Beiträge von Galeo Claudius Myrtilus

    Es war Abend, als Zahir, der Leibsklave des Claudius Myrtilus, ein Testament hier vorbei brachte. Er gab es einer der zuständigen Vestalinnen, verabschiedete sich höflich und machte sich wieder auf den Rückweg.



    Testament des
    Galeo Claudius Myrtilus,
    Sohn des Tiberius Claudius Verborum und der Claudia Marcella



    Sollten dereinst die Götter mich heimrufen, vermache ich meinen sämtlichen weltlichen Besitz vollumfänglich meiner leiblichen Tochter Claudia Callista, die ich hiermit aus der Vormundschaft entlasse. Von nun an möge sie frei in ihrer Entscheidung sein.


    Wisse, mein Kind, dass das Herz eines Vaters selbst bei größter Enttäuschung und schlimmstem Kummer stets sich der Treue und Liebe seiner Kinder bewusst ist. Achte auf deinen Bruder, columbula mea, und trage artig zum Glanze der Familie bei.


    Ich verzeihe dir.


    Verfügt im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und unterschrieben mit eigener Hand,
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    Fahrig war die Hand des Alten ohnehin schon lange. Kaum leserlich mehr seine Schrift. Sein Geist indes war von klarem Scharfsinn. Und wozu hatte er einen Sklaven, der Lesen und Schreiben konnte? "Zahir, mein Guter. Es ist Zeit", sagte Myrtilus daher am Abend seiner Abreise zu seinem nubischen Freund. "Schreibe...." Und er diktierte ihm sein Testament.



    Testament des
    Galeo Claudius Myrtilus,
    Sohn des Tiberius Claudius Verborum und der Claudia Marcella



    Sollten dereinst die Götter mich heimrufen, vermache ich meinen sämtlichen weltlichen Besitz vollumfänglich meiner leiblichen Tochter Claudia Callista, die ich hiermit aus der Vormundschaft entlasse. Von nun an möge sie frei in ihrer Entscheidung sein.


    Wisse, mein Kind, dass das Herz eines Vaters selbst bei größter Enttäuschung und schlimmstem Kummer stets sich der Treue und Liebe seiner Kinder bewusst ist. Achte auf deinen Bruder, columbula mea, und trage artig zum Glanze der Familie bei.


    Ich verzeihe dir.



    Verfügt im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte und unterschrieben mit eigener Hand,
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    Als es vollbracht war, winkte Myrtilus erschöpft. "Nun geh, mein Guter, und überbringe den Vestalinnen dieses Dokument." Zahir tat wie ihm gehießen. Als er später am Abend zurückkehrte, war der Alte bereits in tiefen Schlaf versunken.


    Marcus Aurelius Corvinus
    villa Aurelia zu Rom


    Galeo Claudius Myrtilus s.d.


    Aurelius, meine Gesundheit erlaubt es mir nicht länger, ein Auge auf die wirtschaftlichen Beziehungen meiner Familie zu werfen. Hieraus resultiert, dass ich leider gewzungen bin, den mit dir geschlossenen Vertrag über die wöchentlichen Olivenlieferungen aufzukündigen. Dieses Schreiben beigelegt ist eine Urkunde, mit welcher sich die Rechnung der letzten Lieferungen begleichen lässt.


    Ich werde meiner Gesundheit wegen nach Baiae gehen, in den Süden, um dort auf meine alten Tage etwas Ruhe und Frieden zu finden. Mögen die Götter dir und den deinen stets gewogen sein.


    Hochachtungsvoll,
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    Anhang: Urkunde über eine Parzelle Land in Flaviobriga


    septemvir
    regia
    des cultus deorum,
    Roma


    Galeo Claudius Myrtilus s.d.


    Der Anlass, aus dem ich schreibe, fällt mir nicht leicht zu schildern, und doch ist es meine Pflicht, ihn zu nennen und gleichsam mein Anliegen vorzutragen. Ich bitte um Verzeihung, dass es mir nicht möglich ist, dies selbst und in persona zu bewältigen.


    Das Alter gibt, wie Ovid bereits bemerkte, nicht nur Erfahrung, sondern auch Gebrechen und Krankheit. Auch an mir geht diese Crux nicht vorüber. Seit mehreren Wochen halten mich Gebrechen von den ehrenwerten Aufgaben eines Augurs ab, seit Monaten bin ich an einen Gehstock gefesselt, und schweren Herzens blicke ich nun dem Ende des Weges entgegen und muss mir wie den Kollegien und dem Kaiser eingestehen, dass ich nicht länger imstande bin, Rom und den Göttern gebührend zu dienen. Ich bitte daher untertänigst darum, dass man mich aus dem offiziellen Dienste des Augurenamtes entlässt, damit ich in Baiae dem elysium als ein Mann entgegenschreiten kann, der sich nicht vorwerfen muss, keine Einsicht vor dem Alter gezeigt zu haben.


    Hochachtungsvoll,
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    Der Blick des Alten ruhte noch eine Weile auf der zarten Gestalt seiner bereits verloren geglaubten Tochter. Doch nein, sie war nicht verloren, das war sie nie gewesen. Nur verwirrt war sie gewesen. Gedrängt und in die Irre geleitet von...nein, daran wollte er gar nicht denken. Es würde nur den Gram wieder an die Oberfläche sprudeln lassen, der ihn bei dem Gedanken an ihn sof oft befiel. Myrtilus seufzte und neigte schließlich bejahend den Kopf. "Aber ja, meine culumbula. So ganz allein in einer villa, so fern der Heimat und aller Freuden... Nein nein. Selbstverständlich wirst du hier wohnen können. Ich werde sogleich mit Herius sprechen. Du und Nero, ihr beiden seid herzlich willkommen. Herzlich willkommen....ja." Myrtilus nickte einige Male zerstreut und blickte auf den knorrigen Stock hinab, der an seinem Knie lehnte. Daher entging ihm das Kauen auf der Unterlippe, das Callista praktizierte.


    Kurz darauf hatte der kleine Nero Myrtilus wieder in seinen Bann gezogen. Die Augen des Alten leuchteten vor Stolz, als er verfolgte, wie artig der Junge schon war. Und das in seinem Alter! Sechs Jahre... Gerade ein Zehntel so alt wie Myrtilus selbst war. Ein Schmunzeln zeichnete sich auf seinen Zügen ab. Welch senile Gedanken. Und so ein zartes Gesichtchen hatte der Junge. Etwas ernst vielleicht, aber dennoch. Gewiss würde er dereinst die Damenwelt betören, so wie Callista die Herrenwelt betörte - was Myrtilus glücklicherweise nicht ahnte, war, wie sehr sie derzeit die römische Männerwelt betörte. Entzückt vernahm Myrtilus die Worte des findigen, jugendlichen Geistes. Erfrischend waren die Fragen des Kleinen, und Myrtilus war in seinem Element. "Mein Spatz, claudisches Blut fließt in deinen Adern, Natürlich hattest du keine Angst. Merke dir: ein Claudier zaudert nicht, er verzagt nicht. Er stellt sich seinen Ängsten und selbst den höchsten Anforderungen." Belehrend klangen die Worte, doch schwang auch der großväterlich-freundliche Ton mit, der Myrtilus zu eigen war. Amüsiert glitzerten die altersschwachen Augen bei der Flut an Fragen, die Nero nun stellt. Myrtilus konnte gar nicht so schnell auf alles antworten, und da mahnte seine Tochter ihren Jungen auch bereits. Myrtilus' Hand legte sich auf den Unterarm seiner Tochter, liebevoll war das Lächeln und nachsichtig, als er erwiderte: "Ach, lass den Jungen ruhig." Zu Nero gewandt fuhr er fort: "Gedient ist ganz richtig, junger Mann. Bei der Ausbildung zum Soldaten lernt man schwimmen, wenn man es noch nicht kann bis dahin. Aber keine Angst, als ich sechs Jahre alt war, konnte ich auch noch nicht schwimmen." Ein faltiges Schmunzeln begleitete das leise, vergilbt klingende Lachen des Claudiers. Er nahm sich vor, Nero baldigst einmal seiner Mutter zu entführen, medicus hin oder her. Sagte man nicht stets, Bewegung zue gut? Andererseits zweifelte Myrtilus an, dass er selbst würde schwimmen können. Nun ja, dem Jungen würde er es dennoch beibringen können. Verschwörerisch war das Zwinkern, dass Nero sehen würde, wenn er nun zu seinem Großvater aufsah.


    "Weißt du denn schon, was du machen möchtest, wenn du groß bist? Ein berühmter Feldherr werden und zahlreiche Schlachten schlagen für unseren geliebten Kaiser vielleicht? Oder doch ein bekannter Senator? Ach naja. Das hat ja noch Zeit, nicht wahr?" Gütig sah Myrtilus auf Nero hinunter. "Lucius? Oh, er ist fünf. Herius ist sein Vater. Ein netter Junge, ihr versteht euch bestimmt. Du magst Vögel? Ja, hast du denn einen?" fragte Myrtilus interessiert. Aus den Augenwinkeln gewahrte er den betrübten Blick seiner Callista. Ein Hauch Besorgnis schlich sich auf seine Züge. "columbula, ist dir nicht wohl?" fragte er.

    Dass seine Tochter sich unter den Zuschauern befand, davon ging Myrtilus aus. Er hatte seinen Kindern stets verdeutlicht, dass die religio eines der höchsten Güter war, die ein Mensch römischer Abstimmung selbst dann noch zu besitzen imstande war, wenn er sonst nichts mehr besaß. Und doch wünschte er sich in jenem Moment, er hätte mehr Atem als Pflichtgefühl, denn das Luftholen fiel ihm unsäglich schwer. Der nubische Zahir hatte sich neben den Claudier gehockt und sah besorgt zu ihm auf. Myrtilus selbst hatte die Augen geschlossen und schnappte flach nach Luft. Ganz käsig war er im Gesicht, und der Schweiß perlte von seinen Runzeln. Zahir fingerte an dem aeneum tegumen herum, der pileus lag bereits mit ancile und enis neben dem Schemel des alten Mannes auf dem Boden. "Herr, du brauchen Medizinmann!" bellte Zahir, als er auch noch die letzte Schnalle des Harnisch löste. "Zahir..lass gut...sein", brachte Myrtilus hervor und machte eine abwehrende Geste. Der schwarze Sklave ignorierte den Widerspruch und richtete sich zu voller Größe auf und hob die Hände trichterförmig an den Mund.


    "Medizinmann wir brauchen!" brüllte er und übertönte damit sogar das rhythmische Klopfen der Salier und ihre Gesänge. Myrtilus war die ganze Angelegenheit nur peinlich, doch erwiderte er nichts, da ihm dazu schlicht der Atem fehlte. Sein Herz raste weiter dahin, als wollte es einen Wettlauf mit dem Tod gewinnen.

    "Schreibe: Mein lieber Junge." Zahir setzte die Feder an. "Nein nein, warte. Besser: Geschätzter Sohn." Der Nubier sah auf und in das Gesicht des Alten. Myrtilus hob die Hand. "Oder besser... Ach. Schreibe einfach: Lucius. Punkt." Myrtilus nickte zufrieden. Das klang nicht zu förmlich und auch nicht zu zuneigungsvoll. "Fahre fort: Was macht mein Spross im fernen Land der Kentauren? Bildet er seinen Geist und formt er seinen Körper, wie schon Unzählige vor ihm? Hat er seinen alternden Vater schon vergessen?" Myrtilus rieb sich nachdenklich an der Schläfe, während Zahirs Feder eifrig über das Pergament kratzte. Vermutlich würde sein Sohn es als seltsam empfinden, wenn er einige Zeilen von seinem Vater erhielt. Myrtilus' Geist, der in einem schwächlichen, verachtenswerden Körper gefangen war, arbeitete auf Hochtouren.


    "Zahir, mein Guter. Sollte ein Mann, der sein Ende nahen fühlt, nicht seinem eigenen Fleisch vergeben?" fragte er, als die Feder nicht mehr kratzte. Der Nubier sah seinen Herren an und schüttelte schließlich den Kopf. "Du nicht wirst sterben so schnell, Herr. Du starke Mann mit wacher Geist. Ob du verzeihen dein Sohn, ist Entscheidung von Kopf, nicht von Alter." Myrtilus lächelte. Der nubische Sklave war wieder einmal im Recht, wie so oft. Nur mit dem Sterben täuschte er sich. Waren denn die müden Schläge seines Herzens nicht Anzeichen genug, dass die ihm verbleibende Zeit wie Sand durch die Finger rann? "Lege das Papyrus fort, Zahir. Recht hast du. Mein Sohn steht in der Pflicht, nicht ich bin am Zuge. Au contraire." Myrtilus seufzte tief und schloss die Augen. Seit seine Tochter im Hause weilte, bedrängte ihre Anwesenheit seinen Geist.


    "Herr. Ist Zeit für die Trank von Medizinmann." Myrilus schlug die Augen auf und erblickte Zahir. War er eingeschlafen? Ermattet wandte er sich auf seinem Lager um und bettete sich bequemer. "Dann bringe mir den Sud, Zahir." So schnell würde er wahrlich nicht verzagen.

    Schwer war der Schild, langsam Myrtilus' Schritte. Nichts hatte ihn davon abbringen können, mit seinen sodales wider besseres Wissens heute hier aufzumarschieren. Sein Leibsklave Zahir blieb stehts in seiner Nähe, denn ob jener Schwäche, die vor kurzem seine Brust beengt hatte, war zu jedem Zeitpunkt möglich, dass der alte Claudier schlicht nicht mehr weiterkonnte oder gar zusammensackte. Myrtilus selbst war indes guter Dinge. Sonst an den Stock geklammert, nutzte er das Schild dann und wann, um sich abzustützen, wenn es gar nicht mehr anders ging. Es war ihm peinlich, dass man sein Alter ihm so sehr ansah, und er hatte den neuen magister, zu dessen Ernennung er nicht einmal anwesend gewesen war wegen der Schwäche, der er anheim gefallen war, darum gebeten, dass ihm kein Platz am Rande der Prozession zugeteilt wurde. Auf diese Weise würde nicht jeder den greisen Schwächling erblicken, der er geworden war. Es war ihm zu peinlich. Allein vom Laufen mit dem schweren Schild und dem Schwert schon keuchend, bangte er ernsthaft um seine Partizipation, wenn der Tanz beginnen sollte.


    Mit Müh und Not war Myrtilus schließlich bis hierher gekommen, den Aventin hinauf und auf den Platz, an dem der magister Halt gebot. Doch ging es eben nur bis hierher, nicht aber weiter. Der Claudier strauchelte, stützte sich schwer auf das achtförmige Schild und schwankte. Ein neben ihm stehender Salier reagierte schnell und diskret, indem er den Claudier stützte. Myrtilus' Beine zitterten, sein Herz jagte im Galopp hinfort und kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Zahir war flugs heran, und er war es auch, der den alten Mann aus der Truppe der Salier an den Rand führte, damit er sich auf einen Schemel setzen konnte. Myrtilus presste sich die Hand auf den Brustkorb, das beklemmende Gefühl ließ ihm seinen Atem stocken, er schwitzte, als hätte er soeben einen raschen Lauf absolviert. er bemühte sich, weder zu Atem zu kommen. Zahir verhehlte seine Besorgnis nicht. Hinter ihm tanzten die Salier und sangen unter den Augen vieler Zuschauer, doch um den Platz herum gafften ebenso zig Schaulustige schadenfroh nach dem Alten augur, der zu schwach war, um seine Pflicht auszuüben.

    Hatte Myrtilus anfangs noch etwas Scheu verspürt, seine Tochter zu trösten, wie es von einem Vater verlangt wird, so legte er nun doch seine knochige Hand auf ihren Rücken. Einige Moment verharrte er so, bis er schließlich in trostender Manier über den Rücken der Jungen Frau strich. All der Kummer, den sie ihm gemacht hatte! Gut, dass Cethegus weitab von Rom weilte, in Griechenland. Es war besser. Eine weise Entscheidung war es damals gewesen, den Jungen fort zu schicken. Myrtilus fühlte sich mit jedem Schluchzer Callistas mehr in seinem Entschluss bestätigt. Ihre Nähe löste zwar ein seltsames und nicht einfach zu erklärendes Gefühl in seinem alten, schwachen Herzen aus, doch immerhin war sie seine Tochter. Eine lebendige Erinnerung an Coriolana... Und sie sah ihrer Mutter so ähnlich! Myrtilus sah Callista nun sanft an. Er fühlte sich in der Zeit zurückversetzt. Sein Haar war voller, sein Körper strotzte vor Kraft, und er hielt Coriolana in seinen Armen, als sie ihm sagte, dass...


    Nein! Myrtilus schloss die Augen, verschloss sie vor der schmerzhaften Erinnerung an jenen schicksalsschwangeren Moment. Sie klang so überzeugend, wie sie beteuerte, dass sie seinetwegen gekommen war. Myrtilus' Geist vermischte Callistas Antlitz mit dem Wesen ihrer Mutter, von dem sie so wenig geerbt hatte. Leider. Er lächelte sie liebevoll an, das Eis schien gebrochen. Er war es leid, über all die Scherereien nachzugrübeln, die sie ihm verursacht hatte. Sie war jung gewesen, hatte es nicht besser gewusst. Ihm aber würde er nicht verzeihen können. War er nicht alt genug gewesen, um zu wissen, was er da tat? Was er der Familie antat und ihr? "Ich vergebe dir." Ruhig kamen die Worte über seine Lippen. Er sah sie an, müde und mit dem Wunsch, Frieden zu haben, ehe er die Welt der Sterblichen irgendwann verließ. Vermutlich bald, wenn sein Herz weiterhin so träge schlug. Ach, es war ein Kreuz mit dem Alter! Niemand entkam diesem Gefängnis, nicht einmal der Kaiser. Alle Glieder versteiften sich zuhends - bis auf das eine - und das Aufstehen am Morgen gestaltete sich mehr und zum Fiasko.


    Ein enttäuschter Ausdruck schlich sich auf sein Antlitz, als seine Tochter vom Tod ihres Gatten sprach. Er argwöhnte kein flasches Spiel. Marullus war ein guter Römer gewesen. Deswegen hatte er ihn ausgesucht. Callista hatte es an nichts gemangelt. Myrtilus schwieg bedrückt. Fabius Marullus war jünger gewesen als er. Was war das für eine Welt, in der die Jungen vor den Alten starben? "Mögen die Götter sich seines Geistes annehmen und ihn stets bei dir sein lassen." Myrtilus meinte ernst, was er voller Inbrunst sagte. Er konnte ja nicht wissen, dass Callista sich wahrhaft alles wünschte außer dem Umstand, die unsichtbaren Augen ihres Gatten in jeder Sekunde auf ihr Tun gerichtet zu wissen. Nun hatte das arme Ding nur noch ihren Sohn - welchen er nie kennengelernt hatte. Nur einen einzigen Brief hatte Callista ihm gesandt, als der Knabe das Licht der Welt erblickt hatte. Daher erwiderte der Alte mit einem verklärten Lächeln auf den faltigen Zügen: "Unbedingt."


    Schon eilte eine Sklavin hinfort. Myrtilus grübelte indes über Callistas Zukunft nach. Natürlich würde sie die villa in Ägypten immer wieder an den geliebten Ehemann erinnern. Und freilich konnte sie nicht ganz allein dorthin zurückkehren, um einsam dort zu wohnen. Myrtilus stand in der Pflicht, ihr einen neuen Ehemann zu erwählen, sobald die Trauerzeit verstrichen war. Vielleicht diesen Tiberier. Oder doch besser einen Flavius oder einen Aurelius? Lächeln auf den faltigen Zügen: "puella mea," sagte Myrtilus. "hast du deine Habseligkeiten schon nach Rom transferieren lassen?" Für ihn stand bereits fest, dass sie bei der Familie Zuflucht suchen würde. Auf keine andere Idee kam er, wie auch? Eine hübsche, junge Patrizierin ganz allein in einer einsamen villa im fernen Alexandrien? Das kam doch nicht in Frage, nein. Welch abwegiger Gedanke!


    Die Tür öffnete sich, und der Knabe trat ein. Myrtilus' Gesicht erstrahlte. Welch Prachtbursche! Etwas dünn vielleicht, und blass um die Nase. Aber so höflich. Und so viel severitas, so viel dignitas, so viel gravitas legte er an den Tag. Mehr als manch erwachsener Römer! Myrtilus dachte an Cethegus. Missraten war Callistas Zwilling. Nicht einmal annähernd so respektvoll war er gewesen in Damios Alter. Myrtilus' Augen wurden wässrig, als der Junge sich so manierlich verbeugte, so artig grüßte. Rasch blinzelte der Großvater die Zeugen der Rührung fort. "Nero. Was bist du ein großer Junge", sagte er ergriffen und legte dem Knaben vorgebeugt eine Hand auf die Schulter. "Fast schon ein Mann. Wie alt bist du, Nero? Erzähle mir, hast du die Schiffe im Hafen Ostias schon angeschaut?" Für Schiffe war Myrtilus immer zu haben. Er vergaß, dass Ostia im Vergleich zum Hafen Alexandriens ein Provinzsteg sein musste. Von Glückseligkeit und Stolz erfüllt, sah Myrtilus zu Callista. Er bedauerte lediglich, den Jungen nicht schon eher gesehen zu haben. "Sag, hast du Lucius schon getroffen? Der Spross meines Neffen. Er spielt gern mit seiner Legion. Vielleicht könnte dich das auch amüsieren?"

    Myrtilus wäre ein schlechter Vater gewesen, wenn ihm die Eigenheiten seiner Kinder nicht zumindest in groben Zügen bekannt gewesen wären, noch dazu, wo sie doch beim ihm aufgewachsen waren. Und Callista war ohnehin schon immer ein ganz besonderer Fall gewesen. Wie sie nun im Sonnenlicht erstrahlte, sah sie indes aus wie eine Lichtgestalt aus den himmlischen Gefilden des Olympos. Und konnte ein Vater seiner Tochter denn grollen, wenn sie sich unter Tränen entschuldigte?


    Die Antwort auf diese Frage wäre eigentlich einfach gewesen, aber was an dem Verhältnis zwischen Callista und Myrtilus war schon einfach? Sie mochte noch so reumütig wirken und er mochte sie nicht durchschauen – dennoch konnte und wollte er ihr in diesem Punkt nicht mehr bedingungslos trauen. Zu viele Bedenken machten sich in seinem Kopf breit. Zu groß war die Enttäuschung damals gewesen. Für den Moment allerdings...was schadete es, sich selbst einer Illusion hinzugeben, zumal gerade jetzt kein Grund für Besorgnis bestand? Callista war hier, ihr Bruder irgendwo in Griechenland. Zumindest dessen konnte er sich sicher sein. Also blickte der Alte wohlwollend auf seine Tränen vergießende Tochter. Ihre Worte klangen so echt, dass es Myrtilus auch nicht schwer fiel, sie ihr mit dem Herzen zu glauben. Dennoch konnte er nicht vorbehaltlos bestätigen, ihr verziehen zu haben. Und doch waren da Zweifel. War sie nicht um seinetwillen hergekommen? War es nicht an der Zeit, zu verzeihen?


    Myrtilus wich sich selbst aus, verschiebt dieses Gespräch auf später, denn er weiß, dass es kommen wird. Unweigerlich kommen muss. Er konnte die Worte der Vergebung nicht sprechen, obwohl sein Herz bereits geformt hatte und darauf drängte, dass er sie aussprach. Stattdessen strich er ihr einige Male übers Haupt, wie einem kleinen Mädchen. nata mea, puella mea…. Sprich, wer hat dich informiert? Wie geht es meinem kleinen nepos, meinem Nero?“ Behutsam half er ihr, sich wieder aufzurichten und führte sie dann ungelenk zu den Sitzgelegenheiten, die sich in jedem Zimmer fanden. In diesem waren sie unweit des Fensters situiert. Ächzend ließ sich Myrtilus in einen bequemen, purpur bezogenen Sessel sinken. Er fühlte sich matt und müde, obgleich sein Geist hellwach war. “Ist Fabius denn nicht mitgekommen?“ fragte er seine Tochter und beobachtete ihre Reaktion aufmerksam.