Nicht tief genug? Valeria hob überrascht die Augenbrauen und musterte erneut das Profil des Mannes. Er schien ein Senator zu sein, sogar ein Patrizier. Vielleicht war das ein zu großes Kaliber für sie, überlegte sie kurz. Jetzt hatte sie noch die Möglichkeit, sich mit einer Ausrede davonzustehlen, aber der Moment verstrich, ehe sie sich dazu entschließend konnte, ihn zu ergreifen. Seine Worte faszinierten sie, denn er hatte schlicht und einfach recht.
Valeria erwiderte erstmal nichts, sondern sah ihn nur an. Sie selbst war ganz plötzlich von Melancholie ergriffen, und außerdem hätte sie sowieso nicht gewusst, was sie daraufhin antworten sollte. Sie kannte ihn ja kaum! Ein wenig verlegen umschlang sie sich selbst mit den Armen und zupfte geistesabwesend ihre Palla zurecht, bis er dann plötzlich wieder etwas sagte. Bis eben hatte sie noch mit sich selbst ausgehandelt, ob sie ihn so nicht einfach stehen lassen sollte, aber eigentlich konnte sie das nicht verantworten. So viele hatten sich hier schon in den Tod gestürzt, da war es ein Wunder, dass der felsige Boden nicht blutrot war.
"Nein", erwiderte sie schlicht auf die ebenso schlichte Frage. Sie sah sich kurz um, aber niemand schien das Stückchen Stoff zu vermissen. Und Valeria selbst war etwas ratlos, was sie überhaupt hier tat. Sie folgte seinem Blick und betrachtete wie er einen Moment den seidigen Schal, der von dem gratigen Felsen festgehalten wurde, dann zuckte sie mit den Schultern und richtete den Blick wieder auf ihn. "Ein Tuch kann man ersetzen, ein Leben nicht", meinte sie ein wenig gleichgültig und betrachtete ihn forschend. Er sah nicht aus, als würde er springen wollen, aber er sah sehr wohl aus, als hegte er ziemlich trübe Gedanken. Vielleicht hatte er auch tatsächlich mit dem Gedanken gespielt, zu springen. "Es geht da recht tief runter, vielleicht solltest du ein Stückchen zurücktreten, ehe der Wind statt einem wertlosen Schal etwas anderes zu Fall bringt und da hinunter weht", bemerkte sie lakonisch. Sie hatte keine Lust, eine Art Retterin zu spielen, aber einen Mann vor ihren Augen springen zu sehen, das wollte sie auch nicht. Abgesehen davon, dass man tatsächlich nur schlecht an einen zerschmetterten Leichnam heran kam, hatte sie keine Lust auf das Bild, das sich ihr dann bieten würde - und auf die Gewissheit, dass sie es vielleicht hätte verhindern können.