Die Autopsie
"Ach, Pullus. Die Toten sind harmlos. Die Lebenden sind es, die du fürchten musst. Als Urbaner solltest du das wissen. Es gibt nichts so entspannendes wie eine Leichenschau, denn dann ist der Kampf um den Patienten vorbei. Verloren, aber vorbei."
Er bedachte den Kameraden mit einem Blick, der diesen beruhigen sollte, war sich allerdings bewusst, dass es nicht zu seinen Talenten gehörte, eine positive Wirkung auf seine Mitmenschen zu haben. Scato lockerte seine Finger und trat dann an den Leichnam heran.
"Ich habe schon immer mal einen sezieren wollen", flüsterte Scato fast lautlos. "Mal schauen, wie sie innen gebaut sind, wie alles miteinander funktioniert. Aber es ist verboten beim Bürger ... vielleicht mal falls im Carcer ... ihr wisst schon. Um etwas zu reparieren, muss man wissen, was überhaupt kaputt ist! Lasst es mich wissen, wenn sich mal eine passende Gelegenheit ergibt."
Er warf ihnen einen verschwörerischen Blick zu, dann widmete er sich der Leiche. Sein Blick veränderte sich.
"Kommen wir zur Autopsie. Ich bitte euch daran zu denken, dass wir hier einen toten Menschen liegen haben, der Verwandte hat, die ihn lieben, die um ihn weinen. Hier spielte sich augenscheinlich ein Verbrechen ab. Ich möchte, dass die Würde des Toten so gut als möglich gewahrt wird. Kein Lachen und kein Grinsen jetzt mehr. Zeit, den Stress abzubauen, ist später, nicht jetzt. Pullus, bitte öffne das Fenster und hol etwas Weihrauch, den du verbrennst."
Er wartete, bis Pullus so weit war, dann fuhr er fort.
"Der Dinge Schein ist nicht der Dinge Wesen! Wir sehen, dass das Opfer männlich ist, weiße Hautfarbe. Für so eine große Verletzung ist hier erstaunlich wenig Blut zu sehen, der Leichnam ist regelrecht sauber. Der Bauch wirkt geschwollen - ob aus Leibesfülle heraus oder aufgrund krankhafter Ursachen, kann ich nicht sagen. Dafür müsste ich hineinschauen dürfen. Bart und Körperhaar sind sauber entfernt, was mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auf einen höheren gesellschaftlichen Status verweist. Die Nägel sind ebenfalls sehr gepflegt, anhand der blassen Spuren um die Finger zu erahnen war er Ringträger.
Eine Autopsie ist hier angeraten, weil vermutlich ein Mord vorliegt.
Wir stellen zunächst fest, dass der Mann tatsächlich tot ist. Das haben andere vor mir schon getan, aber ich bestätige es hiermit. Neben der durchtrennten Kehle und der Blässe, die auf hohen Blutverlust hindeutet, gibt es weitere Todesanzeichen. Der Mann fühlt sich sehr kalt an. Die Vitalfunktionen sind erloschen, keine Atmung ist zu verzeichnen, kein Herzschlag. Ihr habt ihn herumgetragen, doch man sieht, dass sich das Restblut im Rücken sammelt. Totenflecken sind die Folge, allerdings nicht so ausgeprägt, wie wenn es wärmer wäre. Die Leichenstarre löst sich schon wieder."
Scato ruckelte an den Gliedmaßen und versuchte, die Ellbogen und Finger zu biegen, doch nicht kraftvoll. Trotz seines Interesses ging er so respektvoll wie möglich mit dem Toten um.
"Jap. Der Mann ist seit ein bis zwei Tagen tot. Leichengeruch ist festzustellen, aber noch kein Verwesungsgeruch, was dem kühlen Wetter geschuldet ist. Er wurde dem Stadium der Starre nach zu urteilen gestern oder vorgestern ermordet. Je nachdem, wann du am Tatort warst, kannst du das vielleicht noch präzisieren, Lurco.
Kommen wir zum augenfälligsten, zum Kehlenschnitt. Mich macht stutzig, dass wir hier keine blutigen Ränder sehen. Normalerweise ist so ein tiefer Schnitt eine elende Sauerei, der ganze Mensch ist voller Blut und die Wundränder sind ebenfalls blutverkrustet, aber ich habe eine Vermutung."
Scato zog die Lider ein Stück auf.
"Die Augen sind gebrochen, ihr seht - da ist nicht das berüchtigte Starren zu finden, was viele bei einem Toten vermuten. Das ist Unsinn. Hier starrt überhaupt niemand mehr, die Lider hängen vollkommen schlaff, genau wie auch die Augäpfel selbst erschlaffen. Sie wirken eingefallen und vertrocknet. Da, seht ihr? Die Augäpfel befinden sich im Stadium fortgeschrittener Verfärbung, sie sind bräunlich. Der Mann ist, wie ich bereits sagte, mindestens 24 Stunden tot.
Aber wir sehen noch etwas. Die Adern in den Augen sind geplatzt, starke Netzhauteinblutungen sind zu verzeichnen. Und das ist des Rätsels Lösung. Dieser Mann wurde nicht durch den Schnitt in der Kehle getötet, wie es zunächst scheint - sondern er wurde erstickt! Er blutete erst im Anschluss vollkommen sauber aus, weshalb er auch nicht von oben bis unten mit Blut beschmiert ist, sondern recht sauber wirkt."
Er ließ die Lider los und untersuchte den Toten weiter.
"Ich sehe keine Würgemale am Hals und keine Abwehrspuren. Hier fand kein Kampf statt, womöglich wurde das Opfer sediert und erstickte am Versagen der Lungenmuskulatur. Ich vermute aufgrund der Stärke der Einblutung jedoch eher etwas anderes: Es steckt was in seinem Rachen, hat er etwas verschluckt. Ein Stein, eine Nuss ... etwas derartiges vielleicht. Reich mir mal die lange Pinzette da, Lurco. Entscheidend ist für den Fall zu wissen, dass der Schnitt durch die Kehle nicht Todesursache gewesen ist - er ist erst nach dem Tod erfolgt! Warum? Das kann man nur spekulieren."