Herophilos von Samothrake
http://www.imperiumromanum.net…/ava_galerie/Grieche1.jpg Der Folgetag lag wieder etwas unter einer weißen Decke auf dem Pult. Der Philologe bat die Studenten auch direkt, nicht im Auditorium Platz nehmen, sondern vorn stehen zu bleiben. Auch diesmal schien er etwas aufgeregt, als er schließlich begann:
"Geschätzte Akroatoi,
nachdem wir gestern die Mauern des Hauses des menschlichen Körpers erkundet haben, wollen wir heute mit der Einrichtung, den Fensterscheiben und Dachziegeln fortfahren. Der Körper ist ein unendlich komplexer Mechanismus, in dem die Säfte fließen - wir sprachen davon - aber auch eine Mechanik am Werk sind, deren Funktionsweise sehr ähnlich den Dingen ist, die wir von den Berechnungen des Aristoteles und anderer Physiker kennen.
Um diese Mechanik zu erkunden, müssen wir den menschlichen Körper untersuchen - aber nicht nur äußerlich, sondern auch sein Inneres. Nur, wenn wir die Dinge unter der Oberfläche intensiv betrachten - die Muskeln, die Organe, die Adern - werden wir verstehen lernen, wie der Mensch funktioniert. Da es jedoch im Imperium nicht mehr gestattet ist, menschliche Leichname zu sezieren."
Herophilos' Miene zeigte, dass er diese Entscheidung nicht gerade unterstützte.
"Für den Iatros, der keine Tiere, sondern Menschen heilen möchte, ist es dennoch von größter Wichtigkeit, das Objekt seiner Kunst genau zu kennen. Wir müssen uns bei der Untersuchung deshalb afu die Analogien aus dem Tierreich verlassen."
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Er zog die Decke beiseite. Darunter lag auf dem Rücken ein Berberaffe, ausgestreckt wie ein Mensch*. Sein Fell war nass und tropfte ein wenig.
"Dies ist ein Berberaffe, die geeignetste Spezies unter den Tieren für analogisierende Sektionen. Je ähnlicher uns ein Tier nämlich ist, desto ähnlicher werden seine Organe sein - ein Affe also besser als ein Pferd, ein aufrecht gehender Affe besser als ein solcher auf allen Vieren. Die Schädelform dieses Exemplars kommt schließlich ebenfalls besonders gut in die Richtung eines Menschen, sodass wir hier von größter Ähnlichkeit ausgehen können.
Es gibt zwei Möglichkeiten des Sezierens: Einmal an toten Objekten wie hier - am klügsten ist es, den Affen zu ertränken, damit er möglichst wenige Verletzungen aufweist, und ihn möglichst frisch zu benutzen, ehe sein Blut absinkt oder ähnliches. Zum anderen kann auch an lebenden Affen die Funktionsweise der Körpermechanik im Gebrauch studiert werden. Sobald der Körper stirbt, beginnen nämlich Prozesse der Zersetzung im Körper. Ohne die Kraft des Geistes erstarren die Muskeln und erschlaffen schließlic für immer, das Blut sinkt ab, es bilden sich Gase. All das lässt die Mechanik unter Umständen anders erscheinen, als sie sich eigentlich verhält. Darüber hinaus können bestimmte Zusammenhänge - etwa die Steuerungsfunktion der Nerven und des Gehirns - nur am lebenden Objekt studiert werden. Da weder Tiere, noch Menschen sich aber höchst ungern sezieren lassen, wollen wir für den Anfang mit einem toten Tier beginnen."
Neben dem Affen lag ein Ledermäppchen, das Herophilos nun aufrollte. Darin befanden sich verschiedene Messer, Skalpelle und Haken. Dann hob er den linken Arm des Affen an, der offenbar rasiert worden war.
"Vor dem Aufschneiden eines Affen ist es sinnvoll, die Haare zu entfernen - das verschafft einfach mehr Überblick, dazu ist das Fell für unsere Zwecke unerheblich. Das Entfernen der Haut sollte dagegen durch den Arzt selbst vorgenommen werden, denn manche Dinge liegen direkt unter der Haut und können nur dann Beachtung finden, wenn der Forscher selbst mit ihnen konfrontiert war.
Ebenso ist es von Bedeutung, nach Möglichkeit stets mit den Muskelfasern zu schneiden und ein Durchtrennen der Fasern zu vermeiden - unter Umständen kann dieses Kappen nämlich die Funktion des Muskels zerstören, sodass sie später nicht mehr nachzuvollziehen ist. Grundsätzlich ist es insofern klug, zuerst theoretische anatomische Schriften zu studieren, ehe man sich selbst an das Objekt macht.
Unter diesen Maximen wollen wir also mit der Hand beginnen - ein höchst komplexes System, doch bietet es einige grundlegende Einsichten, die uns später zugute kommen werden. Zuerst also die Haut."
Herophilos griff nach einem Skalpell und begann zu schneiden. Vorsichtig setzte er einen Schnitt quer über den Unterarm und begann dann, Stück für Stück die Haut vom Knochen zu trennen. Natürlich kam rasch Blut zum Vorschein - der Affe war ja frisch ertränkt, aber hatte zumindest keinen Puls - doch davon ließ der Philologe sich ebensowenig beeindrucken wir von dem gelegentlichen Zucken der Muskeln.
"Da unser Affe sehr frisch ist, funktionieren die Nerven teils noch. Das Zucken ist also kein Grund zur Annahme, er lebe noch - es sind lediglich die Rückstände von Leben im Körper."
Nachdem der Unterarm freigelegt war, reichte ein Gnorimos einen Tupfer, mit dem das Blut ein wenig abgetupft wurde, bis die Muskeln deutlich sichtbar wurden.
Der erste Muskel an der Oberfläche des mittleren Unterarms (palmaris longus). Davon später mehr. Es werden auch Bänder sichtbar, die über den Gelenken liegen, beide innen und außen am Glied. Unter ihnen liegen die Sehnenköpfe - innen die, die die Finger beugen, außen diejenigen, die sie strecken."
Geübt hielt er den Arm hoch und deutete an die entsprechenden Stellen. Als er die Sehnenköpfe erwähnte, drückte er auf die noch unsichtbaren Stellen, was tatsächlich zu einer Reaktion der sonst schlaff hängenden Finger führte.
"Auf jeder Seite der Bänder auf der inneren Seite des Arms ist ein Muskel. Der, der das Gelenk beugt, liegt in einer Linie mit dem kleinen Finger, der andere mit dem Zeigefinger. Außen liegt ein einzelner Muskel im Unterarm, der das Gelenk streckt sowie zwei, die das Gelenk bewegen. Der letztere bewegt auch den Daumen. Die Sehnen all dieser Muskeln an der Außenseite, die erwähnt wurden, haben Bänder quer um sie herum.
Es gibt auch einen Muskel, der von der Speiche herabkommt und hier nicht unter der Sehne endet wie die bisher erwähnten, sondern in einer Art Membran. Dadurch wird dieser Teil gebeugt. Kein netzartiges Band umgibt diesen Muskel, kaum mehr als die Muskeln innen, die das Gelenk bewegen, aber er wird fleischig und membranös am unteren Ende der Speiche und geht nach innen zum Gelenk. Man könnte das faserige Ende Muskel-Sehne nennen (Hymenode tenonta). Dieser Muskel hat eine Mittelposition, da er wieder zu den Muskeln außerhalb des Glieds, noch zu denen innerhalb gehört, wenn die Hand in ihrer natürlichen Position ruht, da er auf dem gesamten Glied und der Speiche ruht. Da Anatomen die Teile des Unterarms in "innere" und "äußere" Region unterteilen, müssen wir ihrem Beispiel folgen. Dieser Muskel sollte zu den äußeren Muskeln gezählt werden.
Ein weiterer Muskel im Unterarm hat eine ungewöhnliche Funktion außer an der Wade. Er ist auf der Oberfläche innerhalb der Hand unter der Haut, zwischen Elle und Speiche. Er endet in einer flachen Sehne, die sich unter der weichen, haarlosen Partie der Hand ausbreitet. "
Immer wieder zeigte der Philologe die erwähnten Zusammenhänge am Objekt, schnitt hier und da weiter voran, um die darunter liegenden Schichten zu zeigen.
Bild: Wikimedia Commons
Autor: Thomas Bresson
* Man muss sich den Affen natürlich auf dem Rücken liegend denken.