Tán Lì hatte mit seinem Schneider nicht zu viel versprochen. Meine Körpergröße machte ihm zwar ein paar Schwierigkeiten, doch er schaffte es, mir binnen einer Woche einen Satz Hofkleidung zu schneidern. Die Woche verbrachte ich damit, mir die Stadt anzusehen und meinen Gastgeber und seine Nichte näher kennenzulernen.
Luòyáng war die Heimat von etwa einer halben Million Menschen, also nur etwa die Hälfte der geschätzten Bevölkerung meines geliebten Roms. Doch dafür verteilte sich die Bevölkerung auf knapp der dreifachen Fläche Roms. Das konnte man gut sehen, denn die Straßen waren weit, die Häuser oft geräumiger als die in Rom und wagemutig gebaute Insulas fehlten komplett, obwohl es auch hier einige Gebäude gab, die drei oder vier Stockwerke hoch waren. Das Straßennetz war wohlgeordnet und immer wieder gab es kleine Gärten, die zum Verweilen einluden. Dadurch, dass die Stadt in einem flachen Tal lag, fehlten Hügel. Das hatte sicher dabei geholfen, eine so vorbildliche Ordnung in den Straßen zu schaffen. Das gefiel mir sehr viel besser, als das Chaos aus Straßen und Gassen in Rom. Garküchen gab es viele und die Speisen waren mit für mich exotischen Gewürzen verfeinert, die hier viel weniger kosteten, als in meiner Heimat. Und doch war alles irgendwie fremd. Vor den Toren der Stadt im Westen hatten die Buddhisten den Tempel des Weißen Pferdes gebaut. Sie nannten ihn natürlich anders, doch die Statue eines Pferdes aus weißem Stein hatte die Bevölkerung dazu veranlasst, den Tempel so zu nennen.
Bei meinen Gesprächen mit meinen Gastgebern hatte ich schnell gelernt, dass Tán Yù nicht nur eine bildschön, sondern auch eine kluge und äußerst gebildete junge Frau war. Die Prioritäten im Leben von Tán Lì waren zuallererst seine Nichte und erst danach der Dienst am Kaiser. Das brachte ihn aber in keine Interessenkonflikte. Zwar spürte ich, dass er sie gerne mit mir verkuppeln wollte, doch ging ich darauf nicht ein. Ja, sie wäre die perfekte Frau für mich. Aber Rom würde sie zerstören. Da war ich mir sicher.
Schließlich kam der Tag der Audienz. Tán Lì half mir, mich anzukleiden. Ich trug rote, quaderförmige Seidenschuhe mit blauen Paspeln und Verzierungen. Über der mir geläufigen Unterkleidung aus ungefärbter Seide trug ich eine Robe aus blauer Seide mit weiten Ärmeln, die so angelegt war, dass man ein Stück des Kragens meiner Unterkleidung sah. Blau war die Farbe meines Ranges als Beamter. Darüber wurde mir eine rote Seidenrobe mit noch etwas weiteren Ärmeln angelegt, so dass man sowohl die Enden der blauen Ärmel sehen konnte, als auch ein wenig der blauen Robe in der Öffnung meines Kragens sichtbar war. Mit einem breiten roten Seidengürtel wurde alles an seinem Platz gehalten. Schließlich kam als Kopfbedeckung ein Jìnxián Guān aus schwarzer Seide mit goldener Paspelierung und hinzu, welches oberhalb der Stirn drei nach hinten laufende goldene Paspeln zeigte. Mit allem zusammen war ich als Beamter des fünften Ranges erkennbar. Dieser Satz Hofkleidung hatte mein komplettes erhaltenes Beamtensalär verschlungen, sogar noch etwas mehr. Dafür, dass ich es wahrscheinlich nie wieder benötigen würde, empfand ich diese Kosten als exorbitant. Doch so war die Kultur, und ich wollte den Kaiser auf gar keinen Fall verärgern. Davon hatte mir Tán Lì auch dringend abgeraten.
So gewandet ging ich also mit dem Schreiben, das mich zur Audienz aufforderte, zum kaiserlichen Palast. Am ersten Tor wurde alles ordentlich kontrolliert und man geleitete mich über den Hof zu einem Tor, welches in eine große Halle führte. Von dort aus ging es auf die östliche Seite des Hofes, wo ich vor eine kleinere Halle geführt wurde. Es war klar, dass ich nicht bedeutend genug war, in der großen Halle empfangen zu werden. Während ich wartete stand ich gerade, fast schon militärisch, aber mit beiden Händen vor meinem Bauch aufeinandergelegt und in den weiten Ärmeln verborgen. Ich sah mich nicht um, sondern schaute starr auf die geschlossene Türe vor mir. So sollte ein echter Gelehrter warten. Sich neugierig umschauen wäre ein Zeichen mangelnder Selbstbeherrschung gewesen, obwohl es hier jede Menge zu sehen gab. Schließlich wurde die Türe geöffnet.
Ich ging drei Schritte in den Raum und hob meine Roben bis über die Knöchel an, während ich mich elegant niederkniete. Dann legte ich meine Hände vor meinem Gesicht aufeinander und verneigte mich langsam, wobei ich schließlich die Hände wieder entfaltete und neben meinem Gesicht mit den Handflächen auf den Boden legte, während ich mich weiter verneigte, bis meine Stirn den Boden berührte. So verharrte ich. Ich spürte die Kühle des Bodens und wie perfekt poliert die Steinplatten waren, ohne dass sie deshalb rutschig wurden. Nach einem Moment hörte ich eine ruhige Stimme. "Erhebt euch."
Ich tat, wie mir geheißen und hob meinen Oberkörper, bis er wieder senkrecht war, dann stand ich in einer fließenden Bewegung auf, wobei ich die Hände wieder vor meinem Gesicht waagerecht aufeinander legte, die linke Hand auf der rechten, dabei jedoch in den Ärmeln verschwinden ließ und mich erneut stehend verneigte.
"Tretet näher."
Ich ging nun etwa neun Schritte, bis ich an einer Bambusmatte stand, die etwa zwölf Schritte vor den zwölf Stufen zum Thron am Boden lag.
"Wenn Ihr mögt, dürft Ihr Euch setzen."
Wie zuvor beim Betreten des Saales kniete ich, diesmal aber auf der Bambusmatte, und verneigte mich, bis mein Kopf den Boden berührte. Aber nun richtete ich danach meinen Oberkörper sofort wieder auf und verschränkte meine Hände vor meinem Bauch, wobei ich sie wieder in den Ärmeln verschwinden ließ. Ich wagte es nun, den Blick leicht nach oben schweifen zu lassen. Auf der sechstniedrigsten Stufe stand ein Mann in prächtigen roten Roben, die Kraniche und andere Vögel zeigten. Seine Gewänder waren komplett aus roter Seide und seine Jìnxián Guān zeigte fünf Paspeln. Er war also ein Beamter des dritten Ranges. Da mich Tán Lì vorher instruiert hatte, wer seines Wissens anwesend sein würde, wusste ich, dass es sich um den Minister Herold handeln würde, der für diplomatische Beziehungen zuständig war. Auf der von oben gesehen dritten Stufe stand ein noch prächtiger gekleideter Mann, dessen Jìnxián Guān sogar sieben Paspeln zeigte. Es war ein Beamter des ersten Ranges und meines Wissens nach der Minister der Massen. Es war der Vorgesetzte des Minister Herolds. Beide standen zur Rechten des Kaisers. Auf dem Thron schließlich saß der Kaiser, ein Mann in meinem Alter, schätzte ich. Er trug Roben aus gelber Seide mit Drachen, Vögeln und anderen Verzierungen. Dazu trug er eine prächtigere Kopfbedeckung, die Yuǎnyóu Guān hieß und Kaisern, Königen und Herzögen vorbehalten war. Nach diesem kurzen Blick nach oben, blickte ich wieder geradeaus.
"Ihr seid also Yúnzǐ. Mein Vetter hat nur lobende Worte für Euch. Ihr seid also ein Gelehrter aus fremden Gestaden. Erlaubt mir, Euch in meinem Reich willkommen zu heißen." Die Stimme gehörte also zum Kaiser.
"Ich danke dem Sohn des Himmels für die Gnade, mich sein Reich sehen zu lassen." Ich sprach deutlich und laut genug, damit er mich gut hören konnte, dann verneigte ich mich wieder, bis meine Stirn den Boden berührte und richtete meinen Oberkörper schließlich wieder auf.
"Es freut mich, dass Ihr kein Barbar seid." Damit meinte er wohl meine Beherrschung der hiesigen Sitten. Dass sich alles Römische in mir dagegen sträubte, mich sinngemäß vor jemanden in den Staub zu werfen, konnte ich offenbar gut verbergen. "Sagt mir, wie schätzt Ihr die Fähigkeiten meines Vetters als Herrscher ein?"
Mir war klar, dass meine Antwort für Prinz Jiénzǐ gefährlich werden konnte. Das wäre sie aber auch, wenn ich erst länger nachdenken würde. So antwortete ich sofort. "Heilige Hoheit, die Fähigkeiten des Prinzen Jiénzǐ als Herrscher vermag ich nicht einzuschätzen. Als Verwalter von Cháng'ān ist er aber durchaus fähig. Es herrscht Ordnung in der Stadt. Doch ist der Verwalter einer Stadt nur schwer mit einem echten Herrscher zu vergleichen. Doch gestattet mir, zu erwähnen, dass er vermutlich nur widerwillig herrschen würde. Er ist zufrieden damit, Euch bestmöglich zu dienen."
Es herrschte für eine gefühlte Ewigkeit eisige Stille im Saal und ich merkte, wie die Blicke des Kaisers und der hohen Würdenträger auf mir ruhten, mich musterten und herauszufinden versuchten, ob ich die Wahrheit sagte. Schließlich unterbrach die Stimme des Kaisers die Stille. "Ich danke für Eure Aufrichtigkeit. Eine Qualität, die Euch auch schon mein Vetter attestierte. Ihr seid aus Dàqín. Wem gilt Eure Loyalität? Mir oder dem Kaiser von Dàqín?"
Das war nun eine schwierige Frage, doch letztlich nur für mich gefährlich. So entschloss ich mich, einfach geradeheraus und ehrlich zu sein. "Hier, als kaiserlicher Beamter, gilt meine Loyalität allein Euch, kaiserliche Majestät. In Dàqín hingegen gilt meine Loyalität meiner Familie. Sollte mich der Kaiser von Dàqín in ein Amt erheben, so wird ihm meine Loyalität in Dàqín gelten. Doch über allem, egal, wo ich auf der Welt unterwegs bin, gilt meine Loyalität der Menschheit und der Ordnung von Himmel und Erde. Dass man die Ordnung nur durch Staaten erhält, ist klar. Dass Staaten nur durch eine stabile Regierung Ordnung schaffen können, ist auch klar. Deshalb müssen die Herrscher gestützt werden, die für Ordnung und Stabilität sorgen."
"Eine kluge Antwort, Yúnzǐ." Die Stimme schien nun einem der Minister zu gehören. "Und der Sohn des Himmels ist Eurer Meinung nach ein solcher Herrscher?"
"Ja, Herr. So, wie auch der Kaiser von Dàqín ein solcher Herrscher ist." Ich fragte mich, ob ich hier lebend herauskommen würde, wenn das so weiter ging.
"Dann habe ich einen Befehl für Euch, der der Harmonie der Welt nützt," sprach der Kaiser. Es war klar, dass ich den Befehl nicht verweigern konnte. Statt des Kaisers sprach nun der Minister weiter. "Yúnzǐ, Ihr werdet als unser Gesandter dem Kaiser von Dàqín Geschenke und eine Grußbotschaft des Sohns des Himmels überbringen. Ihr müsst danach nicht wieder hierher zurückkehren, außer, der Kaiser von Dàqín befiehlt es Euch. Bis Ihr den Befehl erfüllt habt, werdet Ihr dem Sohn des Himmels loyal sein. Danach mögt Ihr dem Kaiser von Dàqín loyal sein. Doch so lange Ihr lebt, werdet Ihr weder den Feinden von Hàn, noch den Feinden von Dàqín gegenüber jemals loyal sein."
Erneut verneigte ich mich und sprach danach. "Ich danke dem Sohn des Himmels für seinen Befehl und werde diesen mit Freuden ausführen. Doch bevor ich dies tun kann, muss ich noch den älteren Befehl befolgen und die Waffen an ihr Ziel bringen." Das war jetzt vielleicht anmaßend gewesen, aber ich musste das sagen, wollte ich mein Gesicht wahren.
"Dann ist es für Euch ausgesprochen praktisch, dass das Ziel des älteren Befehls ein Hafen ist, von dem aus Ihr nach Dàqín aufbrechen könnt. Beide Befehle lassen sich gemeinsam erfüllen. Ihr dürft Euch entfernen, doch wartet in der Halle am Übergang der Höfe." Die Stimme des Ministers war streng, aber nicht feindselig.
Ich erhob mich und verneigte mich tief. Dann ging ich immer wieder drei Schritte rückwärts und verneigte mich erneut, bis ich schließlich außerhalb der Halle war. Gut, ich lebte noch. Und ich hatte für meine Freunde hoffentlich auch keinen Schaden angerichtet. Die Atmosphäre von purer Macht, die die Anwesenden ausgestrahlt hatten, ließ mir einen eiskalten Schauer den Rücken herunterlaufen. Das waren Menschen gewesen, die jeden beliebigen Menschen mit einem Wink zum Tode verurteilen konnten. So etwas hatte ich in Rom noch nie gespürt. Vielleicht war es aber auch einfach nur Glück, dass unser Kaiser weniger distanziert war.
In der Halle, die zwischen dem ersten und zweiten Innenhof war, wartete ich, wie mir geheißen wurde. Es dauerte recht lange, bis ein Eunuch die Halle betrat, mit einem Schriftstück, dessen Rückseite aus gelber Seide bestand, in den Händen. Als er es entrollte, fielen alle Anwesenden, inklusive mir selbst, auf die Knie, und verneigten uns vor dem Eunuchen, bis wir mit der Stirn den Boden berührten. Streng genommen war es nicht der Eunuch, vor dem wir uns verbeugten, sondern das Schriftstück mit den Worten des Kaisers.
"Im Namen des Sohns des Himmels sei verkündet, dass ein kaiserlicher Gesandter auch den Rang eines Beamten am Kaiserhof haben muss, der ihn zur Gesandtschaft befähigt. Deshalb soll ab sofort der ehrenwerte Yúnzǐ in den unteren dritten Rang erhoben werden. Er soll diesen behalten, bis er ihm entzogen wird oder er ihn abzugeben wünscht. Es ist ihm verboten, diesen Rang abzugeben, so lange seine Befehle nicht erfüllt wurden. Er soll sich angemessene Kleidung für die Reisen und bei Hofe anfertigen lassen, bevor er zur Erfüllung seiner Befehle aufbricht."
Nachdem die Worte verhallt waren, erhoben wir uns alle wieder. Der Eunuch gab mir die zusammengerollte Urkunde, die ich mit einer Verneigung entgegennahm. Dabei dachte ich mir, dass der letzte Satz sich nach einer furchtbar teuren Angelegenheit anhörte. Doch dann flüsterte der Eunuch mir noch etwas ins Ohr. Ich sollte mir vor meiner Abreise bei der Kaiserlichen Münze zwei Jahresbesoldungen abholen, damit ich die Reise finanzieren konnte. Natürliche würde ich dafür auch Wachen, Schiffe und alles andere bezahlen müssen, inklusive der geforderten Kleidung, aber ich hoffte, dass das Geld dafür reichen würde. Egal wie, ich wollte in Rom wenigstens nicht pleite sein. Ankommen und ein wenig Geld übrig haben, mehr wollte ich doch gar nicht. Natürlich würde ich jede Menge Seidenkleidung mit mir mitbringen, doch wollte ich diese möglichst als Andenken behalten. Und vielleicht auch, um bei einer eventuellen erneuten Reise hierher passend gekleidet zu sein.