Livineia beanspruchte für sich eigentlich den Ruf, tadellos und unfehlbar zu sein. Eine wahre Dame des Patriziats, eine wahre Dame Roms. Insgeheim war ihr schon auch klar, dass allzu langes Verweilen im Bett in ihrem Stand zwar möglich, aber nicht besonders angemessen war. So zerrten an ihr zwei verschiedene Stimmen. Einmal die, die ihr ins Gewissen redete, dass Glaubwürdigkeit wichtiger war als Bequemlichkeit und dass sie ihren Arsch aus dem Bett kriegen sollte - eine Stimme, die durchaus in der Tonlage von Menecrates sprach. Dann war da noch die Stimme, die ihr erklärte, dass sie alles Recht dazu hatte, ihren geschundenen Kopf ein wenig auszuruhen und dass sie in ihrem Stand Tun und Lassen konnte, was auch immer sie wollte. Dass sie sich vor niemandem zu rechtfertigen hatte.
Logischerweise war die zweite wesentlich bequemer. Nachdem sie also noch einmal eingeschlummert war, während sie ihr Gesicht wohlig in die Kissen sinken ließ, wurde sie irgendwann erneut von einer Sklavin geweckt. Diese erklärte ihr, dass ihre Tante Romana gleich eintreffen würde. Siedend heiß durchzuckte es sie und sie erhob sich. Wehmütig dachte sie an das bequeme Laken unter ihr, die angenehmen, dämmerigen Träume. Vor ihrer Tante wollte sie sich allerdings keine Blöße geben. Die war... ziemlich perfekt. Sie stand in der Öffentlichkeit, war von immenser Wichtigkeit für das rituelle Bestehen Roms und ein Beispiel, an dem auch Livineia nicht selten bemessen wurde. Ihr Stolz war zu groß, dass sie nun ausgerechnet deren Besuch verschlafen wollte. Sie schälte sich also aus dem Bett und ließ sich einkleiden und zurecht machen.
Als sie eine halbe Stunde fertig war, kniff sie sich noch einmal in die Wangen um frischer zu werden, aber sie fühlte sich immer noch ein wenig vernebelt und müde. Ihre Schläfen drückten und ihre Augen brannten. Egal - der Besuch von Tante Romana war ein Anlass, der keinerlei Tranigkeit duldete. Livineia konnte, wenn sie wollte. Wenn ihr eigenes Ansehen ein Thema war, dann konnte sie sogar sehr gut.
Mit der gewohnt unfreundlichen Mimik, die immer auf ihrem Gesicht lag wenn sie dieses neutral hielt, schritt sie an die Seite ihres Bruders.
"Guten Morgen." begrüßte sie ihn und hatte dabei nicht die Tonlage, mit der man morgens gern liebevoll begrüßt wurde. Sie kniff ein wenig wehmütig die Augen zusammen. Sie war müde und hatte Kopfschmerzen, wie meistens. Das konnte Marcellus ruhig wissen. Da er sich zunehmend gleichgültiger zeigte, präsentierte sie ihr Leid nicht selten sogar noch ein wenig verstärkter. Es nervte sie unwahrscheinlich, dass es ihr schlecht ging und er das überhaupt nicht ernst nahm. Sie war eigentlich nur seinetwegen in Rom, für die Familie - und er scherte sich einen Dreck um sie!
Ehe sie ihn allerdings weiterhin davon überzeugen konnte, wie stark ihre Schmerzen heute waren, vernahm sie von draußen Geräusche und sie nahm nun lieber Haltung an. Romana würde sich sicherlich wesentlich empathischer zeigen. Da kam sie, die strahlende, mustergültige, liebevolle, gütige, zuverlässige, supertolle Romana. Der Stern der Familie Claudia. Bei ihrem heiligen Leuchten musste sich Livineia fast die geblendeten Augen zuhalten. Ob sie wirklich so keusch war, wie alle meinten?
"Liebe Romana!" sagte sie also mit sehr freundlicher Stimme, der die natürliche Wärme allerdings fehlte. Sie nahm diese zart in den Arm. Natürlich wurde erst der kleine Musterknabe gegrüßt, die große und letzte Hoffnung der jüngeren Generation der Claudier. Sie war ja ohnehin nur Beiwerk. Vielleicht schmückend, vor allem aber lästig. Wie eine schlecht sitzende stola. "Wie schön, dass du hier bist! Großvater konnte es leider nicht einrichten, hier zu sein, selbst wir sehen ihn kaum mehr in all seinem Schaffen. Vater ist in Etrurien." Und Livineia wäre eigentlich auch ganz gern dort - nur eben ohne jemanden, der sie morgens aus den Federn trat. Hier hatte sie es dahingehend noch am bequemsten.