Tag um Tag war verstrichen, und Myrtilus erholte sich nur langsam von dem stechenden Schmerz, der seine Brust und den linken Arm eines Abends wie ein glühender Speer durchzuckt hatte. Dabei war er nur im Sonnenschein gesessen, mit einem Becher gutem Wein und die Augen auf Brutus gerichtet, der mit seinen Soldaten gespielt hatte. In den Wochen, die auf diesen Schmerz folgten, hatte ihm der Arzt ausdrückliche Ruhe verordnet. Seit etwas mehr als einer Woche bestand Myrtilus allerdings darauf, langsam in dem ihm eigenen Gang herumzustreunen. Es war müßig, in seinem Alter allein auf seinem Zimmer zu verweilen, nur in Gesellschaft verstaubter Schriftrollen und auf den gelegentlichen Besuch der flatterhaften Jugend hoffend, wenn sie sich des alten Opas erinnerten, der er mehr und mehr wurde. Myrtilus vermisste die contiones der Auguren, den frischen Wind um seine Nase, wenn er mit dem lituus ein templum in den Sand zeichnete und den Flug einiger Vögel deutete. Er vermisste auch seinen Sohn Severus, der zwar anwesend und durch Senator Macers Zutun in den ordo senatorius erhoben worden war, aber sonst nicht viel mit der Familie zu schaffen hatte und sich seines Vaters nur selten erinnerte.
Mit der vielen untätigen Zeit kamen auch allerlei Gedanken und Erinnerungen an vergangene Tage zurück. Obwohl man von Myrtilus eher nicht behaupten konnte, er sei ein nachtragender Mensch, so kamen bei einigen Personen dennoch Wallungen in ihm auf, die seinem Zustand eher schadeten als nutzten, wenn Gedanken überhaupt eine Auswirkung haben konnten. Eines jedoch hatte durchaus Auswirkungen auf den betagten Claudier gehabt, nämlich die spindeldürre Thrakierin, die ihm mitgeteilt hatte, dass seine Tochter Callista von Stund an im Hause weilte.
Myrtilus hatte die Sklavin fort geschickt und sich in der Dämmerung seines cubiculum gefragt, wie sie Kunde bekommen hatte von der Verschlechterung seines Gesundheitszustandes. Sowohl seinem Sohn als auch Menecrates und den Seinen hatte er das Versprechen abgerungen, seine sonstigen Kinder nicht zu benachrichtigen. Immerhin war er, obwohl mit seinen bald einundsechzig Jahren betagt, nicht schwächlich oder anfällig, sondern ein Claudier durch und durch, und als solcher hatte ihn weder die schwere Beinverletzung damals bezwungen, als ägyptische Bastarde einen Übergriff auf eine nur gering bewaffnete römische Handelsflottille versucht hatten, noch würde ihn dieser lächerliche Stich besiegen, der seine Brust beengte und ihn zu Schweißausbrüchen getrieben hatte. Der verzierte Stock war nun unentbehrlich geworden, selbst bei kurzen Wegen, und diese Abhängigkeit ärgerte Myrtilus ungemein. Nicht nur, dass bei jedem seiner Schritte ein zusätzliches, arhythmisches "Klonk" zu hören war, sondern auch der Umstand, überhaupt auf etwas wirklich angewiesen zu sein, verstimmten ihn.
So waren es nicht nur Schritte, die seine Tochter an diesem Vormittag nahen hörte. Myrtilus pflegte, seitdem er wieder herumlief, jeden Morgen eine Runde durch die villa zu spazieren. Er roch an Oleander- und Fliedergebüsch im prächtigen Garten, weilte lange bei den Rosensträuchern und erachtete selbst kleine Blümlein als Geschenk, da er sie nochmals bewundern durfte. An diesem Vormittag hatte er sich gesputet, denn obwohl er seinen Besuch für seinen Geschmack recht lange vor sich her geschoben hatte, so freute sich sein altersschwaches Herz durchaus, dass Callista sich augenscheinlich um ihn sorgte. Und dennoch war da die leichte Besorgnis, sie könnten nahtlos an die lange vergangenen Geschehnisse anknüpfen und den alten Disput fortsetzen. Ebenso fragte sich der Alte, warum Callista allein angereist war, ohne Fabius, denn es hieß, sie habe lediglich seinen Enkel mitgebracht.
Er lenkte seine Schritte also der Tür entgegen, gestützt auf den verhassten Stock, der ihn schwach machte, und dann blieb er stehen. Noch bestand die Möglichkeit, unverrichteter Dinge sich umzuwenden und zu warten, bis Callista den ersten Schritt würde tun, doch wäre dies ein ebenso kindisches Verhalten gewesen wie das ihre, den Besuch nicht anzukündigen. Myrtilus sammelte sich kurz und klopfte sodann an, im Herzen bang und vorfreudig zugleich, erwartungsvoll und misstrauisch, erfreut wie skeptisch. Es dauerte nicht allzu lang, ehe ihm eine Sklavin den Zugang zum Inneren des Zimmers gewährte. Myrtilus trat ein, augenblicklich der sorgfältig zurechtgelegten Worte beraubt und vom doch so unverhofften Anblick seines Fleisch und Blut eingenommen. Nur wenige Schritte hinter der Tür blieb er stehen, schwer auf den Stock gestützt, und betrachtete mit nicht ganz verborgenem Stolz seine Tochter, die wunderschöne Callista, die im Sonnenlicht noch mehr erstrahlte und ein so lebendiges Abbild Coriolanas war, dass er das Gefühl hatte, sie selbst wäre präsent. Alle Zweifel fielen von ihm ab, zumindest für diesen Moment, und jedweder Gedanke an Vergangenes ward vorerst vergessen. Auf die Rechte gestützt, breitete Myrtilus nur den Linken Arm aus und wartete stumm darauf, dass Callista nun wenigstens die Initiative würde ergreifen.