Ein nicht weiter bemerkenswerter Bote gab einen nicht weiter bemerkenswerten Brief, "für die Dame Decima Seiana, persönlich", an der Porta des Hauses ab. Das Papyrus war zusammengerollt, verschnürt, versiegelt, und ohne Absender.
Liebe Seiana,
Wo soll ich anfangen? Wahrscheinlich bist Du furios wütend über mein Verschwinden, und das zurecht, und wahrscheinlich ist es anmaßend, Dich dafür um Deine Verzeihung zu bitten.
Aber ich konnte nicht in Livianus' Haus bleiben! Nicht, nachdem er mich vor dem gesamten Senat diffamiert hat, mir öffentlich in den Rücken gefallen ist, um seines Wahlergebnisses willen! Die ganzen Jahre habe ich ihm nachgeeifert, bin den Weg gegangen den die Familie vorgesehen hat, auch wenn der beileibe nicht meinen Wünschen entsprach, wollte nur, dass Livianus endlich mal stolz auf mich ist, war froh und glücklich wenn er mir einen Brocken seiner kostbaren Anerkennung hingeworfen hat... – und jetzt sehe ich, dass er selbst in Wirklichkeit keinen Deut auf die Werte unserer Familie gibt. Oder sie jedenfalls behände über Bord geworfen hat, um seines Fortkommens willen. Ich weiß ja, dass er glaubt, das richtige zu tun, um die Familie in diesen verworrenen Zeiten zu beschützen. Aber mich hat er einfach nur im Stich gelassen, in einer unerträglichen Lage. Ich habe das, das alles, einfach nicht mehr ausgehalten.
Soviel, um es zu erklären, auch wenn es keine Entschuldigung sein kann, dafür dass ich mich nicht zumindest von Dir verabschiedet habe, als ich mich entschied zu gehen.
Es war eine schlimme Zeit. Aber dann ist mir etwas unglaubliches und... wunderbares widerfahren. Das erzähle ich Dir aber lieber direkt. Wenn Du mich noch sehen magst? Bitte? Meine liebe große Schwester, ich würde mich unheimlich freuen Dich wiederzusehen. Neulich Nacht habe ich von Dir geträumt, anfang war es wie damals in diesem Kurs über Kaiser Tiberius, weißt Du noch, den wir zusammen besuchten. In meinem Traum hab ich versucht, bei der Prüfung heimlich von Dir abzuschreiben, und dann wurde es... seltsam und bedrückend, Du hast auf einem Thron gesessen, aus dunklem Holz, auf hohen Stufen, und ich stand vor Dir und wollte irgendwie... mit Dir sprechen, aber es war wie eine Barriere zwischen uns und Du hast mich nicht gehört.
Ich möchte wissen wie es Dir geht, und ich hoffe inständig dass auch Du einen Weg gefunden hast, die schlimme Zeit soweit eben möglich hinter Dir zu lassen.
Wenn Du mich besuchen magst – ich lebe jetzt in einer Kultgemeinschaft des Serapis, in dem alten Tempel an der Südseite des Ianiculums. Bitte behalte das für Dich, und bitte verbrenn den Brief wenn Du ihn gelesen hast, und bitte achte darauf, dass Dir niemand folgt wenn Du dorthin gehst. Ich möchte nicht von den Lemuren der Vergangenheit eingeholt werden – und auch nicht von irgendwelchen Leuten, die meinen, mit mir noch irgendwelche Rechnungen offen zu haben. Darum bin ich hier einfach nur: Serapio, und möchte dass das so bleibt.
Und bitte sag vor allem Vater nichts. Er wird ja froh sein, mich los zu sein.
Wenn Du mir schreiben magst, dann richte den Brief bitte an einen gewissen "Q. Talius Nemo, Popina zum Treidelpfad, Via Portuensis" – das kommt dann schon bei mir an.
Mögen Isis und Serapis über Dich wachen, und mögen sie unsere Wege bald wieder zusammenführen!
Ich umarme Dich.
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