Huldvoll überging der Rhetor das retardierte Eintreffen des Decimus, um sogleich sich aufs Neue dem Stoff zuzuwenden, welcher augenscheinlich von weitaus größerer Komplexität war, als dies die knappen Ansätze, welche sein Grammaticus ihm bisweilen vermittelt hatte, hatten erwarten lassen. So wurden nun zahllose Fachtermini genannt, welche Patrokolos, wie der junge Flavius verhoffte, emsig notierte, um seinem Herrn eine Rekapitulation des Stoffes zu erleichtern, wobei er sich zweifelsohne im negativen Falle auch auf die Notizen der weiteren flavischen Diener, die hier nur allzu zahlreich vertreten waren, würde stützen können.
Letztlich offerierte der Magister recht bald schon aber erste interaktive Elemente des Unterrichts, welche sogleich geeignet waren, Manius Minor ob seiner Hypermetropie in gewisse Bedrängnis zu bringen, da doch das Gros der Adepten die Tabulae des Quinctius umstandslos persönlich akzeptierten, um in stillem oder gemurmelter Lektüre ihre Inhalte sich einzuverleiben. Der junge Flavius freilich war dessen gänzlich inkapabel, sodass er seine Historie an Patrokolos weiterreichte, welcher sofort mit gedämpfter Stimme diese zu rezitieren begann:
"Ein Löwe, ein Esel und ein Fuchs waren in Gesellschaft auf die Jagd gegangen. Sie fingen einen Hirsch und viele andere Tiere. Der Löwe befahl dem Esel, den Raub zu teilen. Dieser machte ganz gleiche Teile daraus und ließ den anderen die freie Auswahl. Der Löwe ergrimmte über diese Gleichheit, fiel über den Esel her und zerriss ihn in Stücke.
Dann wandte er sich dem Fuchse zu und befahl ihm eine andere Teilung zu machen. Der Fuchs legte nun alles auf die Seite des Löwen und behielt nur einen sehr kleinen Teil für sich. „Wer hat dich", fragte der Löwe, „eine so weise Einteilung machen gelehrt?" - „Das klägliche Schicksal des Esels", antwortete der Fuchs."
Mit einer gewissen schamhaften Regung ob der Furcht, seine Unzulänglichkeit mochte publik werden und ihn dem Spotte der übrigen Studenten aussetzen, blickte der Knabe um sich, womit es ihm freilich an Appetenz fehlte, um sämtliche Details der Narration zu vernehmen, weshalb er nach Abschluss der knappen Episode mittels eines nicht minder knappen
"Nochmals!"
, eine Repetition des Vortrages evozierte. Die Übung selbst erwies sich ihm indessen kaum sonderlich diffizil, da er zur Verbergung seiner Fehlsicht nicht selten genötigt war gewesen, Texte differenten Umfanges rasch und beim ersten Vernehmen derartig sich einzuprägen, dass sie mit Leichtigkeit zu rezitieren waren, während er die verschwommenen Zeichen auf einer Tabula betrachtete.
Somit meldete er sich zu Wort, nachdem Ollius bereits das Seinige vorexerziert hatte, um sein Talentum hier, wo seine Superiorität den Kommilitonen gegenüber zweifelsohne am höchsten war, in die Waagschale zu werfen. Mit bedächtigem Schritt bewegte er sich dann von seinem Platz nach vorn, stets in der Hoffnung, dass der Boden keinerlei Unebenheiten aufwies, welche ihn ins Straucheln bringen mochten.
An der Seite des Rhetors, dessen Züge sich mit jedem Schritte mehr zu einem indifferenten Schemen gewandelt hatten, angekommen, erfolgte schließlich die Introduktion seiner Fabel:
"Meine Geschichte handelt von der Ungerechtigkeit. Oder vielmehr dem Recht des Stärkeren: Drei Tiere, ein Löwe, ein Esel und ein Fuchs, gingen gemeinsam auf die Jagd."
Erst nun im Vortrage drang die Absurdität des Sujets ihm ins Bewusstsein, was ihm ein sublimes Lächeln entlockte.
"Der Löwe befahl dem Esel, die... Beute zu teilen. Dieser machte ganz gleiche Teile daraus und ließ den anderen... die freie Auswahl. Der Löwe ergrimmte über diese Gleichheit, fiel über den Esel her und zerriss ihn in Stücke."
Der erste Teil gelang ihm weitgehend ohne Mühen, ja geradezu wortwörtlich, was ihn mit nicht geringem Stolz erfüllte, da doch sein Vorredner augenscheinlich vom Wortlaut der eigenen Fabel abgewichen war. Der zweite hingegen bereitete auch ihm eine gewisse Inkommoditäten:
"Nun bestimmte der Fuchs den Löwen. Verzeihung: der Löwe den Fuchs zur Teilung der Beute."
Eine gewisse Insekurität befiel den Knaben, ob seine Rezitation hier ebenfalls den Wortlaut strikt befolgt hatte. Bei der nun folgenden Pointe erschien dies hingegen weitaus klarer:
"Der Fuchs legte nun alles auf die Seite des Löwen und behielt nur einen kleinen... einen sehr keinen Teil für sich. "Wer hat dich", fragte der Löwe, "eine so weise Einteilung machen gelehrt?" - "Das klägliche Schicksal des Esels", antwortete der Fuchs."
Voll an Satisfaktion blickte er in die Runde, welche ihn noch immer mit größter Erwartung anblickte. Erst jetzt erkannte er, dass nicht die Geschichte, sondern die Mnemotechniken im Zentrum des Interesses sich befanden, zugleich indessen auch, dass er diesbezüglich von der Prädisposition abgewichen war, da er doch seine eigene, vertraute Weise zur Anwendung gebracht hatte, indem er sich die getragene Stimme eines alten Mannes als Rezitatoren imaginiert hatte, um zugleich die Handlung der Geschichte vor seinem geistigen, durchaus wohlsichtigen Auge zu präsentieren, ohne jemals im Geiste ein Haus zu durchwandern. Indessen war ihm wohlbewusst, dass er sich mit einer derartigen Explikation, welche zugleich seine Missachtung der diesen Exerzitien zugrunde liegenden Axiome offenlegen würde, zurückzuhalten hatte, sodass er mit gedämpfterer Stimme vorerst, um die erwartungsvolle Stille zu füllen, verkündete:
"Memoriert habe ich dies... nun..."
Gleich einem Dieb, welcher im Hause des Bestohlenen ertappt wurde, fühlte er sich nun, was ihm die Schamesröte auf die Wangen trieb, während er spintisierte, wie seine Rezitation in das Bild eines Hauses zu transponieren war und dies in Bruchstücken hervorbrachte:
"Über der Pforte steht die Moral der Geschicht' geschrieben... im Vestibulum ... nun ... lehnt ein Jagdspieß und die Tiere, also der Fuchs, der Esel und der Löwe hängen als Beute. Im Atrium erblickte ich... Aurelius Lupus, ein... nun... Freund meines Vaters."
Jene Assoziation erbot sich ihm spontan, als er nach einem Bild für den Löwen rang und ihm, nachdem zuerst die flavischen Löwen in den Sinn gelangt, die ihm aber angesichts seines Vater, der augenblicklich sich zu diesen gesellte und welcher zweifelsohne das miserabelste Bild eines Löwen, wie jener der Fabel charakterisiert war, darbot, gänzlich abwegig erschienen waren, seine Gedanken zu den Aurelii schweiften, die den Löwen auf ihren Siegeln führten.
"Er verlangt von einem grauhaarigen Klienten eine Gabe, erhält indessen zu wenig und züchtigt ihn scharf. Dann folgt ein Rothaariger, welcher furchtsam ihm den gesamten Beutel reicht."
Jene Transposition erschien in der Tat überaus adäquat, zumal sie dem jungen Flavius offenbarte, welche Wahrheit sich doch hinter der Fabel verbergen mochte, da doch nicht selten Patrone ihre Klienten ausbeuteten (selbst wenn dies über Aurelius Lupus seines Wissens nach kaum zu postulieren war), jener Umstand zugleich aber auch das Anrecht der noblen Geburt war, da letztlich sie alle, die sie hier ihre Plätze inne hatten, zum Herrschen geboren waren, während der Krämer, der soeben das Lokal passierte, auf ewig ein Diener sein mochte, sodass auch die Güter der Welt entsprechend zu verteilen waren.