"Nein, ein Elefant ist vielmehr wie ein großer Fächer."
In der Bibliothek. Langsam glitt Severus' Finger über die Zeilen hinweg. Wort für Wort entzifferte er mühsam, entriss es den toten schwarzen Zeichen auf dem Pergament, murmelte es vor sich hin, suchte die richtige Aussprache bis er verstand was es bedeutete. Worte fügten sich zu Sätzen, stockend und mühsam.
"Es war-en einmal fünf weisse... nein.... weise... Gelee... Ge.... leer?....Gelehrte, ach so... Sie alle wa-ren blind. Diese Ge-lehr-ten wurden von ihrem.... Kö-nig - Kunigaz... - auf eine... Reise ge-schickt und sollten herausfinden, was ein E-le-fant ist. Und so machten sich die Blinden auf die Reise nach in... die... - was? nach oder in? - ...in-di-en."
Ach ja, das Land. Severus sah von dem Pergament auf und blickte über die Regale und Schriftrollen der Bibliothek zu der grossen Weltkarte an der Wand, zwischen den Büsten zweier strenger bärtiger Herren. Das war ein Land Indien verzeichnet, ein grosses Reich weit im Osten.
Der Germane rieb sich die Augen. Lesen war wirklich verdammt anstrengend. Er sah hinaus durch die grossen Fenster. Ein wechselhafter Tag war es, vorhin war ein Regenschauer niedergegangen, jetzt stand wieder eine blasse Sonne am Himmel, schien durch den Dunst wie durch Milchglas. Es war noch früh am Vormittag. Das Training im Ludus hatte er heute geschwänzt, denn er musste unbedingt Nachforschungen anstellen. An der Sache mit den Elefanten war mehr dran als er zuerst gedacht hatte, und es hatte möglicherweise sogar etwas mit den Flaviern zu tun. Ausserdem lenkten ihn diese Nachforschungen hervorragend von seinen trüben, sehr trüben Gedanken zum Thema Frauen im Allgemeinen und ganz speziell im Besonderen ab. Und wieder vergrub er sich in der Schriftrolle und entzifferte hartnäckig, Stück für Stück, die Fabel von den fünf Gelehrten, die den Elefanten alle ganz unterschiedlich gesehen, nein wahrgenommen hatten, bis zum Ende.
"Die Ge-lehr-ten senkten besch...beschää...besch-ämt - ach 'beschämt'! - ihren Kopf, nachdem sie er-kan-nten, daß jeder von ihnen nur einen Teil des Elefanten... ertastet hatte und sie sich zu schnell damit... zu-frie-den...ge-ge-ben hatten....puh...."
Eine seltsame Geschichte. Es erinnerte Severus irgendwie an das merkwürdige Thema Erfahrungs-Erlebnis-Horizont, über das er manchmal noch nachdachte. Grübelnd stützte er den strohblonden Kopf, dem man all diese tiefsinnigen Gedanken gar nicht ansah, in die schwielige Hand und überlegte, welche Weisheit in der Geschichte verborgen war. Aber er verfing sich immer an der Frage: Warum hatte der König ausgerechnet blinde Gelehrte losgeschickt? Und wenn der König es schon gewusst hatte, wie ein Elefant aussah, warum hatte er sie überhaupt ausgesandt? Um ihnen klarzumachen, dass man sich nicht mit dem ersten Eindruck begnügen sollte? Oder vielleicht um ihnen zu zeigen dass er sowieso alles besser wusste. Musste ein Römer gewesen sein, dieser verschlagene König, der um so viele Ecken herumdachte...
Ja, interessant, aber leider half es ihm nicht weiter. Er stand auf und trug die Schriftrolle zurück zu Mago, dem alten Bibliothekar, der gerade penibel seine Schreibrohre sortierte - nach Länge, Dicke und Typ, in akkuraten Reihen auf dem Schreibpult. Severus hielt den bärbeissigen alten Mann für einen wahren Weisen, und hatte sich deshalb hilfesuchend zuerst mal an ihn gewandt.
"Werter Mago, in dieser Schrift geht es um echte Elefanten. Ich meinte aber doch Menschen, die sich als Elefanten bezeichnen. Eine Vereinigung, Bande oder Gefolgschaft."
"Warum sagst Du das nicht gleich, hm?! Hm?! Immer diese Leser, die nicht wissen was sie wollen."
Ungnädig fixierte der Bibliothekar den Germanen.
"Aber ich habe das doch gesagt."
Ein knochiger Finger wackelte erbost hin und her.
"Wiedersprich mir nicht, junger Mann."
Dann furchte sich die hohe Stirn des Bibliothekars.
"Das war doch was... einmal hat da etwas in darüber der Acta Diurna gestanden. Im Bezug auf Hispania."
Er zeigte auf eine Kiste, in der sich die Abschriften der Imperialen Zeitung stapelten.
"Die kannst Du Dir einmal durchsehen. Oder frag die Domina Flavia Minervina, sie soll angeblich deren Bekanntschaft gemacht haben. Aber sieh Dich vor und hüte Deine Zunge vor der Domina, junger Germane, Renitenz kann Dich da schnell den Kopf kosten."
Das war ja geradezu rührend wie der kauzige alte Mann ihn warnte. Er schien doch einen weichen Kern zu haben. Severus nickte.
"Ich hatte dieses Gerücht auch schon mal gehört. Aber Flavia Minervina ist nicht in der Villa zur Zeit."
"Hm... Anfang des Jahres war diese Geschichte", murmelte Mago, dessen Ehrgeiz Auskunft zu geben langsam wach wurde. "Da warst Du eingesperrt, was?"
"Mhm."
"Kannst Du also nicht wissen... Aber Hannibal und Sciurus sind damals nach Hispania gereist - gemeinsam, die beiden, wo sie doch wie Katz und Hund sind..." - der Bibliothekar gab einen trockenen, brüchigen Lachlaut von sich - "...und mit der Domina Flavia Minervina wieder zurückgekommen. Ich an Deiner Stelle würde da mal nachfragen. - Und jetzt stör mich nicht weiter, ich habe zu Arbeiten."
Der befremdliche Anflug von Heiterkeit war vorüber und Mago wandte sich wieder seinen Schreibutensilien zu, und dann dem Katalog der Bibliothek, den er minutiös (und für nicht Eingeweihte vollkommen unverständlich) führte.
Hannibal oder Sciurus... Keine schwere Entscheidung. Aber da er nun schon mal hier war, und die Luft in der Bibliothek auch gerade Flavier-rein war, wandte Severus sich erst mal den Acta-Stapeln zu. Er ging sie der Reihe nach durch und suchte immer unter 'Hispania' nach dem Wort 'Elefanten'. Eine wahre Tortur war das. Nein, soviel Lesen konnte einfach nicht gesund sein. Sein Kopf schmerzte, seine Nase juckte und die Buchstaben tanzten schon vor seinen Augen, als er dann schliesslich doch fündig wurde. ELEFANTEN stand da, schwarz auf weiss. Na endlich. Er stibitzte sich das Blatt, und begab sich hinaus in den Garten, um es an der frischen Luft in aller Ruhe zu lesen.