete dem Flavier, sich zu bedienen, und nahm mir nach ihm einen Becher des verdünnten Weines vom Tablett. Tilla schenkte ich ein kurzes Lächeln - ich war zufrieden mit ihrem verhalten bis hierhin. Allmählich aber begann ich, hungrig zu werden. Wann der Gatgeber wohl zu Tisch bitten würde?
Ich bemerkte ebenfalls die stetig steigende Gästezahl. Allmählich füllte sich der Saal, und hier und dort gewahrte man ein bekanntes Gesicht. "Ich tippe eher auf die Trägheit vieler junger Männer", erwiderte ich. "Und ein weiterer, wichtiger Punkt ist der Bekanntheitsgrad, den es idealerweise zu erlangen gilt, ehe man sich zur Wahl aufstellen lässt. Gerade wir Patrizier haben es da nicht gerade leichter als noch vor ein paar Jahren, hat doch die Umstrukturierung uns zahlreiche Betätigungsfelder geraubt, um den niederen Ständen einen breiteren Fächer bieten zu können. Im Endeffekt bleibt nur mehr der Dienst an den Göttern, wecher sicherlich nicht einer der schlechtesten ist. Doch Erfahrung mit Wort und Zahl erlangt man dabei in den meisten Fällen nicht, von der Bekanntheit einmal abgesehen." Das Wort "Popularität" war auch mit Vorsicht zu genießen. Schließlich sollte man als Patrizier nicht unbedingt so ins Auge stechen, wie es ein patrizischer probatus oder etwas dergleichen tat, doch mit solchen Äußerungen war ich vorsichtig, zumal der Familie des Gastgebers selbst einige Fußsoldaten angehörten. Und, nicht zuletzt, die Profession sagte über den Charakter eines Menschen zudem herzlich wenig aus.
"Mein Vetter, Aurelius Cotta, gedenkt zu kandidieren. Allerdings wohl weniger als decemvir. Und mein Neffe liebäugelt ebenfalls mit einem politischem Amt. Ich kann mich also, zumindest was meine Familie angeht, nicht über Politikverdrossenheit beklagen. Die größte Hürde wird bei beiden jedoch wohl der Bekanntschaftsgrad sein", vermutete ich.