Scatos Blick wanderte zu der grazilen Schreibhand auf seinem Arm. Sonst fühlte Scato sich immer als Lauch, was er im Vergleich zu den meisten anderen Urbanern auch war, aber gegenüber dem Scriba fühlte er sich nun muskulös und männlich. Dieses Gefühl hatte seinen Reiz. Vom Exerzieren und dem Dienst unter freiem Himmel waren seine Arme braun geworden und die Hand von Tiberios leuchtete darauf fast wie Milch. Scato legte seine andere Hand auf die von Tiberios.
"Kluge und gute Worte, Tiberios. Ich nehme deine Bitte um Verzeihung an. Ich hätte dich meinerseits nicht in die Verlegenheit bringen dürfen, überhaupt agieren zu müssen. Du gehörst mir nicht und es lag keine Erlaubnis deiner Herren vor. Da wäre es an mir gewesen, korrekt vorzugehen."
Sanft umfasste er die Finger, die weich und bar jeder Hornhaut waren.
"Dass ich dich an der Porta Praetoria wie einen Fremden behandelt habe, hat jedoch nichts mit deinem Stand zu tun oder damit, dass ich dich behandel kann, wie ich will. Glaube mir, wenn ich dir sage, dass ich jeden so behandelt hätte, auch meine eigene Familie. Persönliche Sympathien oder Antipathien enden, sobald ich den Gladius trage. Ich bin nicht mehr Scato, der Freund oder Sohn, sondern Miles Iunius Scato, der Urbaner.
Das Prinzip der Gerechtigkeit wird im Feldzeichen der Urbaniciani als eine Waage symbolisiert, als einen mechanischer Apparatus. Die Waage fühlt nicht. Ich will dir erklären, warum.
Rom wäre nicht, was es heute ist, wenn niemand für Recht und Ordnung sorgen würde. Was geschieht, wenn von aufgebrachten Laien Selbstjustiz geübt wird, sehen wir täglich in der Subura, zuletzt vermutlich im brennenden Ganymed. Hast du die Ruinen und die Verletzten gesehen? Wenn nicht, schau sie dir das nächste Mal an und dann denke zurück an Scato und Lurco. Das ist, was wir und unsere Kameraden von den Vigiles und den Prätorianern verhindern wollen. Dabei kann man nicht immer nett sein, denn die Feinde Roms sind das auch nicht. Es geht nicht darum, der Bevölkerung zu gefallen. Es geht darum, Rom und seine Bewohner zu schützen, auch vor sich selbst.
Wir sind zu diesem Zweck bestens ausgebildet und schwer bewaffnet und haben gelernt, uns durchzusetzen. Was aber würde geschehen, würden wir nicht mehr das große Ganze im Auge behalten, sondern persönliche Belange in den Vordergrund stellen? Was, wenn wir uns in Kleinkriegen ergehen oder in die Seilschaften von Gefälligkeiten einreihen würden? Eine Macht wie die Cohortes Urbanae ist zweifellos in der Lage, ganze Existenzen zu ruinieren, würden wir persönliche Abneigungen oder Gefälligkeiten sprechen lassen und vielleicht sogar den Kaiser selbst vom Thron zu reißen und einen neuen an seine Stelle zu setzen. Aber dafür sind wir nicht da.
Wir schützen, Tiberios, auch deine Herren und dich. Jene, die wir lieben und auch jene, die wir hassen - wir schützen sie alle. Und darum dürfen wir im Dienst nicht fühlen. So dienen wir Rom am besten. Und damit auch dir, denn du bist Teil davon."
Er zog die Hand an sein Gesicht. Für einen Augenblick schmiegte er seine Wange dagegen und tiefes Verlangen lag in seinem Blick. Scato wollte diesen Jüngling, er wollte ihn so gern besitzen, doch er konnte nicht, denn Tiberios gehörte anderen Herren. Mit diesem Gedanken bettete er die Hand sacht zurück auf den Tisch, als hätte er eine wertvolle Reliquie dort abgelegt. Er strich ihm mit den Fingerspitzen noch einmal über beide Hände, als wolle er taktil von ihm naschen, und löste dann die Berührung. Tiberios hatte für sie beide ein Opfer gebracht, indem er die ersten Annäherungsversuche von Scato zu ihrer beider Wohl geblockt hatte. Wenn Scato sich jetzt nicht zusammenriss, brachte er Tiberios erneut in Verlegenheit und machte das Opfer zunichte.
"Auch du hast mich geschützt, indem du mich an meinen Platz erinnert hast, obwohl du wusstest, was du damit auslösen würdest. Wir sind gar nicht so verschieden, Tiberios. Deine Herren müssen sehr stolz auf dich sein."