Beiträge von Nero Claudius Tucca

    ... und der zweite folgt sogleich.


    Auch Tucca zieht es in die alte Heimat, in seinem Falle jedoch Ravenna, wo er weiter lebt und so er nicht gestorben ist, so lebt er dort noch heute. :D


    Bitte auch für ihn einmal Exil.

    II-XIV


    Es gab nicht viel zu packen. Ich hatte nur wenig mit nach Rom gebracht und würde nicht viel mehr mit zurück nach Ravenna nehmen. Ravenna, ich freute mich unglaublich auf zuhause. Ich freute mich auf den Duft nach Lavendel im Atrium, den Duft nach Rosen und Hyazinthen im Peristyl, und den nach Azaleen und Magnolien im Garten. Ich freute mich auf das Zwitschern der Vögel und Zikaden, die ich in Käfigen im ganzen Haus hielt, und ich freute mich auf das Knarzen der alten Weide am Forum. Ich freute mich auf den frischen, salzigen Wind, das Rauschen der Wellen und das Gefühl des körnigen Sandes unter meinen Füßen am Strand. Ich freute mich darauf, endlich wieder allein durch die Stadt ziehen zu können (nichts änderte sich je in Ravenna), mit Yama, meiner Stute, ausreiten zu können (wenn Platorinus noch lange in Ägypten bleiben würde, würde sich sicher ein anderer Reiter mit einem Führungspferd finden), und ich freute mich auf die allabendlichen Gelage (vor allem die bei Seia, die bei den Quinctiliern und die beim alten Flavius).


    Rom sehen und sterben. Ich hatte Rom gesehen, auf meine Art, aber zu sterben hatte ich trotzdem noch lange nicht vor. Doch ich wusste nun, dass Rom zu groß für mich war, zu weit, zu voll, zu dicht, zu laut, zu viel. Ich hatte meine Zeit hier genossen, jede Sekunde davon. Ich konnte zufrieden nachhause zurückkehren, wissend, dass ich nichts verpasste, und mit dem guten Gefühl, dass Ravenna genau passend für mich war.


    Heimisch war ich in der Villa Claudia zu Rom nie geworden. Ich war ein Besucher gewesen und würde es stets sein. Eine kurze Notiz hatte ich Menecrates hinterlassen und für die Gastfreundschaft in seinem Haus gedankt. Von Serapio, mit dem ich Brüderschaft getrunken hatte, fehlte mir leider eine Adresse, denn ich hätte ihn gerne einmal nach Ravenna eingeladen. Doch vielleicht würde ihn das Schicksal irgendwann noch einmal vor meiner Haustür schwemmen, oder mich vor die seine - wer wusste es schon. Und bestimmt würde er sich an mich erinnern, wenn er irgendwann in den Norden Italiens kam.


    Mehr gab es nicht zu tun. Ich nahm meinen Stock, der neben dem Bett gelehnt hatte, und schloss die Tür zu dem Cubiculum, das nun wieder nach einem Fremden roch. Tucca wartete bereits und legte meine freie Hand auf seine Schulter, um mich hinaus zur Sänfte zu bringen.



    >>> So endeten die fabelhaften Abenteuer des Nero Claudius Tucca und seines Sklaven Tuktuk in Rom - vielleicht vorerst, vielleicht auch für immer, denn wer kann schon vorhersagen, was die Zukunft bringt? <<<

    Meine Finger fassten eine Kante. Es musste der Altartisch sein, was sonst? Ich tastete höher, bis ich etwa auf Schulterhöhe eine weitere Kante und dahinter anfangs unförmige Erhebungen fand. Ich ließ mir Zeit und erkundete den Stein, bis ich mir sicher war, dass ich Iunos Füße gefunden hatte.


    Aus einer Falte meiner Toga zog ich eine kleine Muschel heraus. Ich trug sie schon sehr lange ständig bei mir, seit dem Tag, an dem ich Lenaea und mit ihr unser Kind verloren und am Strand von Ravenna mit meinen Tränen den Ozean aufgefüllt hatte. Es war das wertvollste, das ich in Rom bei mir hatte. Wertvoller als die Münzen in meinem Beutel und wertvoller als alle Ringe an meinen Fingern. Sie hatte die Form eines breiten, flachen Dreiecks, und ihre einstmals scharfen Kanten waren längst abgerundet. Unzählige Male hatte ich sie zwischen den Fingern gerieben, hier in Rom öfter noch als in Ravenna, denn sie erinnerte mich nicht nur an Lenaea, sondern auch an zuhause.


    Bedächtig fuhr ich mit dem Daumen über die feinen Rillen auf der Oberseite der Muschel und noch einmal durch die glatte, gewölbte Innenfläche. Dann hob ich sie an den Mund, küsste sie und legte sie schließlich behutsam zwischen die großen Füße der Göttin.
    "Danke", flüsterte ich, ohne genau zu wissen, warum. Doch es erschien mir auf einmal viel passender, Iuno einfach Danke zu sagen, als sie noch um etwas zu bitten.


    Mit einem zufriedenen Lächeln drehte ich mich um und ging vorsichtig den Weg zurück. Ich hoffte, einen einigermaßen geraden Weg zu finden (um nicht doch noch irgend etwas umzuwerfen) und hatte das Glück auf meiner Seite (oder Iuno, die ihr Haus nicht im Chaos zurückgelassen sehen wollte). Zwanzig Schritte später fragte ich nach Tuktuk, der sich von der Tür her meldete. Manchmal frage ich mich, ob ich ihm nicht doch irgendwann hätte sagen sollen, dass zu einem römischen Tempel nicht nur das Gebäude gehört, sondern auch das Gelände darum herum. An diesem Tage hatte ihn zum Glück kein Blitz getroffen und so waren wir beide zufrieden, als wir das Kapitol verließen - mein Sklave, weil er wieder etwas Raum zwischen sich und die Wohnstätte meiner Götter brachte, und ich, weil ich mir sicher war, dass Iuno mich sicher nach Hause geleiten würde, so wie sie das stets bei allen Kindern tat. :]

    Eine schier endlose Reihe Treppen und einige Schritte später blieb Tuktuk stehen.
    "Wir sind da, njaatigi. Du weißt, dass ich hier nicht weiter kann."
    "Ja, ich weiß."


    Tuktuk glaubte noch immer an andere Götter als ich und er glaubte, dass seine Götter ihn zermalmen würden, wenn er fremde Tempel betrat. Ebenso wie er glaubte, dass auch meine Götter ihn zermalmen würden, wenn er ihr Reich betrat. Ich konnte nicht sagen ob das stimmte, oder nicht. Natürlich wusste ich, dass es schon viele Sklaven gegeben hatte, die mit in römische Tempel gekommen waren, aber meist waren es doch urrömische Sklaven oder solche, die ihre eigenen Götter mit der Sklavenschaft abgelegt hatten (oder zumindest keine afrikanischen Sklaven). Ich konnte mir zwar eigentlich nicht vorstellen, dass etwas passieren würde, doch andererseits wollte ich es auch nicht riskieren, Tuktuk zu verlieren.


    "Bring' mich nur zur Tür."
    Tuktuk ging noch zwei Schritte und nahm dann meine Hand von seiner Schulter, um sie auf das raue Holz einer Tür zu legen, die nach außen hin offen stand.
    "Wie weit bis zum Altar?"
    "Zwanzig Schritte, fünfundzwanzig, wenn du vorsichtig gehst."
    "Gut, warte hier."


    Ich setzte einen Fuß nach vorn, danach noch einen, die Sohle kaum vom Boden hebend. Ich kam mir nackt vor ohne Tuktuk, doch ich wurde schnell von einer geborgenen Wärme umfangen, die dieses Gefühl ein wenig linderte. Ich weiß nicht, ob die Priester deswegen so viel Feuer in die Tempel bringen, damit sich dieses warme, geborgene Gefühl einstellt. Die Luft war durchzogen von schwerem, süßlichem Räucherduft und vom Flüstern tausender Flammen. Es musste ein ganzes Meer aus Flammen sein. Ich habe das Meer nie gesehen. Tuktuk beschreibt das Meer wie den Himmel, nur unter den Füßen und ohne dass man darauf gehen kann. Ich erinnere mich an den Himmel, wenn auch nicht mehr an die Farbe, die Blau heißt. So stellte ich mir vor, dass ich über den brennenden Himmel lief. Zwanzig Schritt, langsam und vorsichtig, die Hände leicht auf der Höhe meiner Hüfte nach vorne gestreckt.


    Nach zwanzig Schritten hielt ich inne. Stand ich schon vor ihr? Neben der Gabe für den Altar wollte ich auch gerne meine Hand auf ihren Fuß legen, denn es sollte Glück bringen, Iunos steinerne Haut zu berühren. Und wenn nicht an diesem Tag noch, wann dann? Vorsichtig trat ich noch einen Schritt nach vorne und taste unbeholfen vor mir in der Gegend herum, wie es mir so sehr zuwider war. Doch vor einigen Jahren hatte ich in einem Tempel in Mantua mal einen Ständer mit Öllampen umgeworfen. Diese Art der daraus resultierenden Aufmerksamkeit wollte ich in Rom doch dringend vermeiden, auch wenn ich nicht mehr lange bleiben würde.

    Einmal noch wollte ich mich mitten in das Leben Roms stürzen, mich erdrücken lassen von den unzähligen Geräuschen, Stimmen und Klängen, von den zahllosen Düften und Gerüchen, und wollte im Strom (oder der Suppe) aus Menschen schwimmen. Unser eigentliches Ziel war der Kapitolstempel, aber vorher lotste mich Tuktuk durch das Herz der Stadt, am Tiber vorbei, über das Forum Boarium, durch das Velabrum hindurch und eine Ehrenrunde über das Forum Romanum und dann die Straße auf das Kapitol.


    Tatsächlich hatten wir es vorher noch nie auf den Hügel hinauf geschafft. Rom als Zentrum der Welt hatte mir ausgereicht, da musste ich nicht noch das Zentrum des Zentrums aufsuchen (denn vielen gilt das Kaptiol wegen des Tempels der Trias als das Zentrum Roms).
    "Es steht hier mehr als ein Haus, in dem deine Götter wohnen, njaatigi. Aber einer ist wirklich gewaltig. Er überragt alle anderen, nicht nur in der Größe, auch in seinem Auftreten. Sogar das Dach sieht aus, als wäre es aus geflecktem Stein. Es muss ein großer Gott darin wohnen."
    "Das ist der Tempel den wir suchen, Tuktuk, der der kapitolinischen Trias. Es wohnen gleich drei Götter auf einmal drin."
    "Wie eine Familie?"
    "Eher wie in einer Insula. Jeder von ihnen hat seinen eigenen Bereich. Es ist der größte Tempel in Rom. Glaube ich zumindest. Was meinst du?"
    "Du würdest sicher hundert Schritte hinauf brauchen, njaatigi."
    "Ich will in den linken Teil hinein gehen. Dort wird Iuno verehrt."
    Ich tippte auf Tuktuks linke Schulter. Er war ziemlich schlau, allerdings hatte er seine Probleme mit Rechts und Links nie überwunden. Ich konnte es ihm noch so oft erklären, er warf es immer wieder durcheinander. Doch wenn ich ihn darauf hinwies, fand er seinen Weg, und ich ihm hinterher.


    Iuno ist die Göttin, die auf Kinder aufpasst. Wenn Jungen zu Männern heranwachsen, dann schaut der starke Mars nach ihnen oder der kluge, verständige Jupiter. 'Wenn Kinder erwachsen werden, dann beginnen sie die Welt mit anderen Augen zu sehen', hatte einmal ein schlauer Philosoph gesagt, den ich in der Villa in Ravenna beherbergt hatte. Ich habe die Welt nie mit anderen Augen als denen eines Kindes gesehen, vielleicht hing ich deswegen so an Iuno. Auch wenn das nicht heißen soll, dass ich kindisch war oder nicht erwachsen geworden bin. Doch für mich war Iuno stets die ansprechendste Göttin. Ich mochte ihr geringeltes Haar mit der Krone und den ausgeprägten Faltenwurf ihres langen Gewandes. Bei kleinformatigen Statuen folgte ich gern mit meinen Fingern ihrem ausgestreckten Arm und dann dem Stab zum Boden zurück, der wieder bei ihren Füßen endete, was sie in meinen blinden Augen zu einer rundum gelungenen Komposition machte. Deswegen begab ich mich am liebsten unter ihre Obhut.


    "Viele Stufen, breit und niedrig."


    Die ersten Treppenstufen gingen wir vorsichtig, nach etwa fünf wurden wir etwas schneller. Danach hörte ich auf, zu zählen, was ich stets unwillkürlich bei der ersten Stufe einer Treppe anfing. Tuktuk hatte ein scharfes Auge, zehn bis fünfzehn Stück einer Anzahl erfasst er ziemlich schnell. Wenn er 'viele' sagte, dann waren es deswegen meist mehr.

    Nun musste ich doch lachen, als Verus befürchtete, dass die Villa seinen Sklaven auch noch verschluckt hatte.
    "Wir sollten uns beeilen, dass wir hier herauskommen. Wer weiß, am Ende sind wir die nächsten. Ich höre schon die Schlagzeilen-Ausrufer der Imago auf dem Forum: 'Rätselhafter Einwohnerschwund in der Villa Claudia - liegt es an einem Monster im Keller oder wohnt ein Greif im Gebälg?'"


    Ich nahm meinen Stock, der neben dem Bett stand, und hielt Verus meinen Arm hin, dass er mich führen konnte. "Gehen wir zu Fuß, das geht sicher schneller."
    Nur ein einziges Mal war ich in Rom einigermaßen schnell mit der Sänfte voran gekommen. Das war, als sich meine Träger direkt hinter die Sänfte eines Consuls gereiht hatten, dessen Liktoren lauthals für freien Durchgang gesorgt hatten. Ansonsten hatte ich eher das Gefühl, die Fortbewegung mit der Sänfte war eine sehr stockende Angelegenheit.


    Gemeinsam verließen wir die Villa Claudia, um uns zu den Märkten durchzuschlagen.

    Dass die Götter manchmal grausam waren, daran zweifelte ich nicht. Allerdings bezog ich das selten auf mich selbst, denn Trübsal blasen war keine meiner Stärken, andernfalls hätte ich mich wohl auch gleich einäschern lassen können. Es gab wirklich schlimmeres als nichts zu sehen, nichts zu hören etwa stellte ich mir viel furchtbarer vor. Oder aber, wie Serpios Kameraden, noch vor der Mitte des Lebens von dieser wundervollen Welt weichen zu müssen. Oder aber, sich jeden Tag darum Gedanken machen zu müssen, wie man an etwas zu essen kommt, und sich am Abend doch mit leerem Magen unter den freien Himmel zu legen. Verglichen dazu führte ich wirklich kein schlechtes Leben. Aber ich hatte es schon lange aufgegeben, das jemandem begreiflich zu machen, denn nichts zu sehen schien jemandem, der seit langem daran gewöhnt war, zu sehen, doch immer besonders schlimm zu sein.


    Ich wackelte unschlüssig mit dem Kopf. "Sagen wir so, ich würde es vermutlich eher an der Stimme hören, wenn jemand lügt, als du. Da die Stimme das deutlichste ist, was ich von einer Person wahrnehme, achte ich darauf am meisten. Schwankungen oder ein Zittern bei Unsicherheit entgehen mir dabei ebenso wenig, wie geringe Lautstärkeunterschiede." Ich grinste breit. "Bei dir bemerke ich zum Beispiel auch, wie deine Buchstaben immer breiter werden." Ich lachte, denn meine eigenen Buchstaben waren auch nicht mehr so eindeutig, wie am frühen Nachmittag. Ob überhaupt noch heute war, oder nicht schon morgen? Wahrscheinlich würden sich schon bald die ersten tagaktiven Tiere wieder in den Straßen herumtreiben.


    Als Serapio dann auch noch so feierlich von Vorsehung sprach, musste ich noch mehr lachen. Mir war der Wein unbestreitbar auch schon zu Kopf gestiegen. Denn um ganz ehrlich zu sein, ich glaubte Serapio das mit der Vorsehung aufs Wort! Schon lange hatte ich keine so angenehme Nacht mehr mit einem so angenehmen Gesprächs- und Trinkpartner durchzecht. Meine Überlegungen, Rom vielleicht doch im Frühjahr schon wieder zu verlassen, hatte ich erst einmal über Bord geworfen. Im Gegenteil, ich sollte einfach viel öfter die Nächte in der Stadt genießen (vorher müsste Tuktuk aber noch das mit den Wegstecken trainieren).


    Auf einmal war Serapio ganz nah. Ich hörte seinen Atem und ich roch ihn (wenn man selbst betrunken ist, dann macht einem die Weinfahne nichts aus), noch bevor ich seinen Arm um meine Schulter spürte und seine Worte nah an meinem Ohr vernahm. Im ersten Augenblick war ich tatsächlich sprachlos, und irgendwie, ja irgendwie auch gerührt (wie eben selbst der härteste Kerl nach so einer Menge Wein rührselig wird). Ich hob meinen Becher, wobei mein Arm vermutlich ein wenig hin und her schwankte, wie ein Zweig im Wind.
    "Es war mir eine Freude, diesen Wein gemeinsam mit dir zu vernichten, Serapio, denn du bist auch ein feiner Mensch, ganz ohne Zweifel! Und deswegen ist es mir auch eine Ehre, mit dir Brüderschaft zu trinken!"
    So etwas hatte ich schon ziemlich lange nicht mehr gemacht. Früher mal, in meiner jugendlichen Sturm-und-Drang-Phase natürlich mit meinen Freunden. Angeblich, an einem ziemlich heftigen Abend, sogar mit Rullus, aber daran erinnerte ich mich nicht mehr (und hätte mich jemand gefragt, ich hätte es abgestritten. Rullus war in Ordnung, aber verbrüdert wollte ich beim besten Willen nicht mit ihm sein). Danach allerdings nicht wieder.

    Die Verlosung interessierte mich herzlich wenig. Tuktuk hatte seinen Spaß bei den Kämpfen gehabt und mir wurde die andauernde Lautstärke im Amphitheater langsam zu viel. Vermutlich hätte ich die Veranstaltung schon verlassen, wäre es nicht so unglaublich umständlich, mich zwischen den zahllosen Füßen sitzender Zuschauer hindurch zu schlängeln. Für gewöhnlich wartete ich daher lieber, bis der Großteil der Masse vor mir gegangen war. Also harrte ich auch noch die Verlosung aus.


    Auf einmal wurde Tuktuk vor mir ganz unruhig. "Das ist deine, njaatigi! Die Nummer! Die steht hier auf deiner Eintrittsmarke! Du hast gewonnen, njaatigi, du hast ein Bild gewonnen!"
    "Was?" Ich war in Gedanken ganz wo anders (keine Ahnung, wo, aber nicht im flavischen Theater).
    "Du hast gewonnen, bei der Verlosung!"
    "Ich?" fragte ich nochmal, zugegeben ziemlich stupide, aber so ganz kam ich nicht mit.
    "Ja, du! Auf deiner Eintrittsmarke steht die Nummer, die sie eben genannt haben. Du hast ein Bild gewonnen!"
    "Ein Bild? Na prima! Was für ein Bild?"
    "Keine Ahnung, njaatigi, hast du nicht zugehört? Man muss den Gewinn am Ende der Veranstaltung abholen."
    Ich stöhnte auf. Das würde bedeuten, dass wir bis ganz zum Schluss bleiben mussten. "Toll, wirklich toll."
    "Nun hör' schon auf, njaatigi, du hast gewonnen. Was, ist doch völlig egal."
    Da hatte Tuktuk natürlich recht. Ich war nicht darauf angewiesen, irgendetwas zu gewinnen, was ich haben wollte. Denn wenn ich etwas haben wollte, dann kaufte ich es einfach. Also war es im Grund wirklich egal, was ich gewonnen hatte. Dass es aber ausgerechnet ein Bild sein musste, das war dann doch mal wieder typisch. "Also gut, dann pass' auf, dass diese wertvolle Eintrittsmarke nicht abhanden kommt. Wenn dir das Bild gefällt, kannst du es in mein Cubiculum hängen, ansonsten schicken wir es irgendwem als Geschenk."

    Der mauretanische Schnitter gegen die germanische Bestie, das ließ wirklich viel erwarten. Etwa so viel wie der gallische Koloss gegen den ägyptischen Berserker, der parthische Reißwolf gegen den britannischen Piesacker, oder der illyrische Rammbock gegen die syrische Skylla. Der Kampf wurde für mich nur dadurch erlebbar, dass um mich herum (vorwiegend hinter mir) die Menge zu jubeln, zu toben und anzufeuern begann, und vor mir Tuktuk sein 'Schlag! Schildabwehr! Jetzt! Boah! Lanze! Rumms! Schwert! Ja! Zack! Weg damit! Ha! Blut! Ouh! Messer! Ah!' zum besten gab. Ich versuchte in die Menge hinein zu hören, denn der sprachlichen Kreativität waren bei solchen Anlässen kaum Grenzen gesetzt.


    "Am Boden! Beide! Uh! Uah! Äh! Was? Wäh! Urgs! Bah! Wie scheußlich!"
    Ich horchte interessiert auf. Das waren ganz neue Töne von meinem Sklaven. "Was ist los, Tuktuk?"
    "Der Germane zerstochert dem Murmillo das Gesicht mit dem Schnabel seines Helms. Und das sieht ziemlich unappetitlich aus!"
    "Da habe ich ja noch einmal Glück gehabt, dass mir dieser Anblick erspart bleibt", witzelte ich und fasste neben mich, wo ich den Weinbecher abgestellt hatte. "Der Germane gewinnt also?"
    "Ja", grummelte Tuktuk hörbar unzufrieden. "Das ist doch kein Gladiator mehr! Genauso gut hätten sie einen Löwen in die Arena lassen können!"
    Ich trank einen Schluck und zeigte mich völlig unbeeindruckt, denn Gladiator oder Löwe, das machte für mich wirklich keinen Unterschied. Vermutlich war mein Sklave auch nur deswegen brummelig, weil seine Sympathie dem Verlierer gegolten hatte.

    Auriga, Legionär (Legatus Legionis wohl eher, aber als Kind sah man da wenig Unterschied), Gladiator oder Kaiser, das waren wohl so die üblichen Kinderträume in unserer Zeit. Ich hatte zumindest noch niemanden kennen gelernt, der Augur oder Finanzbeamter hätte werden wollen. Für Serapio war mein Wunsch Realität geworden, aber natürlich hatte die Realität mit dem Wunsch nicht mehr allzu viel gemein. Er verdingte sich damit seinen Lebensunterhalt, und es gab wenige Menschen, die die Freiheit besaßen, ihren Lebensunterhalt durch ihren Wunsch zu verdingen. Höchstens die, die sich ihren Lebensunterhalt sowieso nicht erarbeiten mussten, aber das war dann wieder nicht zu vergleichen.
    Ein kleines Theater, das wiederum klang irgendwie lustig. Tatsächlich konnte ich mir Serapio sehr gut vorstellen wie er große Reden schwang, den leidenden Liebhaber gab oder den heroischen Helden. Seine Stimme barg ein weites Spektrum, die beim Brüllen auf dem Exerzierplatz auf jeden Fall vergeudet war. Aber so war das nun einmal mit den Familien, man musste ein bisschen auf sie Rücksicht nehmen, denn im Notfall waren sie meist das einzige, auf das man noch zählen konnte.


    Ich nahm noch einen tiefen Schluck Wein und erzählte dann auch meine Geschichte. Im Gegensatz zu Serapio und seiner Geschichte hatte ich meine schon oft erzählt, oft allerdings auch nur in gekürzter Fassung, denn oft hatte ich das Gefühl, dass es sowieso nur eine Höflichkeitsnachfrage war. Bei Serapio war das anders. Er hatte überhaupt keinen Grund für eine Höflichkeitsfrage. Wir kannten uns nicht, würden uns vermutlich nie wieder begegnen, so dass es für vordergründige Höflichkeit keinen Anlass gab.
    "Ich konnte sehen bis ich acht war. Im Lauf eines Tages bekam ich furchtbares Kopfweh, das Licht blendete mich und später kam Fieber dazu, wie aus heiterem Himmel. Meine Mutter steckte mich ins Bett und der Medicus, den sie rief, packte mir eine stinkende Kräutertinktur auf die Stirn und verband mir die Augen. Ich kann mich noch genau an seine Worte erinnern: 'Du darfst jetzt nichts sehen, damit du später wieder klar siehst.'" Ich äffte den alten Medicus mit seinem gekünstelten, griechischen Akzent nach. "Ein Stümper war das! Irgendwann erwachte ich mit einem klarem Kopf und schob die kratzende Binde von meinen Augen, aber es blieb alles stockdunkel. Ich hatte furchtbare Angst vor der Dunkelheit, in meinem Zimmer hatte auch nachts immer eine kleine Lampe brennen müssen. Ein guter Nachtwächter wäre also vermutlich sowieso nicht aus mir geworden." Ich grinste. "Ich glaubte, dass es tiefe Nacht sein müsste, und ich denke, es war auch Nacht. Irgendwann schlief ich vor lauter Furcht wieder ein und erwachte erst wieder durch ein Geräusch. Das war ein ganz fieses Kratzen und Knirschen und es war immer noch alles finster um mich herum, dass ich aus lauter Panik anfing laut nach meiner Mutter zu brüllen." So genau erzählte ich das üblicherweise nicht, das war immerhin schon ein bisschen peinlich für einen achtjährigen, römischen Jungen. Aber ich war damals schon ein bisschen verzärtelt gewesen als Nesthäkchen der Familie. "Es stellte sich heraus, dass das Geräusch durch eine Sklavin verursacht worden, und dass es heller Tag war. Trotzdem blieb es von da ab in meiner Welt dunkel."
    Nachdem ich so viel erzählt hatte, musste ich mir erst einmal meine Kehle wieder mit einem großen Schluck Wein anfeuchten, bevor ich weiter sprach. "Anfangs war alles einfach nur beängstigend. Wie gesagt, ich hatte damals Angst vorm Dunkeln und auf einmal gab es nichts anderes mehr. Ich erschrak bei jedem Geräusch und bei jeder Berührung. Bis dahin hatte ich wohl kaum meine restlichen Sinne genutzt, so dass ich irgendwie nicht einordnen konnte, wenn jemand auf mich zu kam. Schon merkwürdig oder, da hat der Mensch so viele Möglichkeiten, nutzt sie aber gar nicht." Lange Zeit war ich fest davon überzeugt gewesen, dass ein Mensch erst mit dem Erwachsenwerden anfängt, genauer zu Hören, zu Riechen und zu Tasten. Erst Tuktuk hatte mir irgendwann erklärt, dass der Sehende diese Sinne nicht viel weiter ausbildet als in seiner Kindheit, weil er anscheinend keine Notwendigkeit dazu hat. "Nach einer Weile schickten mich meine Eltern zu einem Onkel nach Ravenna. Ich wäre wohl auch dort aus Furcht nicht aus meinem Zimmer heraus gekommen, hätte er mir nicht irgendwann Tuktuk vor die Nase gesetzt." Ich kippte ein bisschen zur Seite, bis meine Schulter Tuktuk stumpte.
    "Nachdem ich erst einmal festgestellt hatte, dass man nicht unbedingt etwas sehen muss, um zurecht zu kommen, war mein Leben eigentlich ziemlich normal. Glaube ich zumindest. In Ravenna kenne ich jede Ecke, ich habe einen sehr genauen Plan davon in meinem Kopf, daher komme ich dort auch alleine klar. Ich orientiere mich vorwiegend mit meinem Gehör, außerdem habe ich dann einen Stock dabei, um den Weg, Ecken und Kanten abzutasten. Allerdings dauert es ziemlich lange, so einen Plan in meinen Kopf zu bekommen, von Rom habe ich bisher nur zusammenhanglose Fetzen und in einer Villa zu leben, in der ständig irgendwelche Sklaven das Mobiliar zum Putzen umrücken und nicht wieder exakt dorthin stellen, wo es vorher war, ist auch nicht ganz unkompliziert." Jetzt seufzte ich doch noch. Das war der größte Nachteil am Blindsein, für das meiste brauchte man viel länger als ein Sehender und schon die kleinsten räumlichen Veränderungen warfen einen aus der Bahn. "Aber dafür habe ich Tuktuk, er bringt mich überall hin und zurück." Schon lachte ich wieder, denn wenn er das getan hätte, wären wir nicht mit Serapio in der Taberna gelandet. "Meistens zumindest."
    "Rom ist zu groß", murrte mein Sklave, der seiner Stimme nach langsam müde wurde (oder es immer noch war).

    Gladiatorenspiele waren wirklich nicht meins. Genau genommen fand ich sie gähnend langweilig, denn ich bekam selten mehr mit als ein paar Schreie. Wagenrennen waren schon hart an der Grenze, aber solange mich mein Sklave Tuktuk dabei auf dem Laufenden hielt, wer in welcher Runde an der Spitze war, konnte ich immerhin noch halbwegs mitfiebern. Für Kämpfe hatte Tuktuk kein Talent, vielleicht waren sie einfach zu schnell. Mehr als 'Da! Jetzt! Das Schwert! Uh! Autsch! Schildabwehr! Messer! Schlag! Wuh! Schlag! Blut! Boden! Aus. Sieg des Thraker über den Murmillo.' kam selten dabei heraus, und mal ganz ehrlich, damit konnte ich nichts anfangen.


    Tuktuk allerdings liebte Gladiatorenkämpfe. Tuktuk liebte so ziemlich jedes Spektakel, das Römer liebten. Als er von der Einladung an Menecrates erfahren hatte, war er Feuer und Flamme gewesen. 'Der Senator und seine Familie' hätte darauf gestanden, das hatte er mir mindestens fünfmal erklärt, und natürlich, dass ich ganz ohne Zweifel zu eben dieser Familie gehörte. Außerdem veranstalteten die Flavier Aristides und Gracchus diese Spiele, und mit denen war ich zusätzlich doch irgendwie auch angeheiratet verwandt, zumindest hatten sie beide mit mir verwandte claudische Ehefrauen. Und zu guter Letzt wusste Tuktuk, dass es in Rom auch Aushänge gab, die alle Bürger einluden, und ich somit dreifachen Grund hatte, die Spiele zu besuchen. Was konnte ich da schon entgegen setzen? In der Villa Claudia herrschte sowieso wie üblich ein sehr ruhiges Leben (vielleicht der Winterschlaf), Verpflichtungen hatte ich keine, dafür nahm ich Tuktuk ständig in Beschlag, so dass ich ihm durchaus mal eine Freude gönnen konnte.


    Eigentlich hatte ich gedacht, mittlerweile in Rom schon jedes Gedränge erlebt zu haben. Immerhin war ich sogar schon im Circus Maximus gewesen. Das flavische Amphitheater schien allerdings noch eine Nummer größer, allein schon die vielen Stufen, die wir zurück legen mussten. Ich hasste Stufen. Lagen viele Stufen vor uns, sagte mir Tuktuk nur einfach 'Stufen' an, nicht jedoch die Zahl, so dass ich nie wusste, wann sie endlich aufhörten. Ich hatte extra meinen Stock mitgenommen als sichtbaren Hinweis, dass ich blind war, dennoch war ich permanent dabei, mich zu entschuldigen, weil ich haufenweise Menschen anrempelte. Tuktuk zog mich durch das Theater, dann wieder schob er mich irgendwo durch und kam nach, so dass ich bald völlig die Orientierung verlor.
    "Wir sind da. Links neben dir kannst du dich setzen."
    "Ahh!" Ich seufzte erleichtert auf und klackte mit dem Stock an die Sitzreihe. Dann fuhr ich mit der Hand am Stock entlang und betastete den kühlen Stein und das flache Kissen darauf, das Tuktuk schon abgelegt hatte. Ich setzte mich und war einfach nur froh, zu sitzen. Tuktuk setzte sich zu meinen Füßen hin, denn als Sklave durfte er natürlich keinen Platz belegen.


    Überall um mich herum wurde geredet, gelacht, getuschelt, gekichert und dazwischen wurden Waren angepriesen. Es war viel zu viel, um sich auf irgendetwas zu konzentrieren, so dass ich nur das Gesicht zum Himmel hob, denn ich spürte ganz leicht die Sonne auf meiner Haut. Es dauerte nicht mehr allzu lange, bis das Spektakel dann auch anfing. Es war erstaunlich, wie laut die Stimme des Heroldes zu mir drang. Ich wusste nicht, in welcher Reihe wir saßen, aber ich hatte das Gefühl, der Herold war nicht allzu weit weg. Natürlich verstummte die Menge nicht wirklich, aber es wurde merklich leiser.
    "Da unten sind sie, die beiden Flavier", flüsterte Tuktuk. "Sie haben zwei weiße Rinder dabei."
    Das war schon protzig (ich war allerdings auch die Maßstäbe Ravennas gewohnt), aber auch nicht viel protziger, als überhaupt Spiele abzuhalten, nur um gewählt zu werden.

    Ich hatte das Gefühl, dass die Menge um uns immer lauter wurde. Ich konnte Tröten und Trommeln aus allen Ecken zwischen dem Gesinge und Gebrüll hören, und es fiel mir immer schwerer, mich auf Tuktuks Bericht zu konzentrieren.


    Meinen Sklaven interessierte das allerdings überhaupt nicht, er fieberte mit, als würde sein Leben davon abhängen. "... Da! Jetzt haben sie sich ineinander verbissen, wie zwei Hunde, die miteinander raufen und ohne den Blick nach vorne immer weiter rennen, und sie rennen in den dritten hinein! Njaatigi, das musst du sehen, jetzt hängen sie zu dritt hintereinaner und die Kurve kommt! Zu dritt in die Kurve hinein, fast ohne abzubremsen, das ist unglaublich! Und da vorne! Der blaue Ozeanreiter greift mit seinen Tentakeln nach der goldenen Sonne, aber die hält ihn fest und sie reißt ihn aus! Zack, aus dem Leib heraus und ... und jetzt wirft er sie zurück ... nein, was macht der denn? Der Blaue fällt zurück und die drei verbissenen Hude rasen auf ihn zu! Und nun erhebt sich ein Sandsturm, er verschluckt alles, nur noch Staub ist zu sehen, wirbelnde Sandkörner peitschen durch die Luft und verdecken jeden Blick auf die Sonne und den Ozeanreiter und die Hunde, sie müssen fast ersticken da drunter! Da, da sind sie wieder, der Blaue ist weit zurück gefallen, aber der Goldene ist immer noch ganz vorne und reitet auf den Sonnenstrahlen davon!"


    Die goldene Sonne war nun zweifellos Tuktuks Favorit, was mich nicht wunderte. Tuktuks Favorit war immer derjenige, der gerade die Nase vorn hatte.

    Antonias offenes Lachen und das Glucksen und Quietschen ihres Sohnes füllten das Atrium mit einer wundervollen familiären Atmosphäre, genau mit derjenigen, die in der Villa Claudia gänzlich fehlte. Einen Moment lang dachte ich daran, dass es mit Lenaea und unserem Kind auch in Ravenna so hätte werden können, doch der Gedanke verflog schnell. Ich kannte auch die unliebsamen Seiten einer Ehe (die ich mit Philonica durchlebt hatte), so dass sich mein Drängen nach einer eigenen Familie doch immer in Grenzen hielt.


    "Ehrfurchtgebietend, das ist wahr. Da dein Sohn nur das beste von beiden Seiten geerbt hat, wird es wohl kaum etwas geben, das ihm nicht gelingen wird." Ich dachte dabei an die Eroberung des Kaiserthrons, sprach das aber nicht aus. Natürlich dachte ich auch nicht an eine gewaltsame Eroberung, eher die 'zufällige' Übernahme nach einer 'unerwarteten', plötzlichen Vakanz, alles andere könnte immerhin in die Kategorie Hochverrat fallen. Doch jede Familie träumte wohl davon, dass eines ihrer Mitglied an der Spitze des Staates landen würde, schließlich waren wir alle nur Römer.


    Kurz darauf schickte sich Epicharis an, uns zu verlassen. Ihre Bemerkung über den Schrecken der Blindheit ignorierte ich geflissentlich. Ich hatte in meinem Leben schon zu viele dieser Bemerkungen gehört, und obwohl die meisten davon tatsächlich ernst gemeint waren, konnten sie weder den wahren Schrecken des Verlustes erfassen, noch das nicht im mindesten schreckliche Leben danach.
    "Vale, Epicharis! Es hat mich ebenfalls sehr gefreut. Bitte richte deinem Ehemann viele Grüße aus."


    Nachdem ihre Schritte im Atrium verklungen waren, wandte ich meine Aufmerksamkeit wieder Antonia und Minor zu, genauer gesagt eher Minor, denn dieser war kaum zu überhören.
    "Wo wir gerade bei Geschenken sind ... Tuktuk," Ich hielt den Weinbecher neben mich, dass mein Sklave ihn aus der Hand nehmen konnte und wartete darauf, dass er mir das Geschenk gab. Samtiger Stoff schmiegte sich an meine Haut, doch darunter ließ sich ein harter Gegenstand ertasten.
    "Ich habe es selbst ausgesucht, es ist überaus griffig." Außerdem war es sehr gut gearbeitet, die Kanten waren abgerundet und geschmeidig poliert, die Schuppen waren fühlbar ausgearbeitet und sogar die Augen und die Zähne konnte ich ertasten. Ich beugte mich ein wenig nach vorn zu Antonia und reichte ihr das in den Stoff eingeschlagene, etwa eineinhalb Hand lange Holzkrokodil.

    Ohne zu zögern trank ich auf alle Männer, die Serapio nannte. Danach musste ich wieder feststellen, dass Serapio ein fantastischer Erzähler war, und während draußen der kalte Regen vom Himmel peitschte und der raue Wind scharf um die Häuser strich, konnte ich die heiße Sonne Parthiens, die sich in Lucullus' blauen Augen spiegelte, auf meiner Haut spüren, begegnete ich einem Mann, den ich nie gekannt hatte und nie kennen würde, und erinnerte mich an Fetzen einer Schlacht, die ich nie geschlagen hatte, an den Lärm der Roma Victrix-Schreie, an den Geruch nach verbranntem Fleisch als die Leichen in Haufen eingeäschert wurden, und das Knirschen der parthischen Knochen zwischen den Schakalsgebissen. Trotzdem blieb mein Gespür in dieser aufgeheizten Taberna mitten in Rom und ich musste nicht sehen können, um zu bemerken, wie sehr das alles Serapio bewegte und wie aufgewühlt er am Ende seiner Worte war.


    "Das macht nichts, du brauchst dich wirklich nicht entschuldigen.", entgegnete ich ihm aufrichtig. "Niemand, der nicht dabei war, kann ermessen, wie das gewesen ist. Und niemand, der etwas nicht ermessen kann, hat das Recht, darüber zu urteilen oder über die Folgen, die daraus entstehen!"
    Ich wusste, wovon ich sprach. Ich hasste es, wenn Menschen, die nicht ermessen konnten, wie es ist, nichts zu sehen, glaubten, darüber urteilen zu können, was ich konnte oder nicht, zu was ich in der Lage war oder auch nicht. 'Du bist blind, du kannst das nicht' - oft genug hatte ich diesen Satz oder eine Variation davon gehört, von Menschen, die den ganzen Tag lang sahen und keine Ahnung hatten, wie man ohne Sicht lebte. Ich konnte mir nicht vorstellen, was Serapio gesehen und erlebt hatte, denn selbst seine Erzählungen würden nur immer ein Teil der Wahrheit sein, und durch meine eigenen Sinne hindurch gesiebt würde am Ende nur noch ein Bruchteil davon in mir übrig sein. Trotzdem, obwohl ich nicht ermessen konnte, was Serapio erlebt hatte, war ich davon überzeugt, dass es noch weitaus schlimmer war, so etwas gesehen zu haben, als sein Leben lang nichts zu sehen.


    An einem Tisch irgendwo neben uns wurden wieder Stimmen laut. Es mussten die Würfler sein, die da lauthals danach krakelten die Zeche zu bezahlen. Dann klimperten Münzen, die Bedienung bekam einige unflätige Bemerkungen entgegen geschleudert und Bänke und Stühle wurden gerückt. Die Meute setzte sich in Bewegung, verursachte noch einmal unverhältnismäßig viel Lärm, als sie die Taberna verließ und die Tür laut zurück in den Rahmen schlug. Auf diesen regelrechten Tumult folgte eine merkwürdige Stille, als würden sich plötzlich alle Gäste bewusst, wie laut ein Wort im Schweigen hallt. Auch unser Tisch hing einige Augenblicke in diesem Schweigen gefangen, das erst durchbrochen wurde, als ich den Weinbecher nach einem kräftigen Schluck mit einem Klacken zurück auf den Tisch stellte.


    "Als Junge wollte ich auch Soldat werden, ich bewunderte sogar die Urbaner und Vigiles für ihren aufregenden Dienst." Ich lachte leise. Es mochte durchaus sein, dass Urbaner und Vigiles einen aufregenden Dienst schoben, allerdings konnte ich mir das mittlerweile nicht mehr recht vorstellen. Was passierte in Rom schon? Seit ich hier war, hatte ich noch keine großartigen Verbrechen bemerkt (zu meinem eigenen Glück, denn dass ich nicht unbedingt der schnellste und aufmerksamste Bemerker war, verdrängte ich immer).
    "Meine Brüder haben immer gelacht und ich habe so manches Mal Prügel bezogen, wenn ich sie mit meinem Holzgladius herausgefordert hatte. Später hat sich das dann sowieso erledigt, meine Reaktion auf einen Schwertstreich ist ziemlich schlecht, aber ... an meiner Bewunderung für die Soldaten hat sich bis heute nichts geändert." Meine Stimme glitt ein bisschen ins Pathetisch-Patriotische ab, als würde ich einem Barbaren über die Größe Roms dozieren (sicher eine Nebenwirkung des Weins). "Die Legionen Roms sind der Grundstein unseres Imperiums, ohne sie wäre Rom immer noch ein Dorf voller Bauern! Wir vergessen das viel zu oft, wenn wir uns in unsere Gewänder aus syrischer Seide hüllen, uns mit ägyptischem Parfüm einsprühen, Schuhe aus germanischem Leder tragen und uns von afrikanischen Sklaven den gallischen Wein auftischen lassen! Apropos, Tuktuk, was macht der Weinnachschub?"
    "Sie ist schon auf dem Weg."
    "Perfekt. Hast du vor, im Militär zu bleiben, Serapio?" fragte ich diesen. Viele Soldaten versuchten sich nach einem Krieg ein anderes Leben aufzubauen. In Ravenna gab es einige Flottenangehörige, die sich auf Dauer dort zur Ruhe gesetzt hatten. Die meisten hielten sich mehr schlecht als recht über Wasser, denn die wenigsten hatten ein Handwerk oder ähnliches gelernt.


    Die Leisen Schritte der Bedienung hörte ich schon nicht mehr (der Wein raubt auch mir irgendwann die verbliebenen Sinne), wie der Krug auf dem Tisch abgestellt wurde, entging mir natürlich nicht. Jemand schenkte ein, vermutlich Tuktuk. Beinah wollte ich glauben, das Füllhorn der Fortuna hätte meinen Becher berührt, so stetig war der Weinfluss. Zwar würde die Rechnung irgendwann kommen, doch ich würde sie weder sehen, noch hören, einer der Vorteile, wenn man sich um Sesterzen keine Sorgen zu machen brauchte.

    Auch ohne Epicharis' Hinweis hätte ich Antonias Ankunft kaum überhören können, oder eher die ihres Sohnes.


    "Salve, Antonia! Aber nein, wir mussten keineswegs lange warten, wir haben gerade erst Platz genommen." Lange war es wirklich nicht gewesen, obwohl ich das natürlich auch nicht gesagt hätte, wenn es so gewesen wäre. Man(n) drängte Frauen nicht zu Eile und man(n) tadelte sie nicht für Verspätungen.
    "Und es freut mich sehr, dich kennen zu lernen, Manius Flavius Gracchus Minor, egal ob nun Vetter oder Neffe." So genau nahm ich es sowieso nicht. Der Junge anscheinend auch nicht, denn er brabbelte und quietschte munter weiter vor sich hin und schien sich an der Umgebung überhaupt nicht zu stören. Minor war anscheinend weitaus redseliger als sein Vater.


    "Öde und trostlos ist gar kein Ausdruck. Ich erzählte es Epicharis gerade schon, in Ravenna ist weitaus mehr los als in der Villa Claudia zu Rom. Aber du hast natürlich Recht, verwunderlich ist das nicht. Wir tragen tiefe Trauer über unseren großen Verlust." Ich grinste etwa in die Richtung, in der Epicharis saß. "Im übrigen hat Epicharis eben indirekt behauptet, die Flavier wären angesehener als die Claudier. Oder mag die gesteigerte Katzbuckelei eher daran liegen, dass du nun eine verheiratete Frau bist, Epicharis?" Mein Kopf wackelte ein bisschen hin und her, eine Mischung zwischen Kopfschütteln, Nicken und Wippen, die alles oder auch nichts bedeuten konnte, und der ich mir nicht einmal wirklich bewusst war. "Ja, das muss es sein. Immerhin haben wir Claudier schon Kaiser gestellt, da haben die Flavier noch mit ihren Holzsoldaten im Sandkasten gespielt."
    Über die Familie ging nichts und eine Beleidigung in diese Richtung konnte sowohl bei uns Claudiern, wie auch sicher bei den Flaviern zu rabiaten Auseinandersetzungen und tiefgehenden Feindschaften führen. In etwa gleichrangigen Kreisen allerdings waren kleine Foppereien erlaubt und innerhalb der Familie sowieso (obwohl wir Claudier natürlich trotzdem älter, vornehmer, patrizischer, einfach besser als die Flavier blieben).


    "Um auf deine Frage zurück zu kommen, Epicharis, ich konnte früher sehen", beantwortete ich danach die noch im Raum stehende Frage. "Mit acht Jahren hatte ich ein Fieber, danach war alles nur noch dunkel. Ich erinnere mich nicht mehr an viel, was ich davor gesehen habe. Manchmal sind es Bilder, denen ich nicht einmal einen Begriff zuordnen kann. Bei anderen bin ich mir nicht einmal sicher, ob diese visuellen Erinnerungen tatsächlich reale Bilder sind oder nur so, wie ich mir vorstelle, dass es sein müsste, zu sehen. Aber es macht vermutlich sowieso keinen Unterschied." Genau genommen konnte ich mir einfach nicht vorstellen, wie es sein musste, zu sehen.

    Tuktuk führte mich und zog schließlich meine Hand ein Stück nach unten, so dass ich die Sitzfläche fühlen konnte. Sie lag tief und war mit weichem Polster überzogen, weshalb ich auf eine Klinengruppe schloss, wie sie vermutlich in jedem Atrium Roms zu finden war. Ich setzte mich und fühlte ein wenig nach links, rechts und hinter mich, um die Dimension auszuloten, ehe ich auf Epicharis' Bemerkung Bezug nahm.


    "Im Gegenteil, Ravenna ist für mich weitaus lebhafter. Dort kennt jeder jeden und die Gesellschaften wechseln von einer Villa in die nächste." Das bezog sich natürlich vorwiegend auf Adel und Emporkömmlinge. "Wenn ich nicht selbst ein Gastmahl in meiner Villa ausrichte, dann bin ich irgendwo eingeladen. Oder aber ich ziehe durch die Stadt, dort kenne ich jede Ecke und finde mich allein zurecht." Ein bisschen wehmütig war ich wohl schon. Vor allem vermisste ich die Eigenständigkeit, die mir mein Zuhause bot. "Hier in Rom ist alles anders. Aber vielleicht dauert es auch einfach nur länger, bis man sich hier auskennt."
    Bei mir dauerte es sowieso unendlich lange, bis ich einen Weg so genau kannte, um ihn alleine zu gehen. In meinem Zuhause war es nicht schwer, denn eine Villa bietet nicht allzu viel unerwartetes. Draußen dagegen ist es ein ziemlich großer Akt der Selbstüberwindung. Ohne Tuktuk verunsicherte mich in der ersten Zeit jede Bodenunebenheit, ich hatte Schwierigkeiten, mich auf alles gleichzeitig zu konzentrieren. Am liebsten erforschte ich neue Wege daher bei Nacht, denn normalerweise fielen dann zumindest die störenden Passanten weg und mir war es immerhin egal, ob es hell oder dunkel war. Leider war dies in Rom keine gute Idee, wie ich schon bei meinem ersten nächtlichen Ausflug (in Tuktuks Begleitung) festgestellt hatte. Nachts durften in Rom Pferdewägen fahren und die waren weitaus schlimmer als Fußgänger und Sänften.


    Epicharis schien nicht sonderlich betrübt zu sein, dass sie die Familie auch rechtlich gewechselt hatte. Der Gedanke war für mich irgendwie befremdlich, ich konnte mir nicht vorstellen, wie das war. Natürlich hörte ihre claudische Familie nicht einfach auf, ihre Familie zu sein, und genauso würde es vermutlich dauern, bis die flavische Familie für sie eine echte Familie sein würde (wenn das überhaupt je geschah). Doch sie war zudem in die Gewalt eines ihr fremden Mannes übergeben worden. Obwohl es natürlich denkbar war, dass Flavius Aristides ein guter Freund Menecrates' und damit nicht wirklich fremd für sie war, war das eher unwahrscheinlich. Römische Ehen funktionierten meist nach den Prinzipien der Politik, selten, und wenn dann eher beiläufig, nach denen der Freundschaft. Da mir das Thema ein wenig unangenehm war, ging ich jedoch nicht weiter darauf ein, dazu kannte ich Epicharis zu wenig.


    Es überraschte mich, dass Epicharis mir selbst den Becher reichte. "Danke sehr!" Ihre Hand war kühl, vielleicht vom Griff um die Becher, und ihr Griff zart. Ihre Stimme und die Art, wie sie sich bewegte, ließen auf eine kleine, schmale Person schließen. Ihre Gewänder raschelten nur sehr leise um ihre Knie herum wenn sie ging, sie gestikulierte nicht viel (vielleicht wenn sie aufgebracht war) und sie hatte nur einen sehr zarten Hauch nach Parfum an sich. Wäre ihre Stimme nicht ab und zu ein wenig zu hoch empor geklettert, wäre sie fast unscheinbar gewesen.


    Als sich sich korrigierte, musste ich leicht schmunzeln. Die nachfolgende Entschuldigung ließ sie ihrem Vater ähnlich werden, denn auch Menecrates hatte bei unserer ersten Begegnung in Rom seine Mühe mit dem Umgang mit mir gehabt. Das Schmunzeln auf meinen Lippen wandelte sich zu einem unbeschwerten Lächeln.
    "Du brauchst dich wirklich nicht zu entschuldigen. Ich glaube nicht, dass es so unterschiedlich ist zu einer 'sehenden' Unterhaltung, allerdings kann ich das natürlich nicht zweifelsfrei beurteilen. Du musst dir nur einfach darüber klar sein, dass du alles aussprechen musst, was du mir mitteilen willst, denn die meiste nonverbale Kommunikation geht an mir spurlos vorüber. Außerdem ist es für mich in größeren Gruppen hilfreich, wenn man mich mit dem Namen anspricht, wenn man ein Gespräch mit mir beginnt. Ansonsten kann es durchaus passieren, dass meine Aufmerksamkeit gerade irgendwo ganz anders ist, und ich gar nicht zuhöre. Mehr gibt es eigentlich nicht zu beachten, aber wenn du noch Fragen hast, dann stelle sie einfach ganz offen. Dieses Leben ist für mich weitaus einfacher und bei weitem nicht so furchtbar, wie viele Menschen zu glauben scheinen."
    Anstrengend, das war es manchmal, und manchmal auch frustrierend, aber ich habe meine Blindheit niemals als Katastrophe angesehen, die mein ganzes Leben in etwas Grauenhaftes verwandelte. Die Welt besteht aus so viel mehr als man sehen kann.

    Nach Serapio war es wieder an mir zu lachen. Er war an Tuktuks Starrsinn gescheitert, und ganz ehrlich wäre ich schon ein bisschen beleidigt gewesen, wenn er es geschafft hätte, meinen Sklaven zum Weintrinken zu bewegen, nachdem ich mich seit Jahren erfolglos abmühte. Für einige Augenblicke spürte ich Serapios Hand auf meinem Arm und sie hinterließ einen warmen Fleck auf der Tunika als er sie wieder fort nahm, um uns mehr Wein einzuschenken. Ich wusste nicht mehr, der wievielte Becher es war, doch das war längst nebensächlich. Vereint im Kampf gegen Askese und Verzicht waren wir an diesem Abend die größten Helden, die Rom je hervorgebracht hatte. Ich genoss das, denn vermutlich war es die einzige Art und Weise, bei der ich je zu Ruhm kommen würde.


    "Auf Verzückung und Entrückung!" kommentierte ich den nächsten Becher ausgelassen und trank ihn gleich wieder zur Hälfte aus. Weinberge hatte Serapios Familie also, was mir in diesem Augenblick nicht weiter verwunderlich vorkam. Natürlich besaßen nur die oberen Schichten des Imperium solche Ländereien, aber da die meisten meiner Bekannten dieser Schichten entstammten schien es mir nur einleuchtend, dass auch Serapio, den ich irgendwo mitten in Rom aufgegabelt hatte, eine Familie mit solchem Hintergrund hatte. Im Nachhinein betrachtet war auch dieser Gedanke mitten in Rom sehr naiv und es purer Zufall, dass es tatsächlich so war.


    Serapios Profession wollte dagegen gar nicht in mein Bild von ihm passen. Wortkarg, schroff, hart und wenn auch nicht abweisend, dann doch auf ihre Art eigen, so stellte ich mir Soldaten vor. Die meisten, die ich getroffen hatte, ließen nicht tief in sich hinein blicken. Sie erzählten von Heldentaten, vom Rausch des Kampfes oder von fremden Ländern, die sie erobert hatten. Vermutlich sangen sie alle, wenn sie um ein Feuer herum saßen, aber kaum einer gab das außerhalb des Lagers zu, und schon gar nicht, dass er ein Musikinstrument spielte. Allerdings kannte ich die meisten Soldaten auch nur sehr flüchtig. Und diejenigen, die in meinem Haus als Gast gewesen waren, das waren Offiziere gewesen, die die Tischgesellschaft mit ihren Abenteuern unterhalten hatten.


    Dennoch war ich im ersten Augenblick regelrecht sprachlos und wusste nichts auf Serapios 'Geständnis' zu erwidern. Wie es immer ist, öffnete sich genau in diesem Moment die Tür der Taverne und eine merkwürdige Stille zog mit der kalten, einströmenden Luft durch den Raum, so als würden alle Gäste nur auf meine Erwiderung warten. Ich habe das oft erlebt, dass Stille eintrat, wenn irgendetwas von mir erwartet wurde. Jemand sprach mit mir, doch da er meinen Namen nicht genannt hatte, hatte ich es nicht mitbekommen und nicht zugehört, und wartete auf eine Antwort. Oder jemand reichte mir etwas, ohne darauf hinzuweisen, und wartete darauf, dass ich es nahm. Jemand bot mir eine Auswahl und wartete auf meine Entscheidung, oder ich war an der Reihe beim Würfelspiel, bei Tabula oder Ludus Latrunculorum, doch keiner sagte mir etwas. In solchen Situationen trat oft eine erwartungsvolle Stille ein, die schlussendlich dadurch unterbrochen wurde, dass ich nachfragte, oder aber mein Gegenüber sich mit einem Mal bewusst wurde, dass ich blind war (es war anscheinend nicht unbedingt offensichtlich) und mir einen Hinweis gab.


    Die Stille im Schankraum wurde jedoch zu meinem Glück schnell durch das Klappern einiger Würfel und das Schlagen eines Würfelbechers auf einen Tisch vertrieben. "Vier räudige Hunde! Her mit den Münzen, mein Freund!" lachte darauf eine heißere Stimme irgendwo hinter Serapio und ein paar Münzen klimperten. Das Verbot von Glücksspiel mit Gewinn schien auch in Rom nicht ganz so streng genommen zu werden, oder aber die Besitzer der Taverne entrichteten regelmäßig einen Obolus an die Stadtkohorten, der sie vor Razzien verschonte.
    Die gute Stimmung breitete sich schnell wieder aus und auch ich hatte endlich eine heitere Antwort gefunden, doch dafür war es zu spät. Serapio sprach so leise, dass ich ihn fast den unbedeutenden Hintergrundgeräuschen zugeordnet hätte. Mit einem Mal schien er unendlich weit weg und er verriet auch gleich, wo er war. Edessa. Ich wusste, dass ich den Namen dieser Stadt schon gehört hatte, brauchte aber noch etwas, bis ich auf Parthien kam. Das war nicht allzu lange her. Lange genug, um in Rom aus dem allgemeinen Fokus der Aufmerksamkeit zu entwischen, aber sicher nicht lange genug für einen, der dabei gewesen war, um es zu vergessen (konnte ein Feldzug dafür überhaupt je lange genug her sein?).

    Ich trank hastig aus. Nicht nur, weil ich sowieso schon so viel getrunken hatte, dass ich beinah alles tat, was man mir sagte. Nein, ich war auch durch und durch ein Römer und durch und durch ein Patriot. Für Rom würde auch ich als letzte Bastion der Verteidigung mit dem Gladius in der Hand sterben (und wenn mein Körper nur als Bollwerk dienen würde). Aus diesem Grund verdiente jeder Soldat, der je sein Leben für Rom geopfert hatte, meinen größten Respekt, und jeder andere Soldat meine Bewunderung. Etwas Wein schwappte über den Rand des Bechers als Serapio eingoß und rann mir über die Finger, wie das Blut der Gefallenen, das an meinen makellosen, patrizischen Händen klebte.


    "Auf deine gefallenen Freude! Auf Appius Iunius Lucullus! Mögen sie unvergessen bleiben!"
    Den Becherfuß über die Holzplatte schabend suchte ich den Rand des Tisches und vergoss einen Schluck Wein auf den Boden. Erst dann hob ich selbst an zu trinken und leerte den kompletten Inhalt. Als ich den Becher wieder abstellte bemerkte ich, dass der Tisch langsam anfing zu schwanken, denn das Gefäß wollte sich nicht mehr so einfach auf der Platte abstellen lassen. Vielleicht hatte sich aber auch die Standfläche gebogen, das sollte durchaus ab und zu vorkommen. Am Wein konnte es unmöglich liegen, denn dieser schmeckte noch immer fabelhaft.
    "Erzähl mir von ihm", forderte ich Serapio auf und war mir in diesem Augenblick nicht mehr ganz so sicher, ob dieser eher rechts oder eher links mir gegenüber saß. "Von Appius Iunius Lucullus, was war er für ein Mensch?"

    Ich konnte ein schiefes Grinsen nicht unterdrücken. "Im Gegensatz zur Villa Claudia hier in Rom herrscht wohl in jedem Haus regelrechter Trubel." Vielleicht war aus meiner Stimme ein bisschen Enttäuschung heraus zu hören. Als ich nach Rom gekommen war, hatte ich mit rauschenden Festen mindestens einmal pro Woche gerechnet. Natürlich bot Rom außerhalb der Villa eine Menge Möglichkeiten, doch außerhalb der Villa war für mich immer anstrengend.


    "Einen Arbor Felix? Tatsächlich? Dann gefällt es wohl auch den Göttern, wenn eine Claudia ins Haus einzieht." Erst nach der Hochzeit hatte ich erfahren, dass Epicharis eine echte Flavia geworden war. Trotzdem blieb sie für mich eine Claudia. Die Familie lag einem immerhin im Blut und man konnte seine Herkunft nicht einfach mit seinem Namen ablegen.


    "Sitzen ist eine gute Idee, ja. Und vielleicht einen verdünnten Wein." Ich hielt meinen Arm etwas nach vorne, damit mich Tuktuk zu der Sitzgelegenheit führen konnte. "Ich bin gekommen, um Antonia zu besuchen. Sie hat mich auf der Hochzeit eingeladen, auch um ihren kleinen Sohn kennen zu lernen. Wenn du nichts vor hast, würde ich mich freuen, wenn du uns Gesellschaft leisten würdest. Aber ich will dich natürlich nicht aufhalten, falls du gerade irgendwohin unterwegs bist."


    Im Grund kannte ich Epicharis nicht. Sie war bisher nur ein Name im Familienstammbaum gewesen. Zwar war unser Altersunterschied nicht übermäßig groß, aber als wir uns zuletzt auf Familienfeiern begegnet waren, waren wir noch in dem Alter, wo ein halbes Jahrzehnt darüber bestimmte, an welchem Tisch man Platz nehmen durfte. Das alles war für mich aber kein Grund, sie nicht kennen zu lernen. Wenn ich ehrlich war, kannte ich Antonia auch nicht viel besser.

    Als ich meinen Namen hörte drehte ich mich zur Quelle der Stimme um. Glücklicherweise verriet diese auch direkt ihren Namen und stellte sich somit als die Tochter meines Vetters Menecrates heraus. Ich hatte während ihrer Hochzeit nur wenige Worte mit ihr gewechselt und hätte ihre Stimme kaum eindeutig wiedererkannt, auch wenn sie mir direkt bekannt vorkam.


    "Salve, Epicharis! Danke, mir geht es bestens. Es freut mich, dich zu sehen."


    Natürlich 'sah' ich sie nicht. Aber es war eine Floskel wie viele andere, die ich ebenso selbstverständlich nutzte wie alle anderen auch. Es klang einfach merkwürdig zu sagen 'es freut mich, dich zu hören, zu riechen und zu spüren' und 'sehen' nahm im Sprachgebrauch zu oft die Bedeutung von 'sich treffen' an, als dass man es ignorieren konnte, selbst wenn man nichts sah. Ich selbst 'sah' das zudem sehr locker, wohingegen andere mir gegenüber oftmals Schwierigkeiten damit hatten.


    "Wie geht es dir? Hast du dich schon gut eingelebt?"